Wir veröffentlichen einen Text, der Grundlage eines am 19. August gehaltenen Vortrags von Norman Paech war. Der Autor war Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist Jurist und war Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. Seit 2005 Mitglied der Partei Die Linke. Albrecht Müller.
Norman Paech
Wenn wir heute unter dem Titel „125 Jahre Zionismus“ zusammenkommen, so verweist diese Zahl natürlich zunächst auf das historische Ereignis des ersten zionistischen Weltkongresses in Basel im Jahr 1897. Aber zugleich wissen wir, dass dieser Kongress, das heißt seine Botschaft, sein Auftrag und seine Bestimmung, sich nicht mit dem Kongress selbst erfüllt haben, sondern über sein unmittelbares Ziel, die Gründung eines jüdischen Staates, bis heute fortwirken. Und wohl erst in den letzten Jahren wird auch hier in Europa das als Katastrophe erkannt, was die Palästinensische Gesellschaft schon seit über 70 Jahren erlebt, und deren Wurzel eben hier in Europa, in Basel, liegt.
Gemessen an dem biblischen Anspruch auf die jüdische Heimstatt in Palästina, der über 2000 Jahre zurückreicht, ist der Zionismus als nationale Bewegung und ideologisches Projekt eines jüdischen Staates in Palästina sehr jungen Datums. Denn als Antwort auf die Probleme der in alle Welt zerstreuten Juden in einer nichtjüdischen Umwelt aktualisierte er sich erst Ende des 19. Jahrhunderts, als die Assimilation nicht mehr als Konzept des Überlebens ausreichte. Die Rechtlosigkeit und Verfolgung der Juden in Russland und Rumänien trieben nach den staatlich geförderten Pogromen seit 1881 etwa 1,3 Mio. Ostjuden in einem großen Exodus nach Westen Sie bestätigten nicht nur das Scheitern der Assimilation, sondern auch der gleichberechtigten autonomen Koexistenz. Die führenden Theoretiker der jüdischen Autonomie, Moses Hess, Leo Pinsker und Theodor Herzl sahen die Lösung der Judenfrage in der Forderung nach einem jüdischen Territorium, die sich erst 1897 mit dem Basler Programm des Zionistischen Kongresses auf Palästina festlegte.
Wir haben es mit zwei wesentlichen Antrieben im Zionismus zu tun. Wir sprechen hier vom politischen Zionismus und nicht von der religiös begründeten Zionssehnsucht, die orthodoxe Erlösungserwartung, die nur ein Teil der jüdischen Bevölkerung bewegt. Zum einen war die Herausbildung von Nationalstaaten in Europa ein Beispiel für die eigene Organisation eines Kollektivs aus den weit verstreut lebenden Mitgliedern einer noch zu bildenden homogenen jüdischen Gesellschaft. Spätesten seit der Französischen Revolution und auf der Basis ihrer bürgerlich-revolutionären Prinzipien formte sich einen Staatenwelt, in der die Juden nur Gäste und zumeist ungebetene Gäste waren. Daraus erwuchs zum anderen in fast allen Staaten ein „jüdisches Problem“, welches eine Lösung verlangte, da sich der Antisemitismus geradezu epidemisch ausbreitete. Und diese Lösung war die Abkehr von der Diaspora und die Suche nach einem Territorium, denn man hatte ja kein eigenes.
