Horst D. Deckert

“Sowas spielen wir nicht mehr”: Die Ärzte werden zu Cancel-Punks

Im Stile der neuen Kulturrevolution schreiten Selbstzensur, Selbstkasteiung und öffentliche Schuldeingeständnisse in Deutschland rapider voran, als es sich selbst die Veteranen der einstigen K-Gruppen nie erträumt hätten. „Selbstkritik” und Distanzierung von früheren Äußerungen, Handlungen und Werken haben Konjunktur wie zu Zeiten von Maos Roten Garden, nur die Schandhüte und Pranger fehlen. Noch. Wo Prominente „Reue“ heucheln, weil sie früher zu Fasching Blackfacing oder kulturelle Aneignung durch aus heutiger Sicht falsche Kostüme betrieben, unschuldig Zigeunerschnitzel und Negerküsse aßen oder „rassistische“ und „sexistische“ Kunst goutierten, will keiner zurückstehen. Es gilt, die eigene Vita und Vergangenheit zu entrümpeln und Ablass zu erflehen, ehe die woke Kulturpolizei die biographischen Abgründe enttarnt.

Der Artikel von Daniel Matissek erschien zuerst auf ANSAGE!

Dieser totalitäre Trend macht selbst vor Künstlern und „Influencern“ von einst nicht halt, die ihren Aufstieg der gänzlichen Konventionslosigkeit, der rebellischen Unangepasstheit und Provokation des Establishments verdanken. So etwa die einst als „Punkband” bekannt gewordenen Ärzte, eine Kultband der Achtziger, die einst die Stimme einer subversiven Spaß- und Jugendkultur war und sich über die Jahrzehnte durch flexible Anbiederung an den vorherrschenden linken Zeitgeist populär halten konnte. Ausgerechnet diese Truppe, die nie auch nur ansatzweise im Verdacht stand, die geringste rechte Schlagseite zu haben, passt sich nun auch hochoffiziell der galoppierenden Radikalisierung der kulturmarxistischen Cancel-Culture-Linken an.

Damals Bundesprüfstelle statt woke Kulturpolizei

Als die Band nun bei einem Konzert von Fans aufgefordert wurde, ihren 80er-Jahre-Hit „Elke“ zu spielen, der jahrzehntelang zum Repertoire bei jedem Auftritt gehörte, entgegnete Frontmann Farin Urlaub, der das Lied einst selbst getextet hatte: „Nee, Leute. Elke ist fatshaming und misogyn. So was spielen wir nicht mehr, das ist letztes Jahrtausend.“ In der Tat, „fatshaming“ und „misogyn”: Auch wenn damals diese Terminologie aus dem Phrasensetzkasten der Dauerempörten niemand kannte, so war es genau das, was die bewusst mit den Grenzen des guten Geschmacks spielenden Kult-Hits der Ärzte einst ausmachte. Auch „Sweet sweet Gwendoline”,  „Claudia hat ’nen Schäferhund“ oder „Schwanz ab“  thematisierten Tabuthemen wie „Sexismus“, Sodomie und Anti-Feminismus in deftigen und radikalen Texten – und die waren, anders als es Urlaub heute darstellt, auch schon damals skandalös (und keineswegs „aktuelles Jahrtausend”).

Genau aus diesen frechen Tiefschlägen bezogen die Ärzte einen Gutteil ihrer anfänglichen Popularität; auch wenn sich damals keine woke Kulturpolizei oder mediale Aktivisten des hypermoralischen „Empöriums” für die Inhalte interessierte, sondern nur die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (deren Indizierung die Verkaufszahlen des Albums „Ab 18“ erst so richtig pushte) .

In dem von Farin selbst nun entrüstet verworfenen „Elke”-Song heißt es: „Wir haben uns getroffen, allein bei ihr zuhaus’ / Sie sah noch viel, viel dicker als auf dem Foto aus / Ich schloss sie in die Arme, das heißt, ich hab’s versucht / Ich stürzte in ihr Fettgewebe wie in eine Schlucht.“ Und weiter: „Sie hat zentnerschwere Schenkel, sie ist unendlich fett / Neulich hab’ ich sie bestiegen – ohne Sauerstoffgerät… Elke, die fette Elke.Diese Zeilen sind geradezu ein rücksichtsvolles Sittengemälde, verglichen mit dem frauenverachtenden Verbalrotz der heutigen Hiphop-Szene, doch da dessen migrantische Anhängerschaft selbst der linken Subkultur angehört, regt sich dort niemand darüber auf. Die voll auf Linie gebrachten Ärzte über ihre damaligen „Jugendsünden“ aber sehr wohl.

Vulgär-Dadaismus damals noch ohne Shitstorm

Natürlich kann man über das Niveau von Texten wie „Elke“ oder auch anderen frühen Ärzte-Hits streiten, und Künstler haben durchaus das Recht, sich auch von Werken zu distanzieren, mit denen sie sich nicht mehr identifizieren. Doch ganz abgesehen davon, dass sich die Ärzte wohl auch damals nicht ernsthaft mit dem inhaltlichen Vulgär-Dadaismus solcher Hits „identifiziert“ haben, besteht hier eben der Verdacht, dass mit dem von Urlaub verkündeten Selbstboykott vor allem ein Shitstorm aus dem eigenen politischen Lager vermieden werden soll.

