Horst D. Deckert

Dilemma der „Alternative“: Freie Wahlen in unfreien Zeiten?

Politische Hygiene bei der Wahl: In Deutschland fast so wichtig wie die Impfung (Foto:Imago)

Die Krise des Parteiensystems ist ein Dauerzustand in jeder Demokratie, und die Unentschlossenheit vieler Wähler im Vorfeld der Wahlen ist ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Selbst Stammwähler und feste „Wahl-Abonnenten“ tun dies selten mit voller Überzeugung. Schon immer nötigt eine zwangsläufig begrenzte Auswahl an Wahlmöglichkeiten dem Wahlbürger Kompromisse ab, denn dass eine Partei in der komplexen Gemengelange politische Themen und Herausforderungen zufällig genau den persönlichen Gusto trifft, ist praktisch ausgeschlossen. Deshalb können immer nur Abstriche gemacht, Schnittmengen gebildet und Kröten geschluckt werden, sonst dürfte man überhaupt nicht wählen.

Gestern sagte der Chef des Kölner Markt- und Meinungsforschungsinstituts Rheingold, Stephan Grünewald, im aktuellen Bundestagswahlkampf seien die Wähler „so unentschlossen wie nie“ und die meisten von ihnen stünden „noch im Entscheidungsprozess„. Schon deshalb hätten die aktuellen Umfrageergebnisse mit dem finalen Wahlergebnis weniger zu tun als je zuvor. Da könnte er recht haben. Doch es liegt nicht an der klassischen Binse vom Politikverdruss.

Denn für Schwankende, mit Ausnahme jenes alibidemokratischen Urnengangs alle vier Jahre ansonsten gänzlich Politikfremde und Uninteressierte ist Wählen gehen heute so etwas wie neuerdings das Covid-Impfen: Man macht es eben, weil es dazugehört und weil es als eine der wenigen verbliebenen Gemeinschaftspflichten gilt. Und auch mit der Festlegung auf eine Partei verhält es sich für die meisten nicht anders als beim Impfstoff (der ja auch frei „gewählt“ werden darf): Am Ende ist überall dasselbe drin, und es drohen immer dieselben Nebenwirkungen. Die gebrochenen Versprechungen des Altparteien-Einheitsblocks, dessen Programme sich nur mehr in Nuancen unterscheiden, gleichen den falschen Verheißungen der Impfstoffe: Letztlich taugen sie alle nichts.

Und ebenfalls wie beim Impfen – auch hier trägt die Analogie – stellen sich jene, die sich den „erwünschten“ Wahloptionen verschließen, ins gesellschaftliche Abseits. Wer sich, als Alternative zu den gängigen Impfstoffen, komplett gegen die Impfung entscheidet, dem droht dieselbe Art der Ausgrenzung wie demjenigen, die sich zu einer politischen Alternative bekennt – vor allem dann, wenn er den Begriff Alternative wörtlich nimmt. Denn die AfD – ganz gleich wie man zu ihr stehen mag – verkörpert nun einmal die objektiv einzige Realopposition. Sich hierzu offen zu bekennen, ist doppelt uncool und unschick: Erstens will sich keiner, selbst in anonymen Wahlumfragen, als „Rechter“ darstellen. Und zweitens ist „Opposition“, 16 Jahren Merkel sei dank, in Deutschland wieder ein suspekter, belasteter Begriff geworden. Vielleicht erleben wir bei diesen Wahlen deshalb ja einen bislang in Deutschland unbekannten Einfluss des Bradley-Effekts.

Noch ist kein Gesinnungspass nötig

Der einzige Unterschied zwischen Impfstoff- und Parteienwahl liegt darin, dass die Wahlentscheidung noch nicht per digitalem oder papiernen Gesinnungspass nachweispflichtig ist. Doch auch das wird vermutlich irgendwann kommen: Viele Gastronomen, Geschäftsinhaber oder Ärzte, die hier schon Übung haben, müssen auf ihren ihre Hinweisschildern „Anhänger der AfD haben hier keinen Zutritt“ aktuell ja praktischerweise nur die ersten drei Worte durch den Begriff „Ungeimpfte“ ersetzen – und sie tun es auch immer öfter.

Mancheiner, der sich dann doch für politische Detailinhalte interessiert und seinen Standpunkt in einem der derzeit wieder durch die Netzwerke schwappenden Wahl-O-Maten gegenchecken lässt, wo in Blöcken von typischerweise 30 bis 40 Einzelfragen die Meinung zu konkreten politischen Sachthemen abgefragt wird, der erschrickt auch bei dieser Wahl nicht schlecht über das Ergebnis: Oft kommen hier nämlich erschreckend hohe Übereinstimmungen mit AfD oder gar Rechtsaußen-Splittergruppen heraus, weit öfters jedenfalls, als es die Wahlergebnisse bislang und auch diesmal wieder reflektieren werden. Und dafür gibt es einen Grund: Die Intoxikation des gesunden Menschenverstandes als „rechts“, die Verteufelung von liberal-konservativen Überzeugungen als rechtsradikal hat zur Verwaisung der entsprechenden Themen bei den etablierten Parteien geführt. Statt Lösungsansätzen für das, was die Menschen wirklich interessiert, sind bei ihnen irrationale und ideologische Topoi heute programmbestimmend.

Es ist ein echtes Dilemma, und zwar weniger der erstwählenden Klima-Schreihälse und Wohlstandskids (von denen sich die meisten eine Zukunft in staatlich alimentierter Rundumversorgung im Lehrbetrieb, als Funktionär oder am besten Politiker erträumen) als vielmehr der bereits im (Berufs-)Leben stehenden Wähler: Entweder sie wählen „geheim“ die Opposition und machen aus ihrem Herzen eine Gesinnungsmördergrube, indem sie schweigen, um nicht als „rechtsextrem“ geoutet zu werden (und darunter fällt heute sogar das, was zu Helmut Schmidts Zeiten noch als positionelle SPD-Kernsubstanz galt). Oder sie wählen zwischen verschiedenen Alternativen des Untergangs.

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