Im letzten Frühjahr rechnete ich auf das Jahresende mit gravierenden Spannungen im politischen Gebälk der Schweiz. Es waren die Hoffnungen eines unverbesserlichen Idealisten.
Aber jetzt beginnt es. Magdalena Martullo-Blocher, die Erbin der stärksten politischen Kraft der Schweiz, spricht in der Neuen Zürcher Zeitung Klartext: «Der Bund hat eine Diktatur eingeführt. Er hat die Demokratie ausgeschaltet.»
Sie fordert ein Ende des Lockdowns. Die sozialen und finanziellen Kosten für die Massnahmen seien zu hoch, der Nutzen zu gering – «Verhältnisblödsinn».
«Jetzt, wo die Infektionszahlen noch immer tief sind, müssen die Mutationen als Begründung für die Weiterführung der Massnahmen herhalten.»
Das ist natürlich nicht neu. Aber Martullo-Blocher wird sich in der führenden Zeitung der Schweiz nicht zu solchen Kraftausdrücken hinreissen lassen, ohne sich vorher mit ihrem Vater – immer noch eine Art Über- und Stiefvater der politischen Schweiz – abgesprochen zu haben; und ohne die Stimmung in der Wirtschaft, wo es langsam zu kochen beginnt, in ihre Überlegungen einzubeziehen.
Die NZZ ihrerseits wird Martullo-Blocher nicht ohne Kalkül so viel Raum geben. Und wenn ein Vorstoss aus dem Hause Blocher kommt, kann man sicher sein, dass die nächsten Schritte geplant sind. einem alten Strategen muss man nicht das Handwerk lehren.
Konkret: Wenn Blocher ausholt, werden auch andere zuschlagen – und manche in Deckung gehen. Denn jetzt geht es um das politische Überleben von Magistraten, Chefbeamten und bestimmt auch Experten. Und die Wirtschaft, deren Überleben ebenfalls auf dem Spiel steht, wird sich nicht länger auf nett formulierte Forderungen beschränken. Es wird Druck geben.
Der Hinweis von Martullo-Blocher auf die Stimmenverhältnisse im Bundesrat – Gesundheitsminister Berset mit den drei Frauen gegen die drei Männer – ist ein offener Angriff auf die Konkordanz, von der ihr Vater schon nicht viel gehalten hat. Er war damals (meiner Ansicht nach) im Unrecht; sie trifft heute den Nagel auf den Kopf. Die Damen und Herren der Landesregierung sollen gefälligst aus der Deckung kommen. Sie schwören schliesslich nicht nur auf die Verfassung, sondern auch auf ihr Gewissen
Nur eine Frau kann in dieser Form die Kräfteverhältnisse im Bundesrat benennen. Eine Mann würde sofort mit der Macho-Keule bedient. Sie aber kann ganz subtil andeuten, dass es Berset nicht nur mit den Medien, sondern auch den Frauen kann. Auch das ist politisches Kapital – sein Wert sinkt allerdings seit der Affäre um eine ehemalige Geliebte erheblich.
Martullo-Blocher wird ihren Angriff nicht gestartet haben, ohne die weiteren Schritte bereits in Erwägung gezogen haben. Sie wird sich der Unterstützung breiter Wirtschaftskreise sicher sein. Und sie wird sich wohl auch mit SVP-Bundesrat Ueli Maurer abgesprochen haben.
Wie geht es weiter? Schwer zu sagen. Der Bundesrat wird an seiner Sitzung vom kommenden Mittwoch den Lockdown wohl doch nicht in der beabsichtigten Form verlängern. Wie weit der Kompromiss geht, werden wir erst erfahren, wenn Internas aus dem Umfeld des Bundesrates an die Öffentlichkeit geraten. Das ist gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich. Denn:
Die Fronten sind zu verhärtet, um sich zu versöhnen. Ein offener Machtkampf ist unschweizerisch. Also wird erst mal mit gezielten Indiskretionen aus dem Hinterhalt geschossen. Dazu müssten aber die Medien mitspielen, die sich in der Coronakrise allesamt auf Seite der Regierung positioniert haben – die relativ kleine Weltwoche einmal ausgenommen.
In gewisser Hinsicht die Fronten gewechselt hat bereits die NZZ. Der Blick aus dem Hause Ringier muss als Kaufzeitung dem Volk nach dem Schnabel schreiben – auch hier könnte sich ein Wandel ankündigen. chmedia und die TX-group (ehemals TA-media) und mit ihnen die meisten Kopfblätter der Schweiz werden uns vorderhand als Corona-Turbos erhalten bleiben, die SRG sowieso. Es wird also spannend werden und es dürfte sich endlich wieder lohnen, mehr als ein Zeitung pro Tag zu lesen.