Es geht einmal mehr um einen vorauseilenden Kotau vor einer Bewegung, die sich permanent anmaßt zu bestimmen, worüber von wem und wie gesprochen werden darf. Wie in allen totalitären Bewegungen, läuft auch in der woken Ideologie der radikale Linke von heute schon morgen Gefahr, als „Rechtsabweichler“ zu gelten, wenn ringsum nichts mehr links genug sein kann.

Es ist deshalb reichlich wohlfeil, was die in die Jahre gekommenen Ärzte hier tun: Damals brachte es für sie Ruhm, Anerkennung und jede Menge Geld, sich dem Establishment entgegenzustellen. Heute kuschen sie aus Feigheit vor dem Establishment – weil die linke Fanbase eben nicht mehr den „Untergrund” dominiert, sondern an den Schalthebeln der politischen und Meinungs-Macht angelangt ist. Allerdings ist dieses Phänomen nicht nur bei den Ärzten zu studieren. Bereits vor drei Jahren ging Marius Müller-Westernhagen auf Distanz zu seinem Kultsong „Dicke, wobei er diesen wenigstens noch mit der künstlerischen Freiheit und dem Hinweis, es habe sich „natürlich um Ironie“ gehandelt, zu verteidigen suchte.

Politisch korrekte Selbstentfremdung

Die Ärzte sind da schon einen Schritt weiter – und geben sich als geläuterte, resensibilisierte Empathiekünstler, die keiner in der Gruppensphäre herbeidefinierten Minderheit mehr zu nahe treten wollen, weshalb sie ihre Hits von früher einer gnadenlosen Selbstzensur aussetzen. Für viele ihrer Anhänger stirbt die Band damit quasi doppelt – denn die altgewordenen Ärzte kappen final die Verbindung zu ihrer junggebliebenen Musik. Diese politisch korrekte Selbstentfremdung vergällt Nostalgikern wie geistig frei gebliebenen Fans die unbeschwerte Freude beim Hören der alten Songs.

Ursprünglich ging es bei der gesamten Cancel-Culture und der aus den USA zu uns geschwappten „Affirmative Action” einmal darum, gegen die Diskriminierung von Menschen aufgrund äußerer Erscheinungen – von Hautfarbe bis Übergewicht – anzukämpfen. Dieser Ansatz der Einforderung von Respekt und Akzeptanz, im Kern aller Ehren wert, ist völlig entartet; an seine Stelle trat ein Zwang zur Glorifizierung, die Einforderung, das Außergewöhnliche und Auffällige zur Normalität zu erklären – mit entsprechenden Hassattacken auf jene, die sich diesem Ideal verweigern.

Beim Thema „Fat-” oder „Bodyshaming” wird dies so deutlich wie nirgends sonst: Viele Modekonzerne werben seit langem mit teils extrem übergewichtigen Models. Damit betreiben sie jedoch weniger die Förderung von Toleranz als vielmehr eine gefährliche Pseudoästhetisierung von Menschen, die oftmals nicht unverschuldet, sondern durch einen maßlosen Lebensstil unter Herzkreislaufkrankheiten, Diabetes oder Bluthochdruck leiden. Starkes Übergewicht wird damit als normal, ungefährlich und sogar als mutiger Ausdruck von Persönlichkeiten propagiert, die den Mut haben, bewusst gegen konventionelle Schönheitsideale zu verstoßen.

Selbstzensur als Todesstoß für die Kunstfreiheit

Auch der neue Modebegriff „Misogynie“ beschränkt sich nicht mehr darauf, die Verachtung von Frauen zu beschreiben, sondern wird missbraucht, um jegliche Kritik an Frauen als „Frauenfeindlichkeit” zu brandmarken – so wie jede kritische Auseinandersetzung mit Worten und Taten von „Person of Colour“ als „Rassismus“ gilt. Unter diesen Etiketten macht man es heute nicht mehr.  

Auch hier wird jede sachliche Auseinandersetzung durch die Schaffung künstlicher Totschlagbegriffe verunmöglicht. Solche Bewegungen können gar nicht anders, als sich über kurz oder lang zu kannibalisieren, weil der Radikalste immer „Recht“ hat – aber nur so lange, bis noch Radikalere auftreten. Dies führt jedoch zum Todesstoß für die Kunstfreiheit, weil niemand wissen kann, welche Worte oder Verhaltensweisen demnächst auf dem Index stehen. Über das Stadium des „Wehret den Anfängen“ ist man aber schon lange hinaus, wie unzählige Beispiele der jüngsten Vergangenheit zeigen.

Die Hyperpolitisierung, der zwanghafte Wahn, alles hoch aufzuhängen, mit Vorbehalten, Hinweisschildern und Warnhinweisen zu versehen, wie etwas missverstanden werden könnte oder eigentlich gemeint war, führen nun dazu, dass eine Unkultur der Ausmerzung einsetzt. Bei den neuen Bücherverbrennungen überantworten die Autoren ihre Werke selbst den Flammen.

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