Horst D. Deckert

Warum Großmütter am Heiligen Abend weinen

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Dieser Beitrag von Michael Scharfmüller erschien zuerst im Printmagazin Info-DIREKT, Ausgabe 18.

Als ich noch ein Kind war, sangen wir vor der Bescherung immer ein paar Weihnachtslieder. Meine Schwestern spielten auf ihren Blockflöten und Mutter auf ihrer Gitarre. Es wurden Gedichte und eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Als Abschluss der kleinen Feierstunde sangen wir immer „Stille Nacht“. Ich erinnere mich noch gut daran, dass mein Vater immer ganz falsch und laut und meine Großmutter mit ihrer gebrechlichen alten Stimme immer ganz leise gesungen hat.

Dass meine Großmutter beim Lied der Stillen Nacht immer ganz heimlich zu weinen begann und dass auch die Augen der anderen Erwachsenen den Schein des Kerzenlichtes immer klarer spiegelten, ist mir auch noch gut in Erinnerung. Ich weiß auch noch, dass ich damals nicht verstanden habe, warum die Erwachsenen am schönsten Tag im Jahr weinen. Wenn alles festlich geschmückt ist, wenn die ganze Familie beisammen ist und es Geschenke gibt, was soll daran so traurig sein, dass man weinen muss? Meine Oma hat sonst nie geweint, deshalb war es für mich lange Zeit unverständlich, warum sie es dann ausgerechnet an dem Tag tat, an dem das Christkind kam.

Ich habe die letzten Jahre viel darüber nachgedacht, warum das so war. Heute glaube ich zu wissen, warum sie geweint hat. Mehr noch, ich spüre ihre Tränen auf meinen Wangen.

Erinnerungen werden lebendig

Vielleicht hat sich meine geliebte Oma zurückerinnert an die vielen Weihnachten, die sie in ihrem langen Leben erlebt hat. Vielleicht hat sie sich auch an die Weihnachten vor dem Krieg erinnert, wo es vermutlich schon als Geschenk galt, wenn der Bauch einmal voll wurde. Vielleicht hat sie sich an die Weihnachten während dem Krieg erinnert, als sie sich um ihren Vater, ihren Bruder und vielleicht auch um ihren ersten Freund sorgte, die sich in weiter Ferne in Uniform und Stahlhelm nach daheim sehnten. Wahrscheinlich erinnerte sie sich auch daran, als sie zum ersten Mal als junge Mutter mit meinem Vater in den Armen vor dem Weihnachtsbaum stand und das Lied der Stillen Nacht sang. Sicher erinnerte sie sich bei „Stille Nacht, Heilige Nacht“ auch an die Heiligen Abende mit ihren Großeltern, Eltern und an den im Krieg gefallenen Bruder. An die Weihnachtsabende mit ihrem verstorbenen Mann und an die ersten Weihnachten ohne ihn.

So wie sie sich damals zurückerinnerte, gedenke ich heute – mit Tränen in den Augen und meinen kleinen Kindern in den Armen – all jener, die vor mir in meiner Ahnenreihe stehen. Die vor mir in kalter Winternacht sich rund um eine Kerze, ein Feuer, einen Baum oder rund um ein Kind in einer Krippe versammelt haben und spürten, dass sie weder die ersten noch die letzten waren, die dieses heilige Fest feiern.

Sinnbild für das ewige Leben

Wenn dieses Jahr, am 24. Dezember beim Lied der Stillen Nacht, meine Augen wieder feucht werden, weiß ich deshalb, dass es keine Tränen der Trauer sind, sondern Tränen der Freude. Der Freude darüber, dass ich die Fackel des Lebens, die meine Vorfahren durch alle Zeiten hindurch getragen haben und an mich überreichten damit ich diese an meine Kinder weitergeben kann. Die Weitergabe dieser Fackel von Generation zu Generation ist für mich ein Sinnbild für das ewige Leben.

Am Heiligen Abend – beim „Lied der Stillen Nacht“ – wird mir das immer wieder aufs Neue bewusst. Deshalb ist Weihnachten nicht dazu da, um traurig zu sein, dass wir all unsere Verstorbenen nicht mehr sehen. Weihnachten ist – aus meiner Sicht – dazu da, sich seiner Wurzeln zu erfreuen. Es ist dazu da, sich bewusstzumachen, was wichtig ist: Familie, Heimat, Gemeinschaft und Kultur, die uns zu dem machen, was wir sind.

Egal, ob man an Weihnachten der Geburt Jesu gedenkt, oder ob man den Sieg der Sonne über die Dunkelheit feiert. Beides hat für mich mit der Hoffnung auf ewiges Leben zu tun. Beides ist bloß eine Metapher dafür.

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