Im ersten Teil wurde in die Genese des Niedergangs der LINKEN nachgezeichnet, die eng mit der objektiv gescheiterten Strategie zusammenhängt, die Partei maßgeblich auf junge aktivistische Großstadtakademiker auszurichten und sich bei Wählern der Grünen beliebt zu machen. Auch der allermeiste Streit, der in die Medien gezerrt wird, hat direkt mit der Frage, welche Strategie die Partei wählen sollte zu tun. Im zweiten Teil nun, soll es darum, was vom anstehenden Parteitag zu erwarten ist. Dafür ist es zunächst wichtig zu erklären, welche widerstreitenden Kräfte es in der Partei gibt. Von Robert Schiffmann
DIE LINKE besteht eigentlich aus mindestens drei Parteien in einer – den Bewegungslinken und Linksliberalen, den traditionellen Reformern sowie dem sozial-populären Lager.
Das seit einigen Jahren dominierende Lager bilden die Bewegungslinken und Linksliberalen. Zu diesem Lager gehören trotzkistische Gruppen wie marx21, dem Netzwerk, dem auch die derzeitige Parteivorsitzende Janine Wissler entstammt. Auch das Umfeld von Ex-Parteichef und Gewerkschafter Bernd Riexinger ist hierzu zu zählen. Insbesondere junge Mitglieder, die in den vergangenen Jahren eingetreten sind, organisieren sich bei den Bewegungslinken. Zu diesem Lager zählen darüber hinaus auch postmoderne Linksliberale wie die ehemalige Parteichefin Katja Kipping oder der Berliner Politiker Klaus Lederer. Zu Recht muss man sich die Frage stellen: wie so eine bunte Mischung aus sehr radikalen und sehr angepassten Leuten ein gemeinsames Lager bilden kann? Die Antwort darauf ist, dass sie in der Regel die gleiche Zielgruppe für ihre Politik haben: Beide sprechen hauptsächlich die (jungen) akademischen, urbanen Kreise an. Die Bewegungslinken halten politische Bewegungen für das entscheidende im Land. Und zweifelsfrei sind Bewegungen wichtig. Wer wollte was anderes behaupten? Doch eine Partei ist nur bedingt mit einer Bewegung zu vergleichen. Parteien treten bei Wahlen an und sollten im besten Fall – um so erfolgreich wie möglich zu sein – mehr als ein soziales Milieu mit Ihrer Ansprache und ihrer Organisationsform erreichen. Dafür müssen Parteien die Einstellungen und Geschmäcker der verschiedenen Bevölkerungsgruppen austarieren und auf einen gemeinsamen Nenner runterbrechen. Im Lager der Bewegungslinken und Linksliberalen gibt es auch erhebliche politische Differenzen. Doch neben der Zielgruppe eint sie zudem die Ablehnung von Sahra Wagenknecht, weil deren Positionen nicht zum Welt- und Selbstbild oder Geschmack der urbanen, akademischen Mittelschicht passen. Es ist also auch ein Zweckbündnis. Seit vielen Jahren besitzt dieses Bündnis die absolute Mehrheit im Parteivorstand der LINKEN – konnte also jede relevante Entscheidung der Partei treffen und nach Belieben bestimmen. Auch der Apparat (also die Parteizentrale und große Teile der Rosa-Luxemburg-Stiftung) wird von ihnen kontrolliert.
Die anderen beiden Lager in der Partei sind einfacher erklärt. Die traditionellen Reformer um Dietmar Bartsch sind vor allem – aber bei weitem nicht nur – im Osten stark. Allerdings ist ihr Einfluss in den vergangen Jahren massiv zurückgegangen – auch weil der linksliberale Teil dieses Lagers das Bündnis mit den Bewegungsleuten eingegangen ist. Und weil das Umfeld von Ramelow ebenfalls nicht mehr wirklich eng mit Bartsch und Co zu sein scheint. Die Reformer stehen Regierungsbeteiligungen meist sehr offen gegenüber. Dort, wo sie in ostdeutschen Bundesländern mitregiert haben, haben sie mitunter auch schlechte Kompromisse mitgetragen, was viele Wähler enttäuscht hat. Das sozial-populäre Lager schließlich besteht aus Gewerkschaftern, Friedensaktivisten und dem Umfeld von Sahra Wagenknecht. Aus hauptsächlich diesem Lager wurde kürzlich der Aufruf „Für eine populäre Linke“ initiiert. Wie der Name schon sagt, eint diese Parteimitglieder, dass sie die ganze Breite der Bevölkerung ansprechen wollen und eine Klassenpolitik betreiben wollen, die sich am Geschmack und den Interessen der „ganz normalen Leute“ orientiert.
