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Korruptionsskandal: Wie lange kann sich Selenskyj noch halten?
Im Korruptionsskandal in der Ukraine zieht sich die Schlinge immer enger um Selenskyjs Hals! Recherchen decken systematische Sabotage von Kontrollgremien auf. Was wusste der Präsident?
von Marcel Kunzmann
Bisher standen im ukrainischen Korruptionsskandal vor allem der Energiekonzern Energoatom und Selenskyj-Vertraute im Mittelpunkt. Eine umfangreiche Recherche der New York Times rückt jedoch jetzt auch den Präsidenten selbst in den Fokus.
Die Regierung soll der Recherche zu Folge über vier Jahre hinweg die Arbeit unabhängiger Aufsichtsgremien “systematisch sabotiert” haben. Die Zeitung stützt sich dabei auf Dokumente sowie Gespräche mit rund 20 westlichen und ukrainischen Beamten, die eng mit den Aufsichtsgremien zusammengearbeitet oder in ihnen gesessen haben.
Der zentrale Vorwurf: Kiew habe die Kontrollgremien mit Gefolgsleuten besetzt, Sitze leer gelassen oder deren Einsetzung verzögert. Teilweise seien sogar Unternehmenssatzungen umgeschrieben worden, um die Regierungskontrolle zu sichern.
Hunderte Millionen ohne externe Kontrolle ausgegeben
Nach Angaben der New York Times wurden auf diese Weise Hunderte Millionen Dollar ohne externe Aufsicht ausgegeben. Ein Berater Selenskyjs lehnte eine Stellungnahme ab und erklärte, die Aufsichtsgremien lägen nicht im Verantwortungsbereich des Präsidenten. Ob solche Entscheidungen in der zentralisierten ukrainischen Regierungsstruktur ohne Selenskyjs Mitwissen hätten getroffen werden können, scheint jedoch fraglich.
Die Recherche beleuchtet insbesondere drei staatliche Unternehmen: den Atomkonzern Energoatom, den Stromnetzbetreiber Ukrenergo sowie die staatliche Beschaffungsagentur für Verteidigung. Bei allen drei Firmen habe die Regierung die Arbeit der Kontrollgremien massiv beeinträchtigt.
Aufsichtsgremien spielen eine zentrale Rolle bei der Überwachung ukrainischer Staatsunternehmen. Sie bestehen typischerweise aus sieben Mitgliedern, von denen vier ausländische Experten sind, die von der Europäischen Union und westlichen Banken vorgeschlagen werden. Drei Sitze gehen an ukrainische Regierungsvertreter. Das Prinzip: Unabhängige Expertise soll stets die Regierungsinteressen überstimmen können.
Der Fall Energoatom: Verzögerte Einsetzung ermöglichte Bestechungssystem
Besonders brisant ist der Fall des Atomkonzerns Energoatom, der im Zentrum des aktuellen Korruptionsskandals steht. Herman Halushchenko, von 2021 bis 2025 ukrainischer Energieminister, trieb dort ein umstrittenes Projekt voran: den Kauf und die Wiederinbetriebnahme zweier alter russischer Atomreaktoren aus Bulgarien für 600 Millionen Dollar.
Westliche Geldgeber und Antikorruptionsstellen kritisierten das Vorhaben als potenzielle Geldverschwendung. Zeitgleich sollte das erste Aufsichtsgremium von Energoatom eingesetzt werden. Doch die ukrainische Regierung verzögerte dies um etwa ein Jahr. Als Begründung nannte sie Streitigkeiten über Gehälter und Versicherungen.
Tim Stone, ein britischer Geschäftsmann mit Erfahrung im Finanz- und Nuklearsektor, der als Aufsichtsratsmitglied vorgesehen war, zog seine Zusage zurück. “Die ganze Sache war einfach ein komplettes Rattennest”, sagte Stone der New York Times.
Genau in der Zeit ohne funktionierende Aufsicht bauten ukrainische Beamte nach Angaben der Antikorruptionsermittler bei Energoatom ein Bestechungssystem im Wert von 100 Millionen US-Dollar auf. Auftragnehmer mussten demnach Schmiergelder von bis zu 15 Prozent zahlen.
Als das Gremium Anfang 2025 schließlich eingesetzt wurde, blieb ein Sitz frei. Dies führte zu einer gleichmäßigen Machtverteilung zwischen zwei ausländischen Experten und zwei ukrainischen Vertretern. Diese Pattsituation habe Energoatom weitgehend machtlos gemacht, Korruption zu verhindern, schreibt die Zeitung.
Im November 2025 wurde ein Manager des Unternehmens im Zuge der Ermittlungen wegen Schmiergeldzahlungen suspendiert. Acht Personen sind angeklagt, darunter ein ehemaliger Geschäftspartner Selenskyjs. Ein enger Vertrauter des Präsidenten trat zurück, nachdem sein Haus durchsucht worden war, wurde aber nicht angeklagt.
Ukrenergo: Polnischer Experte stimmte für Entlassung
Auch beim Stromnetzbetreiber Ukrenergo habe die Regierung massiv interveniert, so die Recherche. Volodymyr Kudrytskyi, der frühere Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, berichtete der New York Times, dass Minister Halushchenko Ende 2021 begonnen habe, ihn zu drängen, Personen mit begrenzter Erfahrung im Energiesektor einzustellen.
