Horst D. Deckert

Zeuge des Wahnsinns (III): Bahnfahren als „Grundübung in Demokratie“

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Was wäre immer eine Grundübung in Demokratie? Zuhören? Argumentieren? – Nein. „Immer eine Grundübung in Demokratie“ ist das Bahnfahren. Das behauptet der Psychologe Stephan Grünewald in der „Zeit“. Die Medienkritik.

von Max Erdinger

In Deutschland reicht es inzwischen aus, in der Früh aufzustehen und den Computer hochzufahren, um schon vor dem ersten Kaffee Zeuge des Wahnsinns zu werden. Die Startseite des Browsers liefert Leseempfehlungen – und mindestens eine Wahnsinnslektüre ist immer darunter. Heute: „Bahnfahren ist immer eine Grundübung in Demokratie„.

In der „Zeit“ befragten Claas Tatje und Mark Spörrle den Psychologen Stephan Grünewald. Sie wollten von ihm wissen, warum die Deutschen so ein gestörtes Verhältnis zur Bahn haben. Was ein guter Psychologe ist, sieht man daran, daß er selbst die Antwort auf eine solche Frage kennt. Psychologe Grünewald: „Es liegt an ihrer Anspruchshaltung„. Eigentlich könnte man den Computer sofort wieder herunterfahren. Zeuge des Wahnsinns wäre man ohnehin schon geworden. „Immer eine Grundübung in Demokratie ist das Bahnfahren“: Das ist der Satz eines Psychologen, der offensichtlich selbst auf die Couch gehört.

In der „Zeit“-Schule

„Grundübung in Demokratie“: Ein Sechser in Physik, schlecht in Mathematik, gut in Englisch. Wer „Demokratie“ als Schulfach begreift, der wählt „in“ statt „der“, wie es in „Grundübung der Demokratie“ zu lesen wäre. Und wer einem erklären kann, was Grundübung „in“ Demokratie ist, muß selbst schon viel schwierigere Übungen als das Bahnfahren hinter sich gebracht haben, um sich „in Demokratie“ so gut auszukennen, daß er allen anderen erklären kann, mit welcher Grundübung sie anfangen sollten, um „in Demokratie“ eines noch fernen Tages so viel Durchblick zu bekommen, wie er selbst ihn bereits hat. Anders ausgedrückt: Wer „in Demokratie“ schlecht ist, sollte sich mit seinem „gestörten Verhältnis zur Bahn“ auseinandersetzen. Weil das eine Grundübung wäre. Da wird der Psychologe zum „Experten in Demokratie“. Das ist Wahnsinn.

Die Deutschen hätten also „so ein gestörtes Verhältnis“ zur Bahn. Ausgeschlossen, daß sie lediglich ein überaus harmonisches, leider aber undemokratisches Verhältnis zu den Alternativen zur Bahn haben könnten. Das ist gut für den Psychologen. Weil harmonische Verhältnisse keinen Psychologen brauchen, der seinen Senf dazu abgibt. Schon steht der Verdacht wie ein Elefant im Raum, daß die Deutschen nur deswegen ein „so gestörtes Verhältnis“ zur Bahn haben müssen, damit die „Zeit“ einen „Experten für Grundübungen in Demokratie“ präsentieren kann, welcher dafür sorgt, daß der „Zeit“-Leser endlich Demokrat werden will. Na gut, vergessen Sie es. Der wahre Grund ist natürlich die pestilenzartige Verbreitung der ubiquitären Belehrung, deren Motiv nicht darin zu sehen wäre, daß es etwas zu lernen gäbe, sondern darin, daß der ungrundgeübte Demokrat die Existenz eines Oberlehrers über sich akzeptiert, ohne dabei nach der Sinnhaftigkeit von Lerninhalten zu fragen. In der Kurzform: Wir von der „Zeit“ erklären Ihnen jetzt einmal, was Demokratie zu sein hätte.

Die Kurzform „extended

Da wir allerdings wissen, daß Sie, lieber „Zeit“ -Leser, uns nicht als Ihre Oberlehrer akzeptieren würden, präsentieren wir Ihnen einen Psychologen, der Ihnen „in Demokratie“ auf die Sprünge hilft. Einen Psychologen werden Sie doch wohl als Oberlehrer akzeptieren? Wir meinen, nach all´ den Jahren Ihrer Hospitalisierung im paternalistischen Nannystaat Deutschland und den Identitätsproblemen, die Sie währenddessen so ausgebildet haben müssen, daß Sie sich ohne einen „Experten“ praktisch zu nichts mehr ein eigenes Bild mehr machen können, dem Sie auch vertrauen könnten?