Allen Strömungen des politischen Zionismus war die Ablehnung jeglicher Integrationsversuche der jüdischen Gesellschaft in den arabischen Raum gemeinsam. Ob Sozialisten, Nationalreligiöse oder Pragmatiker wie Ben Gurion, sie einigte die Front gegen die Diaspora. Besonders deutlich hat Max Nordau, langjähriger Weggefährte von Theodor Herzl, diese Integrationsverweigerung vertreten. Ihre kulturelle Arroganz spiegelt sich in der offenen Verachtung für die asiatische Umgebung. Ebenso bezeichnend ist ihre ausschließliche Ausrichtung auf die westliche Zivilisation: „Das jüdische Volk wird seine wesenhafte Besonderheit im Rahmen der westlichen Kultur entfalten, wie alle anderen Kulturvölker, und nicht außerhalb dieser. Nämlich in einem wilden, kulturlosen Asiatismus“.[1] Auch in der jüdischen Arbeiterbewegung wurde mit der Parole von „Poale Zions“ (Arbeiter Zions): „Jüdischer Boden! Jüdische Arbeit! Jüdische Waren!“ den arabischen Arbeitern der Arbeitsmarkt verwehrt. Die „Gleichheit“ der sozialistischen Gesellschaft sollte nur für die jüdischen Siedler gelten. Ein Führer der zionistischen Arbeiterbewegung, David Hacohen, bekannte 1968 in der Zeitung Ha’aretz: „Ich musste mit meinen Freunden viel über den jüdischen Sozialismus streiten: musste die Tatsache verteidigen, dass ich keine Araber in meiner Gewerkschaft akzeptierte, dass wir Hausfrauen predigten, nicht in arabischen Geschäften zu kaufen, dass wir an Obstplantagen Wache hielten, um arabische Arbeiter daran zu hindern, dort Arbeit zu finden, dass wir jüdische Frauen attackierten und die arabischen Eier, die sie gekauft hatten, vernichteten, dass wir den ‚Jüdischen Nationalfonds‘ hochpriesen, der Hankin nach Beirut schickte, um Land von abwesenden Großgrundbesitzern zu kaufen und die arabischen Fellachen vertrieb, dass es verboten ist, einen einzigen jüdischen Dunam an einen Araber zu verkaufen.“
Diese Form des Siedlerkolonialismus zielte gerade nicht wie in Südafrika auf die Ausbeutung der kolonisierten Arbeitskraft, sondern auf ihre Verdrängung und Vertreibung. Es ist die israelische Form der Apartheid, aber es ist Apartheid. Darin waren sich Herzl und Nordau einig: „Die arme Bevölkerung trachten wir, unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Das Expropriationswerk muss ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.“[2]
Das Konzept des Transfers (ein Euphemismus für Vertreibung) der arabischen Bevölkerung war in den führenden Köpfen der zionistischen Bewegung von ihren Anfängen an vorhanden.[3] Einer ihrer frühen Ideologen, Berl Katznelson, trat für eine klare politische Trennung beider Völker ein. Er war zutiefst von der technologischen und sozialen Rückständigkeit der arabischen Kultur und Gesellschaft überzeugt, die für die Entfaltung der jüdischen Gesellschaft und die Judaisierung des Landes von Eretz Israel nur hinderlich sein konnte. Der „Orientalismus“, wie es Edward Said nannte, dieses Zionismus ist von der Verachtung der islamischen Welt, der Arroganz der eigenen zivilisatorischen Mission und dem unbedingten Wunsch, sich vollständig in den Westen zu integrieren, geprägt. Ja, er verstand sich und versteht sich noch heute als sein Vorposten in barbarischer Umgebung, „die Villa im Dschungel“ wie es Ehud Barack formulierte. Der Zionismus ist von Anfang an rassistisch.
Ohne Unterstützung des seinerzeit stärksten imperialistischen Interessenten Großbritannien hätten die strategische Geschicklichkeit Herzls und der aufkeimende jüdische Nationalismus aber nicht ausgereicht, das Projekt eines jüdischen Staates über die Jahrzehnte zu realisieren. Schon mit der britisch-französischen Interessenaufteilung durch das Sykes-Picot-Abkommen 1916, die Balfour-Deklaration ein Jahr später und durch die Mandatsübertragung an Großbritannien 1920 war die Teilung und Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung vorgezeichnet. Sie wurde niemals gefragt. Als der britische Außenminister Lord Balfour am 2. November 1917 in einem Brief an Lord Rotschild die „Errichtung einer nationalen jüdischen Heimstatt in Palästina“ versprach, versuchte Großbritannien zunächst damit eine besondere Verantwortlichkeit für Palästina zu erlangen, um gegenüber Frankreich am Ende des Weltkrieges bei den Teilungsverhandlungen eine starke Position zu haben. Ende 1917 war die Besetzung Palästinas vollzogen, Frankreich und die USA hatten beim Sieg über das Ottomanische Reich in Palästina und Syrien geholfen. Wenn allerdings die zionistische Bewegung aus diesem Versprechen, welches auch in die Präambel des britischen Völkerbundmandats über Palästina aufgenommen wurde, einen völkerrechtlichen Anspruch auf eine Staatsgründung herleiten wollte, widersprach das den Intentionen der britischen Regierung. Sie sah in der Erklärung ausdrücklich keine Rechtsgarantie für einen jüdischen Staat in Palästina. Zu dieser Zeit waren 91% der Bevölkerung Araber, denen 97% des Bodens gehörte. Dennoch wurde von dieser einheimischen Bevölkerung in der Mandatsurkunde bis auf eine flüchtige Erwähnung der arabischen Sprache keine Kenntnis genommen. Die britisch-zionistische Kolonisationspolitik der folgenden Jahre widersprach eindeutig Art. 22 der Völkerbundsatzung, der tiefgreifende Veränderungen in dem Gebiet durch den Mandatar untersagte.
