Horst D. Deckert

Die Zukunft der PKW-Zulieferindustrie liegt in der Individualisierung von Elektroautos

Die Sirenengesänge auf die deutsche Automobilindustrie reißen nicht. Mit dem erzwungenen Umbau des Sektors hin zur Elektromobilität kommen nicht nur die Hersteller massiv unter Druck, sondern vor allem die vielen Zulieferer, da E-Autos mit weniger als einem Zehntel der Bauteile auskommen als Verbrenner. Doch ich sehe durchaus einen Silberstreif am Horizont, der nicht nur viele der mehr als 2000 Zulieferunternehmen retten könnte, sondern gleichzeitig eine neue goldene Ära einläuten könnte für PKW-Käufer genauso wie Design- und Autoenthusiasten. Es geht um die Individualisierung der Autos.

 

Individualisierung ist Trumpf

 

Zweifellos wird der Umstieg auf E-Autos vielen Unternehmen in der Industrie das Geschäftsmodell wegnehmen. Doch mit den zu erwartenden starken Kostenrückgängen und der stärkeren Segmentierung beim Bau der PKW-Plattformen auf technischer Ebene entsteht meines Erachtens eine neue Lücke, die sich bald schon mit neuem Leben füllen wird.

Bislang war es so, dass Autos von Werk nur wenige Individualisierungsmöglichkeiten boten. Die Herstellungskosten waren zu hoch, als dass jeder sein eigenes Armaturenbrett oder Farbgestaltung wählen konnte. Die Preise aus der Tuningindustrie zeigen, wie teuer eine Individualisierung sein kann und sei es nur der Einbau von Ledersitzen oder eines neuen Lenkrads, bei dem der Airbag immer noch funktioniert.

Sobald aber die Plattform mit dem Antrieb immer günstiger wird – und zwischen den Anbietern auch homogener – dann bleibt mehr finanzieller Spielraum für Individualisierungen. Zwar könnten auch die Autoanbieter selbst diese Aufgabe erfüllen. Jedoch ist es nicht leicht, ein umfassendes Netz dafür aufzubauen oder aus der Ferne profitabel zu betreiben, da bei diesen aufgrund des hohen Anteils der Einzelfertigung kaum Skaleneffekte erzielt werden können.

Was ich für die Zukunft daher sehe, ist eine Spaltung der Automobilindustrie. Entstehen werden auf der einen Seite reine Plattformanbieter, die einen neutralen Unterbau anbieten mitsamt Rädern, Achse, Batterie, Elektroantrieb und eventuell der rohen Karosserie. Diese Rohautos werden dann an den zweiten neuen Typus an Unternehmen in der Branche verkauft, die ähnlich wie heute Vertragshändler das Rohautos mit allerlei Teilen versehen, um sie an Endkunden zu verkaufen. Ein dritter Typus im Sektor wird ein Teil der Zulieferindustrie bleiben, die antriebsunabhängige Teilprodukte wie Airbags oder Bremsen anbieten.

 

Kostenpunkte

 

Hinsichtlich der Kosten kann ich an dieser Stelle nur spekulieren, vermute aber, dass ein durchschnittlicher „PKW-Rohling“ absehbar – also sobald der Flaschenhals beim Lithium offen ist – für unter 10.000 Euro zu haben sein wird. Daraus ergibt sich ein Budget von durchschnittlich 20.000 Euro für die Individualisierung eines Autos. Dies beruht natürlich auf der Annahme, dass PKW-Besitzer auch zukünftig einen gewissen Status aus ihrem Auto ableiten und analog zur Wohnungseinrichtung in der Anpassung ihres fahrbaren Untersatzes an die eigenen Bedürfnisse und an den eigenen Geschmack einen Mehrwert sehen.

In der Werkstatt wird sich dieses Individualisierungsbudget in etwa hälftig auf die einzubauenden Materialien und die aufgebrachten Arbeitsstunden verteilen. Effektiv wird damit ein Facharbeiter gemeinsam mit seinem Lehrling einen Monat lang an dem Auto arbeiten können. Die anderen 10.000 Euro für das Material wiederum verteilt sich auf das Armaturenbrett, die Unterhaltungselektronik, die Sitze, die Verkleidung innen und außen und das Lackieren der Außenseite. Das veranschlagte Budget dafür mag zwar etwas eng sein, jedoch handelt es sich hierbei um den Durchschnitt und nicht um das obere Ende im Bereich der heutigen S-Klasse.

 

Möglichkeiten

 

Wäre ich ein Zulieferer in der Automobilindustrie, dem gerade klar wird, dass ihm unwiderbringlich das Geschäft wegbrechen wird, der aber noch auf einigen Reserven sitzt und über kompetentes und anpassungsfähiges Personal verfügt, ich würde den Sprung wagen und umsteigen auf die Individualisierung.

Mein erstes Projekt stünde auch schon fest, es wäre in Nachbau des Lancia Stratos Zero auf Basis der Tesla Roadster Plattform. Denn nirgends in den Regeln für die automobile Zukunft steht, dass man sich nicht auch die exklusive Lizenz für den serienmäßigen Nachbau eines Klassikers kaufen darf.

Daher bin ich der festen Überzeugung, dass sobald unter der Haube erst einmal alles standardisiert ist, wird eine neue goldene Ära im Fahrzeugdesign anbrechen. Kein Auto wird mehr dem anderen gleichen und quasi alle davon werden für jeden erschwinglich werden. Nicht zuletzt wird es zahllose Mechaniker, Blechner, Sattler und Lackierer benötigen, die diesem neuen automobilen Frühling überhaupt erst das Leben einhauchen.

Quelle Titelbild

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