Horst D. Deckert

Nicht der Frieden sondern die Kriegslogik fällt aus der Zeit

Der offiziellen Darstellung von Russland als machthungrigem Imperium, das zuschlägt, wenn es die Gelegenheit durch westliches Zaudern hat, stellt ein aktuelles Papier der Initiative “Friedensratschlag” eine andere Position entgegen – demnach sei der Krieg Russlands auch eine Antwort auf die von der Friedensbewegung seit langem kritisierte NATO-Osterweiterung und westliche Aufrüstungs- und Konfrontationspolitik, von der sich Russland zunehmend existenziell bedroht gefühlt habe. Tragisch sei, dass auch die LINKE nun Abstand von Positionen der Friedensbewegung nehme. Von Bernhard Trautvetter.

Die Friedensbewegung und der Pazifismus stehen wieder einmal unter dem Generalverdacht, eine „fünfte Kolonne Moskaus“ zu sein. Führende Ampel-Politiker verunglimpfen sie als Kräfte, die den Ukrainer ins Gesicht spucken. Dahinter steckt die Theorie, dass nur Militär zum Frieden führen kann und Forderungen nach Diplomatie aus der Zeit gefallen sind. Ihnen wird unterstellt, dass sie verkennen, dass Russland eine imperiale Politik verfolge, etwa um den Machtbereich wie in der Zarenzeit und während der sowjetischen Herrschaft auszudehnen. Deshalb müsse ja auch Deutschland jetzt mit der sprunghaft ausgedehnten Hochrüstung die Verteidigungskraft seiner Armee steigern.

Mit der NATO-Sicht auf den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands rechtfertigen die Ampel-Regierung, die CDU/CSU, Strategen und Rüstungsindustrie sogar die Atomrüstung:

Der Krieg in der Ukraine zwingt die NATO zu mutigen Veränderungen sowie zu neuen Überlegungen zur … der gesamten an Russland angrenzenden Region. Sollte es Kiew nicht gelingen, die Besatzer zumindest aus den seit dem 24. Februar eroberten Gebieten zu vertreiben, könnte Moskau bald über einen weiteren Schritt nachdenken. … Dann könnte es einem NATO-Mitgliedsstaat an den Kragen gehen. Es müssen nicht nur die NATO-Truppen aufgestockt, sondern auch modernste Waffen an die Ostflanke verlegt werden. Auch Atomwaffen sollten kein Tabu mehr sein .“

Tragisch ist, dass auch die Linkspartei als die bis vor kurzem letzte parlamentarische Kraft Abstand von Positionen der Friedensbewegung nimmt, indem sie das Narrativ der NATO-affinen Kräfte von imperialen Motiven Russlands für seinen Überfall in ihrem Beschluss auf dem Erfurter Parteitag übernimmt. Diese etwas verklausulierte Übernahme des entscheidenden Arguments der Militärs ergibt sich daraus, dass der Beschluss des kürzlich zu Ende gegangenen Erfurter Parteitags die Vorgeschichte – anders als die Analyse des Friedensratschlags – ausblendet. Mit dieser Anpassung an das Nachrichtenmanagement der Mainstream-Medien schwächt die Linkspartei ihren argumentativen Bezugsrahmen für die Kritik an der Eskalationspolitik der NATO ab. Das findet im Kontext mit weiteren Aufweichungen von Friedenspositionen in den Kräften statt, die bisher friedenspolitisch aktiv waren und dies teils noch sind.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat genau dazu ein Papier veröffentlicht, das der Militarisierung der Weltpolitik die Sicht auf die Entwicklungen und Gefahren entgegenhält. Das Positionspapier geht laut seinem Titel auf NATO und Russland im Kontext mit dem Ukraine-Krieg ein. Es ist kein historisch hergeleitetes Grundlagenpapier der Friedensbewegung zu den Gefahren der gegenwärtigen Epoche und der dem Kapitalismus innewohnenden Konkurrenz und Krisenhaftigkeit als Kriegsursache. Zwar werden die vielen Kriege, die weltweit in den Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges stattgefunden haben und stattfinden, eingangs kurz erwähnt, dann aber befasst sich das Papier konzentriert mit den Narrativen der NATO und ihrer Unterstützer, um den Bewegungsspektren und den engagierten Friedenskräften Argumente zu Verfügung zu stellen, die der Manipulation durch Fakten die Wirksamkeit der Gehirnwäsche nimmt.