Im Gründungsjahr des Staates Israel 1948 lebten in Palästina etwa 650000 Juden. Das waren 31% der Gesamtbevölkerung. Sie verfügten über 5,67% Grundbesitz, gelangten aber durch die Teilungsresolution der UNO in den Besitz von 56,47% des gesamten palästinensischen Bodens.[4] Sie hatte damit den jüdischen Landbesitz verzehnfacht, ohne die einheimische Mehrheitsbevölkerung zu fragen. Die UNO als Organisator der Kolonisation.
Mit der Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 verließ die Hälfte der arabischen Bevölkerung ihre Heimat. Sie wurden vertrieben und flüchteten vor dem jüdischen Terror, ihr Land wurde von den Israelis annektiert. In den Grenzen des jüdischen Staates verblieben nach dem Exodus 1948/49 nur noch ca. 300000 Araber, eine 10%ige Minderheit.
Die Teilung Palästinas wäre ohne die Stimme der Sowjetunion, die einer der entschiedensten Befürworter eines israelischen Staates war, nicht möglich gewesen. Bereits im Mai 1947 hatte Andrej Gromyko in einer Rede betont: „Sie wissen, dass es in Westeuropa kein einziges Land gab, dem es gelang, das jüdische Volk gegen die Willkürakte und Gewaltmaßnahmen der Nazis zu schützen. Die Lösung des Palästinaproblems, basierend auf der Teilung Palästinas in zwei separate Staaten, wird von grundlegender historischer Bedeutung sein, weil eine solche Entscheidung die legitimen Ansprüche des jüdischen Volkes berücksichtigt“.[5] Was immer das geostrategische Kalkül in der Konkurrenz zu Großbritannien gewesen sein mag, genauso wie bei den westlichen Großmächten war die Entscheidung für einen jüdischen Staat auch der Versuch der Wiedergutmachung, das Versagen der eigenen Geschichte angesichts der Vernichtung der Juden in Europa zu kompensieren. Allerdings entzog Stalin schon 1949 seine Unterstützung für den jungen Staat, um mit einer proarabischen, antizionistischen Außenpolitik stärkeren Einfluss auf die arabischen Nationalbewegungen zu bekommen. [6]
Der Vorwurf, der Zionismus habe ein kolonialistisches Projekt verfolgt und mit der Gründung Israels verwirklicht,[7] wird immer wieder mit den Argumenten zu entkräften versucht, dass nur eine Minderheit der Juden dieser Ideologie gefolgt sei und vor allem die Vernichtung der Juden durch die Shoa und ihre Vertreibung aus ihren Ländern ignoriert werde.[8] Kolonialismus definiert sich allerdings nicht über seine deklarierten Motive und Gründe, sondern durch die Methoden und Folgen seiner Praxis – eine Praxis des Landraubs, der Zerstörung von gesellschaftlichen Strukturen und der Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung, eine Praxis des permanenten Angriffs auf die Würde, Gesundheit und persönliche Sicherheit der Menschen, die schließlich in die Vertreibung der Kolonisierten mündet, um sie durch die zionistischen Siedler ersetzen zu können.
Zweifellos ist die Katastrophe der Shoah für Juden wie auch viele Nichtjuden die zentrale Legitimation der Staatsgründung Israels. Die erlittene Vernichtungsgeschichte ist so tief in das jüdische Bewusstsein eingegraben, dass sich ihm die Möglichkeit vertrauensvollen Zusammenlebens in nichtjüdischen Gesellschaften für viele verschlossen hat. Selbst in der Diaspora wird die Existenz eines jüdischen Staats als unverzichtbare Rückversicherung und Überlebensgarantie für den Fall einer neuen Katastrophe erlebt. Doch hat die ideologische Vereinnahmung der Shoa durch den Zionismus gerade bei jüdischen Autoren scharfe Kritik hervorgerufen. Denn der Zionismus in Israel versteht die Shoa nicht als Zivilisationsbruch mit dem Auftrag, den neuen Menschen ‚nach Auschwitz‘ zu schaffen. Er funktionalisiert die Shoa zur Selbstrechtfertigung des jüdischen Staates mit dem weitergreifenden Anspruch auf Eretz Israel, „dem Land der Urväter“[9], das noch weit über die Grenzen der Jordans hinausgeht. Dahinter verschwindet das palästinensische Schicksal der Enteigneten und Vertriebenen bis hin zum Verbot, an den Tag der Staatsgründung als Tag der palästinensischen Katastrophe, Naqba, öffentlich zu erinnern.