Wie bereits beim letzten Parteitag haben die Bewegungslinken und Linksliberalen ein Machtbündnis mit Bodo Ramelow und seinem Umfeld geschlossen. Vor eineinhalb Jahren führte das zur Doppelspitze bestehend aus Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow. Letztere trat im Frühjahr 2022 als Vorsitzende zurück. Sie hatte als Ko-Chefin keine glückliche Figur abgegeben: in öffentlichen Auftritten kam sie nur bedingt kompetent, dafür aber eher unsympathisch rüber. Außerdem versuchte sie mit dem Brecheisen die Partei auf Regierungskurs zu trimmen, was möglicherweise sogar Anhängern von rot-grün-rot etwas zu plump war.
Janine Wissler hingegen kandidiert nun erneut als Vorsitzende. Ihre Bilanz aus eineinhalb Jahren an der Spitze ist mehr als durchwachsen. Als Spitzenkandidatin und Parteivorsitzende, die in etlichen Wahlsendungen auftrat, lastet das katastrophale Bundestagswahlergebnis (4,9%) auch auf ihr. Trotz ihrer Erfahrung von 12 Jahren als Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag, wo sie unbestreitbar gute Arbeit geleistet hat, und langjähriges Mitglied des Parteivorstandes, strahlt sie nicht wirklich Führungsstärke aus. In einem vor Kurzem von Ihr veröffentlichtem Papier benennt Wissler als Hauptgrund für das schlechte Abschneiden bei der Bundestagswahl die Vielstimmigkeit der Partei in der Öffentlichkeit [zur Vielstimmigkeit habe ich hier im ersten Teil etwas geschrieben]. Die Frage, ob nicht vielleicht auch die Partei-Strategie der letzten Jahre, sich auf die urbanen akademischen Mittelschichten zu konzentrieren, eine Rolle für das Ergebnis gespielt haben könnte, stellt Wissler leider nicht. Angesichts der existenzbedrohenden Lage, in der sich die Partei befindet, ist es erstaunlich, dass solche Fragen nicht selbstkritisch verhandelt werden. Verwundernd ist darüber hinaus, dass Wissler in ihrem Papier zwar den pluralen Charakter ihrer Partei betont, aber das Bündnis aus Linksliberalen, Bewegungslinken dennoch für alle (!) wichtigen Positionen im Parteivorstand Kandidaten ins Rennen schickt. Das sieht eher nach Durchziehen, denn nach Pluralismus aus.
Die aussichtsreichste Gegenkandidatin zu Wissler ist die niedersächsische Landesvorsitzende und seit letztem Jahr Bundestagsabgeordnete Heidi Reichinneck. Die 34-Jährige kommt ursprünglich aus Ostdeutschland, lebt aber in Osnabrück. Im Bundestag ist Reichinneck für Jugend-, Familien-, und Frauenpolitik zuständig. Auf ihrer Bewerbungswebsite erwähnt sie, dass die LINKE eine Nichtwählerstrategie benötige – auch weil dies eine Klassenfrage sei. Einem Lager in der Partei ist Reichinneck nicht wirklich zuzuordnen. Sie tritt betont integrativ auf und möchte, dass alle eingebunden werden.