Sehen Sie, unser Trick geht so: Da wir von der „Zeit“ die eigentlichen Oberlehrer sind, als solche aber von Ihnen nicht akzeptiert werden würden, weil Sie einer antiquierten Vorstellung von „vierte Gewalt“ anhängen, schieben wir einen „Experten in Demokratie“ zwischen uns und Sie. Da wir Sie für inferior uns gegenüber halten, andererseits aber auch wissen, daß Sie unsere Haltung nicht goutieren würden, sich grundsätzlich aber für einen aufgeschlossenen, intelligenten und progressiven Geist halten, der sich deshalb selbst für die bizarrsten Standpunkte noch interessiert, simulieren wir Augenhöhe mit Ihnen, inferiorer Unwissender, indem wir „für Sie“ die Fragen stellen, auf die Sie aufgrund Ihrer Inferiorität uns gegenüber selbst gar nicht gekommen wären. Sehen Sie: Die beste Belehrung ist die, von welcher der Belehrte nicht merkt, daß er eine erhalten hat. Ein kleiner Hundsfott, wer hier von „Indoktrination“ spräche. Glauben Sie es einfach: Bahnfahren ist eine „Grundübung in Demokratie“.

Ja, es stimmt schon, daß wir Ihnen auch einen Psychologen hätten präsentieren können, der Ihnen erklärt hätte, daß Marmelade auf ein Käsebrot zu schmieren eine „Grundübung in Demokratie“ sei, – wegen Gegensatz, Toleranz, Geschmacksintegration, Vielfalt usw.z.B. – da hätte sich schon etwas zusammenreimen lassen. Aber wir haben das mit Hilfe von Statistiken vorher durchkalkuliert: Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie lieber nicht Bahnfahren würden, ist größer, als die Wahrscheinlichkeit, daß Sie kein Käsebrot mit Marmelade essen würden. Ja, was glauben Sie denn, warum das Datensammeln so populär geworden ist? Wer die Statistiken kennt, der kennt Sie besser, als Sie sich selbst.

Das Interview mit dem „Experten in Demokratie“

Die Geselligkeit, schon vor der „Pandemie“ häufig nur noch als „Gruppenbesäufnis“ interpretiert, ist während der Coronakrise in den Köpfen endgültig gar auf den Realitätshund gekommen. Ohne, daß Psychologe Grünewald irgendeinen Beleg dafür präsentieren würde, daß die Geselligkeit vor einem Comeback steht, behauptet er dennoch einfach, dem sei so. Auf die pseudoneugierige Frage der „Zeitler“, ob etwa ein Ende der Bahn als Reisemittel für gesellige Runden, Fußballfans, Mädelsausflüge, kartenkloppende Rentner und Posaunengruppen bevorstehe, antwortet er ernsthaft: „Nicht ernsthaft. Wir werden wieder in eine kompensatorische Phase kommen, in der eine intensive Geselligkeit buchstäblich wieder zum Zug kommt. Denn Bahnfahren verspricht ja immer auch, dass man nicht nur das Land, sondern auch die Leute kennenlernen kann – die Frau oder den Mann auf dem Sitz gegenüber … “ – um im Jargon zu bleiben: Der Zug ist längst abgefahren. Wer hierzulande noch daran interessiert ist, Leute ausgerechnet im Zug „intensiv kennenzulernen“, schreit förmlich nach einer unangenehmen Konfliktsituation. Heutzutage hat nicht nur jeder Zugreisende ein verbrieftes Recht darauf, nicht kennengelernt werden zu müssen. Der sicherste Schutz davor, nicht von wildfremden Personen kennengelernt zu werden, ist eine Ausgabe der „Zeit“ auf dem Schoß. Der zweitsicherste Schutz besteht im Gebrauch eines Smartphones, von dem aus dünne Kabel bis in die Ohren führen, gepaart mit einem Blick der absoluten Unbeteiligtheit zum Wagenfenster hinaus.

Das Signal, das man heutzutage im Zug von anderen Bahnfahrern am häufigsten erhält, ist das folgende: Respektieren Sie um Himmels Willen meine Privatsphäre. Lassen Sie mich bloß in Ruhe. Und da man als soziales Wesen nicht unangenehm aus der Masse herausstechen will, signalisiert man dasselbe am besten zurück. Bahnfahren scheidet schon deshalb als „Grundübung in Demokratie“ aus, weil Dialog Voraussetzung für Demokratie wäre. Vom Monolog ist noch keiner Demokrat geworden. Und ohne Voraussetzung braucht man mit der Grundübung gar nicht erst anzufangen. Bahnfahren eignet sich sogar ausgesprochen schlecht für eine „Grundübung in Demokratie“. Man stelle sich nur einmal den Blick vor, den man ernten würde, nachdem man seinem unbekannten Gegenüber in der Bahn zunächst gestenreich signalisiert hätte, daß es einmal den Kopfhörer abnehmen möge, um ihm als nächstes das Angebot zu machen, an einer Grundübung in Demokratie teilzunehmen – und daß sein Kopfhörer ein Hindernis im Sinne der Grundübung darstelle.