Eine freundeidgenössische Lösung des sich ankündigenden Machtkampfes wäre ein Personalwechsel ohne erzwungenen Rücktritt. Konkret: Ueli Maurer kann ehrenvoll und mit Lorbeeren zurücktreten und Martullo-Blocher Platz machen.
Wenn sie schlau ist und aus den Fehlern ihres Vaters gelernt hat, wird sie nicht gleich auf den Putz hauen, sondern vielmehr dafür sorgen, die Wirtschaft wieder an Bord zu holen. Diese ist gespalten in Kapital und Konzerne auf der einen Seite (vertreten durch die Freisinnigen) und die KMUs auf der anderen Seite, die aber in der SVP noch nicht die ideale Vertreterin gefunden hat. Ob sie die richtige Frau dafür ist? Als schweizerische Thatcher wird sie jedenfalls keine Chance haben.
Aber sie könnte mit einem starken Gegenpart, mit dem sie sich auch persönlich gut versteht. Ein Kandidat wäre Nationalrat Pierre-Yves Maillard (VD/SP), Päsident des Gewerkschaftsbundes, der sich vor kurzem aus der Corona-Deckung gewagt hat und neben Lockerungen auch eine Debatte über die Massnahmen verlangt (hier im kurzen Interview mit Blick TV).
Er ist dem eleganteren Parteifreund Alain Berset 2011 bei der Wahl in den Bundesrat noch unterlegen. Jetzt wäre der auch von Bürgerlichen akzeptierte Maillard ein idealer Ersatz für Berset, der sich mit Blick auf seinen Eintrag in den Geschichtsbüchern schnell, freiwillig und relativ schmerzlos aus dem Bundesrat verabschieden sollte. Er hat sein Ding getan, er kann jetzt gehen.
Man darf gespannt sein, was bei diesem Erdbeben und seinen Nachbeben noch alles einstürzt und wieder aufgebaut werden muss. So ganz friedlich wird die anstehende Bereinigung nicht stattfinden. Und ohne die Stimme des Volkes ist es durchaus möglich, dass wieder ein Päckli geschnürt wird, dessen Inhalt den wenigen dient, die den Inhalt bestimmen.
Im Ring stehen der Bundesrat und seine Verwaltung, die Parlamentarier, die Medien sowie die Gruppierungen, die stark genug sind, ihre Interessen bei den vorgenannten durchzubringen. Das Volk gehört nicht zu dieser erlauchten Gesellschaft.
Die Interessen des Souveräns vertreten am ehesten noch die Verfassungsfreunde, die zwei erstaunliche Referenden hingelegt haben – gegen die Verlängerung des Notrechts mit dem dringlichen Bundesgesetz Covid-19 und gegen das Antiterrorgesetz. Sie sind momentan die referendumsstärkste Kraft der Schweiz. Aber damit lassen sich nur Gesetze verhindern oder verzögern. Das Entscheidende geschieht zur Zeit jedoch ausserhalb des Gesetzgebungsprozesses, mit Notrecht und Medienkraft.
Der Souverän kann sich nur bei Wahlen und Abstimmungen äussern, und da stehen in den nächsten vier Monaten sechs Vorlagen zur Abstimmung, mit denen Bundesrat, Parlament und Parteien ein Denkzettel verpasst werden kann.
Am 7. März kommt das Gesetz über die elektronische Identitätzur Abstimmung. Hier zeichnet sich mittlerweile eine knappe Ablehnung (55 Prozent) der unsinnigen Idee ab, die Verwaltung der elektronischen Identitätskarte privaten Konzernen zu überlassen. Da ist noch einige Basisarbeit und viel Mund-zu-Mund-Information nötig. Denn die Medienhoheit liegt bei den Befürwortern der Privatisierung. (Infos des Referendumskomitees und der Bundesverwaltung, Umfragetrends gemäss TA-media)
Das Burka-Verbot ist ebenfalls Unsinn – was haben Kleidervorschriften für ein paar Dutzend Frauen in der Verfassung zu suchen? So etwas gehört bestenfalls in das Gemeindereglement von Seldwyla. Erstaunlicherweise zeichnet sich eine Mehrheit für diese Initiative ab (65 Prozent), offenbar auch, weil nicht wenige Stimmbürger meinen, mit dem Verbot der Burka die unbeliebte Gesichtsmaske zu treffen. Irrtum!
Obwohl der Initiativtext ein areligiös formuliertes Verhüllungsverbot im öffentlichen Raum fordert, das auch für Gesichtsmasken gelten müsste, interpretieren es die Initianten anders: «Masken aus gesundheitlichen Gründen zu tragen, ist auch nach einem Ja zur Initiative problemlos möglich.» So steht es auch in Absatz 3 des vorgeschlagenen Verfassungsartikels: «Das Gesetz sieht Ausnahmen vor. Diese umfassen ausschliesslich Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums.»