An die Stelle der Shoa als Gründungsmythos sind andere Mythen getreten, wie der Mythos von Eretz Israel und der Sicherheitsmythos. Die Sicherheit ist zum zentralen Ordnungsfaktor Israels geworden, der „auf einer aus der jüdischen Leidensgeschichte erwachsenen Auffassung der Unauflösbarkeit der feindseligen Verhältnisse zwischen Juden und den Gojim“ beruht, um die israelisch-deutsche Historikerin Tamar Amar-Dahl zu zitieren.[10] Damit hat jedoch der Wunsch nach Frieden nie die gleiche Höhe der Staatsprinzipien erreichen können. Im Laufe der Jahre „etablierte sich eine politische Kultur, in der weniger die Politik, sondern vielmehr das Militär im Endeffekt als zuständig für den Konflikt gilt“[11] – und die Gewalt, können wir hinzufügen.
125 Jahre Zionismus sind nie das Versprechen eines friedlichen, gleichberechtigten und produktiven Zusammenlebens mit dem Volk gewesen, dem man den größten Teil seines Territoriums genommen hat, um dort selbst in Frieden leben zu können. Er hat zwar das Land aber nicht den Frieden bekommen. Es hat genügend Angebote zur friedlichen Koexistenz von der palästinensischen Seite gegeben. Sie sind alle ausgeschlagen worden, denn die Idee des „jüdischen Staates“ kennt keine Gleichberechtigung, kein friedliches Zusammenleben mit dem arabischen Volk. Ein solcher Staat will das Land ohne arabisches Volk und dafür auf die Gewalt des Terrors nicht verzichten.
In der Unabhängigkeitserklärung vom Mai 1948 hieß es noch: „Der Staat wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen….Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.“ Genau 70 Jahre später heißt es in dem neuen Grundgesetz von 2018 jetzt: „Dieser Staat Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem es sein Recht auf nationale, kulturelle, historische und religiöse Selbstbestimmung ausübt.“ Und diese Selbstbestimmung baut auf Gewalt, Annexion und Vertreibung.
Frieden wird erst dann möglich sein, wenn dieser Zionismus von der israelischen Gesellschaft überwunden wird und die Staaten, die bisher seine zerstörerische Mission geschützt, ja unterstützt haben, sich von ihm trennen und dem folgen, was sie alle bei ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen unterschrieben haben: „…Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können… und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln…“
Hamburg, 19. August 2022
[«1] Joseph Gorny, The Arab Question and the Jewish Problem, (hebr.), Tel Aviv, 1986, zit. n. Tamar Amar-Dahl, Das zionistische Israel. Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des Nahostkonflikts, Paderborn 2012, S. 33.
[«2] Theodor Herzl, Tagebücher, Berlin 1922, Bd. 1, S. 98.
[«3] Vgl. Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, 2007; Nur Masalha, A Land without a People: Israel, Transfer and the Palestinians 1949-96, London, 1997.
[«4] Walter Holstein, Kein Frieden um Israel, Wien, 1987, S. 184.
[«5] Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und die Juden, Berlin 1998, S. 185 f.
[«6] Vgl. Wolfgang Gehrcke, Jutta von Freyberg, Harri Grünberg, Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nah-Ost-Konflikt, 2009, S. 102
[«7] So u.a. Reinhard, Wolfgang, Die Unterwerfung der Welt, München 2016, S. 1244.
[«8] Theodor Bergmann, Der 100-jährige Krieg um Israel, Hamburg 2011, S. 19.
[«9] Moshe Zuckermann, Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus, Köln 2009, S. 43.
[«10] Tamar Amar-Dahl, Das zionistische Israel, S. 227.
[«11] Tamar Amar-Dahl, 2012, S. 229.