Dem Narrativ vom machthungrigen Imperium, das zuschlägt, wenn es die Gelegenheit durch westliches Zaudern hat, stellt das Papier des Friedensratschlags diese Darstellung entgegen:

Tatsächlich ist der Krieg Russlands eine Antwort auf die von der Friedensbewegung seit langem kritisierte NATO-Osterweiterung und westliche Aufrüstungs- und Konfrontationspolitik, von der sich Russland zunehmend existenziell bedroht fühlt. Sie begann bereits in den 1990er Jahren mit der Ausweitung der NATO … entgegen rechtlich bindender Vereinbarungen wie dem Vertrag zur Deutschen Einheit, in der zukünftigen Friedensordnung die Sicherheitsinteressen eines jeden beidseitig zu berücksichtigen.

Die Ostexpansion ging einher mit der Missachtung und Kündigung von Abkommen zur Rüstungs- und Stationierungskontrolle durch die USA und NATO, und wurde von einer Reihe Farb-Revolutionen in ehemaligen Sowjetrepubliken begleitet, in denen … Regierungen mit westlicher Unterstützung gestürzt wurden.

Ein solcher Staatsstreich ging zum Beispiel der Krim-Krise 2014 in Kiew voraus, als die damalige Janukowitsch-Regierung unter Bruch der Verfassung gestürzt und nach diesem Rechtsbruch durch eine pro-westliche sogenannte Übergangsregierung abgelöst wurde. Das Papier des Friedensratschlages erwähnt, dass die pro-westliche Regierung nach dem illegalen Staatsstreich in Kiew das von ihr mit ausgehandelte Minsker Abkommen zum Abbau der Spannungen im Land wiederholt verletzte.

Die Gefährlichkeit der Politik der Ukraine seither verdeutlicht das Papier mit seiner Kritik daran, dass die Kiewer Regierung das von ihr mit unterzeichnete Abkommen Minsk II zur Befriedung des Konfliktes in der Ost-Ukraine nicht umgesetzt, sondern unterlaufen hat:

Obwohl die ukrainische Regierung das völkerrechtlich bindende Abkommen Minsk II unterschrieben hatte, das einen besonderen Autonomiestatus für die abtrünnigen Provinzen innerhalb der Ukraine vorsah, boykottierte sie die Umsetzung – mit westlicher Duldung und Unterstützung. Die ukrainische Armee wurde fortan von den USA und Großbritannien massiv aufgerüstet und nach NATO-Standard ausgebildet.“

Die NATO-Strategie als Faktor, der die Spannungen gegenüber Russland eskalierte, kritisiert der Bundesausschuss Friedensratschlag faktenreich:

Bedrohlich sind bereits die NATO-Truppen im Baltikum, von wo aus St. Petersburg schon mit Kurzstreckenraketen erreicht werden kann. Mit der Ukraine würde die NATO an eine weitere, 2000 km lange direkte Grenze zu Russland vorrücken. Die Vorwarnzeit für Enthauptungsschläge auf russische Zentren würde durch dort stationierte Mittelstreckenraketen auf wenige Minuten sinken, während der potentielle Angreifer USA aus 10.000 Kilometer Entfernung vom Kriegsgeschehen agieren kann.

Am 10. November 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine eine neue, offensiv gegen Russland gerichtete Charta der strategischen Partnerschaft, die u.a. den NATO-Beitritt der Ukraine und die Rückeroberung der Krim als Ziel formuliert. Diese Charta überzeugte Russland davon, so Henri Guaino, führender Berater Nicolas Sarkozy in dessen Zeit als französischer Präsident, dass es angreifen muss oder angegriffen wird.

Der Friedensratschlag stellt der Theorie vom russischen Machthunger als Kriegsgrund die Schritte der russischen und der NATO/-US-Seite vor dem 24.2. entgegen. Das NATO-Nachrichtenmanagement geht in der Berichterstattung auf den Kriegsausbruch zurück, ohne eine Idee darauf zu verschwenden, was im Vorfeld geschehen war:

Moskau unternahm im Dezember 2021 einen letzten Versuch, die Bedrohungslage durch vertragliche Vereinbarungen zu entspannen.“

Es ging um Sicherheitsgarantien im Sinne einer Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit für jeden Staat. Diese russischen Forderungen, so der Friedensratschlag, „wurden aber von den USA und der NATO Anfang Februar brüsk und ohne jegliche Diskussion darüber abgelehnt.“ Zudem verweist das Papier auf die Ankündigung von Wolodymyr Selenskyj, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf der Agenda der nächsten NATO-Gipfels in Madrid stehe. Experten „wie der Politologe Robert Wade von der London School of Economics, vermuten, dass diese Rede der letzte Anlass für das Umschwenken der russischen Führung auf einen Kriegskurs gewesen sei“. Wer auf eine nachhaltige Lösung des Krieges drängt, muss die Analyse auf der Vorgeschichte der Genesis des Konflikts aufbauen, um eine nachhaltige Befriedung und damit Frieden zu ermöglichen. Der Friedensratschlag formuliert dazu:

Bei der Erläuterung der Gründe geht es nicht um eine Rechtfertigung des Krieges, sondern darum, seine Hintergründe und seine Entstehung möglichst genau aufzuzeigen.“

Genau das blendet die NATO-affine Meinungsmache aus. Sie ist offensichtlich an einer Eskalation statt an Diplomatie interessiert. Der Bundesausschuss wendet sich gegen doppelte Standards, wenn er der selektiven Meinungsmache der NATO-affinen Kräfte auf einem rückhaltlosen Blick in alle Weltregionen beharrt und Diplomatie statt Krieg (Sieg) für eine nachhaltige Lösung einfordert:

Krieg als Mittel der Politik lehnen wir grundsätzlich ab. …. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist daher ein Rückschlag für alle, die sich für Frieden engagiert haben – und gleichzeitig eine Herausforderung für die Friedensbewegung, ihre Bemühungen für zivile Lösungen zu intensivieren. Nicht zu viel Entspannungspolitik ist das Problem gewesen, sondern zu wenig.

Anders als viele Akteure verweist der Friedensratschlag auch auf eine nukleare Gefahr, die nicht nur in einem drohenden Atomkrieg zwischen NATO-Staaten und Russland besteht, sondern die die die Zivilisation Europas auch ohne Nuklearschläge der Militärs bedroht:

Unkalkulierbare, existenzielle Risiken für ganz Europa bergen zudem auch die 15 Atomreaktoren, die in der Ukraine am Netz sind.“

Die Zukunftsgefährdungen, die die Zivilisation bedrohen, erheben eine globale Kooperation zum Erfordernis für die Menschheit. Mit Abschreckung, Hochrüstung und Spannungseskalation, mit Wirtschaftskrieg, Rivalität und Sanktionen finden die Staaten der Welt keinem Ausweg aus dem bedrohlichen Mix aus ökologischen, sozialen und militärischen Zukunftsgefährdungen:

Selbst wenn sich ein neuer Kalter Krieg anbahnt, wird der Dialog noch wichtiger sein als während des Kalten Krieges 1.0. In einer stärker voneinander abhängigen und globalisierten Welt wird der Westen zumindest ein gewisses Maß an pragmatischer Zusammenarbeit mit Moskau benötigen, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen, z. B. Verhandlungen über die Rüstungskontrolle, die Eindämmung des Klimawandels, die Verwaltung der Cybersphäre und die Förderung der globalen Gesundheit. Zu diesem Zweck ist eine rasche Beendigung des Krieges durch einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung bei weitem besser als ein Krieg, der sich in die Länge zieht, oder ein neuer eingefrorener Konflikt, der in einer feindlichen Pattsituation endet.

Ein erster Schritt für die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und Deutschland als Unterzeichnerstaaten des Vertrages zur Deutschen Einheit von 1990 muss es sein, sich, wie die Präambel des Vertrages es festschreibt, für eine Friedensordnung einzusetzen, die die Sicherheitsinteressen eines jeden berücksichtig. Dieses unmittelbare Erfordernis ermöglicht es der Menschheit über die 20er Jahre unseres Jahrhunderts hinaus, zu einer Gesellschaft zu finden, die statt auf Konkurrenz auf Kooperation setzt und dadurch Zukunftsfähigkeit erlangt. Diese nachkapitalistische Ordnung in den Staaten und dann auch auf der internationalen Ebene kann nur dann entstehen, wenn kurzfristig Abrüstung und Friedenspolitik die fälschlicherweise Sicherheitspolitik genannte Politik der Militärs ablösen. Der Friedensratschlag beendet sein Papier mit diesen Worten dazu:

Aufrüstung und Kriegspolitik stehen im Gegensatz zur solidarischen Kultivierung der Gesellschaft. Gegen 100 Milliarden mehr für die Bundeswehr und die weitere Erhöhung der Rüstungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung (pro Jahr durchschnittlich ca. 80 Milliarden Euro), engagieren wir uns verstärkt für eine neue Entspannungspolitik und massive öffentliche Investitionen in eine humane Zukunft – jetzt erst recht.

– Ohne Quellenangabe zitierte Textstellen entstammen dem Papier des Friedensratschlags. –

Titelbild: Pixel-Shot/shutterstock.com

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