Das Burkaverbot ist keine Maskenabstimmung, das ist klar. Wer gegen die Maske ist, soll leer einlegen. Dann wird die Stimme wenigstens politisch sichtbar.
(Die Leer-Kampagne ist ein Hüftschuss aus meiner Küche, ohne Koordination und Absprache. Und obwohl ich ihr natürlich allen Erfolg wünsche, wären 5 Prozent Leerstimmen schon ein erstaunlicher Erfolg. Dazu ein kurzes Video).
Um ein Freihandelsabkommen mit Indonesien geht es in der dritten Vorlage vom 7. März. Kernpunkt ist der Import von Palmöl, der zu einem reduzierten Zolltarif erfolgt, sofern die Produktion nachhaltig ist. Das ist der Pluspunkt. Der grosse Haken: Über die Standards der Nachhaltigkeit entscheidet der private «Roundtable on Sustainable Palm Oil», der 2004 auf Initiative des WWF gegründet wurde. «Der RSPO steht aber seit Jahren in der Kritik, dem eigenen Anspruch auf Nachhaltigkeit bei weitem nicht gerecht zu werden,» schreibt Public Eye (vormals Erklärung von Bern). Aus meiner Sicht überwiegen die Bedenken gegenüber diesem Gesetz, das vor allem den internationalen Betreibern von Plantagen in Indonesien nützt. (Infos des Referendumskomitees)
Grosses direkt-demokratisches Gewicht haben die Abstimmungen vom 13. Juni.
Zur Urne treten an:
Die Trinkwasser-Initiative, ein höchst berechtigtes Anliegen für das vom Bund seit über 20 Jahren verschlampte Problem der Trinkwasserverschmutzung durch Agro-Chemie. Die einfache Lösung der bewundernswerten Einzelkämpferin Franziska Herren: Keine Subventionen für Trinkwasser-Verschmutzer. Einfach und einleuchtend. Wird aber aufs Heftigste bekämpft werden.
Das «Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT)» gibt der Bundespolizei in der westlichen Welt einmalige Kompetenzen. Das Gesetz verfügt nicht nur über Gummiparagraphen, es ist in sich ein legalistischer Gummiknüppel.
Artikel 23 definiert eine strafbare «terroristische Aktivität»:
«Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.»
Wer die staatliche Ordnung verändern oder auch nur beeinflussen will, ist schon mal verdächtig. Und wer seinen Ängsten um die Zukunft der Schweiz in deutlichen Worten Ausdruck verleiht, erfüllt unter Umständen bereits den Tatbestand der Verbreitung von Furcht und Schrecken. Für eine Freiheitsberaubung bis zu neun Monaten braucht es dann nicht einmal ein Gerichtsurteil, der polizeiliche Verdacht genügt bereits. Unglaublich, dass unser Parlament ein solches Gesetz durchwinken konnte. Ein Nein ist Bürgerpflicht.
Die dritte Vorlage ist die Verlängerung des Notrechts durch das dringliche Bundesgesetz Covid-19, gegen das die Verfassungsfreunde einen erstaunlichen Sammelerfolg hingelegt haben. Dieses Gesetz, das bereits in Kraft und weitgehend erfüllt ist, ist für das Pandemiemanagement nicht entscheidend. Der Bundesrat kann die darin vorgesehenen Finanzhilfen auch ohne Sondervollmachten leisten.
Das Gesetz ist zwar nur bis Ende 2021 gültig – einzelne Artikel jedoch bis 2031 – kann jedoch jederzeit verlängert werden. Mittlerweile unterstützt auch Magdalena Martullo-Blocher das Referendum. Es geht, bei Lichte besehen, vor allem um einen Denkzettel an den Bundesrat: Krisen werden nicht gegen das Volk, sondern mit ihm bewältigt.
Alle drei Vorlagen werden ohne kräftige Unterstützung der Basis einen schweren Stand haben. Die Regierung, das Parlament, die Medien und das Geld stehen auf der anderen Seite. Aber: Der Trend arbeitet (vorläufig) für uns. Die Staatsmacht wird immer kritischer betrachtet. Der Souverän muss zeigen, was er ist: die höchste Instanz im Staat.
Bereiten Sie sich auf Abstimmungskämpfe mit hohem Engagement vor, die hoffentlich auch mit etwas Humor geführt werden. Denn so ernst all dies im Grunde ist:
Ohne Humor werden wir das Herz des Volkes nicht gewinnen.