Im Extremfall käme es so weit, daß man jenem Polizisten, der einen im Krankenhaus zur Zeugenvernehmung aufsucht, erklären müsste, die malträtierte Kauleiste und die zugeschwollenen Augen seien Resultat der Weigerung eines Fremden, sich an der „Grundübung in Demokratie“ zu beteiligen. „Wir“ sehen also: Psychologe Grünewald ist ein Traumtänzer, der in gerader Linie von Pippi Langstrumpf abzustammen scheint, weil er sich die Welt ebenfalls lieber so macht, widde-widde-wie sie ihm gefällt. Solche Traumtänzer braucht aber kein Demokratiedurstiger für seine Grundübung. Was im „Zeit“-Sinn zugegebenermaßen keine Rolle mehr spielt, weil man das Interview zur Grundübung schließlich schon bis hierhin gelesen haben muß, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Die „Zeit“ erreicht – so, wie alle Utopisten und Psychotrickser – den Zielbahnhof immer vor dem Zug. Das ist die Erkenntnis, die man gewinnt. Anfangen kann man halt nichts mit ihr. Schön, daß wenigstens das nicht schade ist.

Worum geht es wirklich?

Schlagen „wir“ nach im Wörterbuch unter „W“. Wand, Wände, Wende. Wende, Energie – Wende, Verkehrs-. Stopp. Verkehrswende. Das ist es. Verkehrswende ist das richtige Wort. Es ist so: Auch in einem wendegeilen Gagaland weiß der Psychologe in der „Zeit“, daß niemand goutiert, wenn ihm etwas weggenommen werden soll, das er liebgewonnen hat. In Gagaland ist das Automobil ein Liebling der Massen. Gehaßt wird es lediglich von einer völlig lebenslustfeindlichen Minderheit, die der Mehrheit deswegen ständig auf den Sack geht, weil sie sich für die geborenen Oberlehrer hält, was man schon daran sehen kann, daß sie der Mehrheit etwas von der „Grundübung in Demokratie“ erzählen zu sollen glaubt. Dabei wäre es eine tatsächliche „Grundübung in Demokratie“, ein Verständnis dafür zu erwerben, daß „Mehrheit“ nicht wegen nichts ein beliebtes Wort in der Demokratie ist, sondern deswegen, weil in der Demokratie der Volkswille zählt – und nicht der Wille von ein paar minderheitlichen, dazu noch selbsternannten Oberlehrern des Volkes. Der Volkswille läßt ausrichten: Wir wollen Autofahren.

Instinktiv weiß der psychologisierende Oberlehrer, daß der Einwand mit der Mehrheit und der Minderheit schon stimmt, demokratisch so. Aber es gefällt ihm nicht, daß er stimmt. Deshalb verfällt er auf den Trick, seine Absicht, der Mehrheit etwas wegzunehmen, hinter einer alternativen Verheißung verschwinden zu lassen, nach dem Motto: Freu´dich auf das, was du als Ersatz für jenen Liebling haben wirst, den wir dir abzunehmen trachten. Unpünktliche und unzuverlässige Scheiße ist auch etwas Schönes. Man muß sie nur „Bahnfahren“ nennen und dabei ausblenden, daß die Scheiße auch noch einem Fahrplan folgt, nach dem man sich zu richten hat. Wem es schwerfällt, das zu glauben, den packen wir eben an seinem Selbstverständnis, in dem wir ihm weismachen, nicht wir selbst, sondern er sei derjenige, der eine „Grundübung in Demokratie“ braucht, um sich „Demokrat“ nennen zu dürfen. Demokrat will er nämlich sein. Am besten, er glaubt nicht, daß er schon einer sei, weil er sonst seine verdammten Grundübungen nicht machen wollen würde. Schön, daß wir ihm weismachen können, wir Zeitpsychologen seien erfolgreich jene Demokraten geworden, die ihm deshalb seine Grundübungen erklären können.

„Auf der schwäbsche Eisebahne“

Dem Grundübungspsycho in der „Zeit“ sei Folgendes gesagt: Es gibt nichts Schöneres, als einen Demokratiedeppen, der erst noch seine Grundübung braucht, mit dem Auto am Bahnhof der „schwäbsche Eisebahne“ abzuliefern, um sofort durchzustarten, mit gemütlichen 200 Sachen an den „viele Haltstatione, Stuegert, Ulm und Biberach, Meckebeure, Durlesbach“ vorbei zu cruisen, und den Grundübungsgeläuterten nach einer Zigarettenpause am Zielbahnhof wieder in Empfang zu nehmen, ihn ins nächste Krankenhaus zu fahren, während er rücklings und unangeschnallt auf dem Beifahrersitz kniet, und ihm dort von Fremdkörperentfernungsgeübten jenes Messer aus dem Rücken ziehen zu lassen, welches ihm seiner demokratischen Geselligkeitsbemühungen wegen auf der „schwäbsche Eisebahne“ dort hineingesteckt worden ist. Im Übrigen: Wer sich als Ungeübter mit der „Zeit“ den Hintern abwischt, stirbt binnen 24 Stunden an einer schmerzhaften Schließmuskelvergiftung, wenn er sich nicht vorher gegen Schließmuskelvergiftung hat impfen lassen. Bis zum nächsten Mal, ihr lächerlichen Demokratiegrundübungskursleiter. Hawedieehre!

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