Einer der beiden aussichtsreichen männlichen Bewerber für den Parteivorsitz ist Martin Schirdewan. Der 46-Jährige promovierte Politikwissenschaftler ist seit 2019 Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Europaparlament und tritt im Team mit Wissler an. Er war der Ko-Spitzenkandidat der LINKEN bei der 2019er Europawahl, bei der die Partei nur noch 5,5 Prozent erringen konnte. Politisch ist er irgendwo zwischen den Linksliberalen und dem Ramelow-Umfeld einzuordnen und äußerte sich dahingehend, eine „programmatische Erneuerung“ anzustreben. Mit dergleichen Aussagen versuchte beispielsweise schon Susanne Hennig-Wellsow darauf hinzuwirken, dass sich DIE LINKE ein neues Parteiprogramm gibt. Das 2011 in Erfurt beschlossene Programm ist dezidiert friedenspolitisch ausgerichtet und definiert klare Bedingungen für Regierungsbeteiligungen (zum Beispiel: keine Privatisierungen, keinen Sozialabbau und keine Verschlechterung des öffentlichem Dienstes etc.).
Neben Schirdewan kandidiert der Leipziger Abgeordnete Sören Pellmann. Der studierte Grund- und Förderschullehrer ist einer der Retter der LINKEN. Nur weil Pellmann das dritte Direktmandat für die Partei knapp gewann (die anderen beiden gewannen die Platzhirsche Gesine Lötzsch und Gregor Gysi in Berlin), gibt es überhaupt noch die Bundestagsfraktion der LINKEN. Dabei zeichnet sich Pellmanns Wahlkreis sowohl durch hippe Innenstadtviertel als auch Plattenbauten aus. Mit dieser Erfahrung könnte es ihm gelingen, eine ehrliche Synthese der strategischen Streitpunkte in der Partei zu erreichen. Zudem steht er für eine konsequente Friedenspolitik, weswegen der Spiegel ihm sogleich einen gehässigen Artikel widmete. Pellmann unterstreicht die Bedeutung der Verankerung vor Ort und kommt auch sonst sehr bodenständig rüber. Vielleicht könnte er – wie einst etwa Jeremy Corbyn – gerade wegen seiner großen Authentizität der LINKEN eine Zukunft bieten?
Einige Mitglieder hatten erwartet, dass Benjamin-Immanuel Hoff für den Vorsitz oder zumindest als stellvertretener Vorsitzender kandidieren würde. Hoff – Leiter der Staatskanzlei in Thüringen, rechte Hand von Bodo Ramelow und rechter Rand der LINKEN – hatte sich zwischenzeitlich selbst ins Gespräch gebracht und war Teil des Wissler-Teams, dann ruderte er aber zurück. Ganz ohne Hoff oder Ramelow selbst wird der Parteitag aber nicht vorübergehen. Da die Versammlung in Erfurt stattfindet, ist damit zu rechnen, dass Ramelow ein Grußwort halten wird. Rechnen kann man dabei wohl, dass er versuchen wird, die Delegierten weiter auf Anpassungslinie zu trimmen. Der Thüringer Ministerpräsident ist auf dem Papier zwar ein Mitglied der LINKEN, fällt aber höchst selten als Linker auf. Kürzlich widersprach er, dass die Nato zumindest eine Mitschuld am Krieg Russlands in der Ukraine trage. Damit positioniert sich der gläubige Christ Ramelow rechts vom Papst.
Apropos Ukraine: natürlich wird auch der russische Krieg dort eine Rolle auf dem Parteitag spielen. Ein Leitantrag des Parteivorstands hierzu liegt vor, der sich – wie Ramelow – zur Vorgeschichte und Mitverantwortung der Nato durch deren Osterweiterung ausschweigt. Dass diese argumentative Leerstelle unter einer Parteivorsitzenden Wissler so kommen würde, hätten wohl viele noch vor einem Jahr nicht erwartet. Außerdem lagen etliche Änderungsanträge zu diesem und zwei weiteren Leitanträgen vor. Auch komplette Ersetzungsanträge wurden eingereicht. Diese Flut an Änderungswünschen ist ein möglicherweise Indiz dafür, wie zerrissen DIE LINKE ist zwischen Anpassung an den liberalen Mainstream und Bewahrung ihrer Prinzipien. Und so ist es denn auch für viele Parteimitglieder selbst komplett unklar, was bei diesem Parteitag rauskommen wird und ob die Partei den negativen Trend wird umkehren können.