Als Ende 2021 ein neues Aufsichtsgremium für Ukrenergo zusammengestellt wurde, bestand das ukrainische Energieministerium darauf, dass einer der Sitze an Roman Pionkowski gehen sollte, einen polnischen Energieexperten. Zwei Beamte sagten der Zeitung, Pionkowski habe zwar ein Vorstellungsgespräch geführt, sei aber zu niedrig bewertet worden, um auf die Kandidatenliste zu kommen.
Westliche Vertreter waren überrascht, akzeptierten Pionkowskis Nominierung aber als einen der vier ausländischen Experten. Das neue Gremium nahm im Dezember 2021 seine Arbeit auf.
Nach Beginn des Ukraine-Konflikts im Februar 2022 hielt Ukrenergo unter Kudrytskyjs Führung die Stromversorgung des Landes aufrecht und wurde zu einem vertrauenswürdigen Partner westlicher Geldgeber, die dem Unternehmen in den ersten Kriegsjahren 1,7 Milliarden Dollar an Krediten und Zuschüssen gewährten.
Der politische Druck blieb jedoch bestehen. Halushchenko wollte Kudrytskyi entlassen lassen. Ein ausländisches Aufsichtsratsmitglied war aus persönlichen Gründen zurückgetreten, die Regierung besetzte den Sitz nie nach. Dies führte zu einem Patt zwischen ausländischen Experten und Staatsvertretern.
Dieses Patt hätte Kudrytskyjs Position eigentlich sichern sollen. Doch Pionkowski, der polnische Experte, stimmte mit den ukrainischen Vertretern und für die Entlassung. Pionkowski verteidigte seine Unabhängigkeit gegenüber der New York Times. Er habe keine Anweisungen aus Kiew entgegengenommen und für die Entlassung gestimmt, weil Kudrytskyi das Gremium wiederholt in die Irre geführt habe. Details nannte er nicht. Die beiden anderen ausländischen Aufsichtsratsmitglieder traten aus Protest zurück und bezeichneten die Entlassung als “politisch motiviert”.
Verteidigungsbeschaffung: Satzung kurz vor Sitzung geändert
Bei der Beschaffungsagentur für Verteidigung, die Anfang 2024 nach einem Skandal um überhöhte Verträge gegründet wurde, gab es laut Recherche ähnliche Probleme. Die Behörde habe mindestens eine Milliarde Dollar an europäischem Geld ausgegeben, entweder mit einem unvollständigen Aufsichtsgremium oder ganz ohne eines.
Maryna Bezrukova, die erste Leiterin der Agentur, sagte der New York Times, das Fehlen eines Gremiums während ihres ersten Jahres habe sie anfällig für Druck der Selenskyj-Regierung gemacht. Das Verteidigungsministerium habe sie gedrängt, zweifelhafte Verträge zu genehmigen.
Am Vorabend der ersten Sitzung des Aufsichtsgremiums im Dezember 2024 schrieb das Verteidigungsministerium die Satzung der Beschaffungsbehörde um und gewährte sich selbst die Befugnis über Einstellung und Entlassung der Behördenleitung. Das Gremium protestierte gegen die Einmischung und verlängerte Bezrukovas Vertrag um ein weiteres Jahr.
Die Selenskyj-Regierung ließ sich nicht beirren. Als ein ausländischer Experte zurücktrat, entließ die Regierung die beiden ukrainischen Vertreter, wodurch das Gremium nicht mehr beschlussfähig war. Die Befugnisse gingen an das Verteidigungsministerium über. Bezrukova wurde Anfang 2025 entlassen.
Europa in der Zwickmühle
Europäische Geldgeber haben die politische Einmischung zwar privat kritisiert, aber widerwillig toleriert, berichtet die New York Times. Die Unterstützung des Kampfes gegen Russland sei vorrangig gewesen. So sei europäisches Geld weiter geflossen, auch als die Ukraine die externe Aufsicht untergrub.
“Wir kümmern uns um gute Regierungsführung, aber wir müssen dieses Risiko akzeptieren”, sagte Christian Syse, Sondergesandter für die Ukraine aus Norwegen, einem der größten Geldgeber Kiews, der Zeitung. “Weil es Krieg ist. Weil es in unserem eigenen Interesse liegt, der Ukraine finanziell zu helfen. Weil die Ukraine Europa vor russischen Angriffen verteidigt.”
Die Europäische Kommission gab dieses Jahr einen Bericht über Korruptionsrisiken in der ukrainischen Energiewirtschaft in Auftrag. Der Bericht, den die New York Times einsehen konnte, warnte vor “anhaltender politischer Einmischung” und nannte die Untergrabung der Aufsichtsgremien durch Kiew als kritisches Problem.
Der Skandal schwächt Selenskyj politisch und erschwert den ukrainischen Beitritt zur Europäischen Union und zur Nato, die beide zögern, ein von Korruption geplagtes Mitglied aufzunehmen. Auch die für den Wiederaufbau nach dem Krieg benötigten Hunderte Milliarden könnten gefährdet sein.
Pikant ist zudem der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Recherchen während der laufenden Friedensverhandlungen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Washington ein Interesse daran hat, Selenskyjs Position weiter zu schwächen und möglicherweise den Boden für einen politischen Neuanfang legen will.
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