Wie fast nach jeder Wahl ließen die politischen Kommentatoren auch im Nachgang der Niedersachsenwahl mal wieder ihre altbekannten Empörungsrituale vom Stapel. Der Wähler habe mit überwältigender Mehrheit den demokratischen Parteien der Mitte seine Stimme gegeben; einzig der Erfolg der AfD gebe Anlass zur Sorge. Letzteres mag so sein. Aber nicht nur die AfD, sondern auch die Grünen haben ihre Sitze im Leineschloss verdoppelt. Warum gibt der Erfolg der Kriegstreiberpartei, die wie keine andere für Hochrüstung und eine aggressive Außen- und Kriegspolitik steht, eigentlich keinen Anlass zur Sorge? Die Fremdenfeindlichkeit und die reaktionären Wertevorstellungen der AfD sind schlimm. Aber ist eine Politik, die auf einen nuklearen Holocaust in Europa zusteuert, nicht sogar noch schlimmer? Ein Kommentar von Jens Berger.
Wer bei den letzten Bundestagswahlen sein Kreuz bei den Grünen gemacht hat, mag sich durchaus noch vom grünen Programm verleiten lassen haben. Schließlich haben die Grünen so sehr wie keine andere Partei die Klimapolitik als zentralen programmatischen Schwerpunkt gewählt, der sich wie ein roter Faden durch das komplette Wahlprogramm zog. Vielen Menschen ist dieser Punkt wichtig. Vielen Menschen sind aber auch Abrüstung, Frieden und eine harmonische Außenpolitik wichtig. Wer zur letzteren Gruppe oder auch beiden Gruppen gehört, muss jedoch spätestens seit den olivgrünen Exzessen rund um den Ukraine-Krieg in Fundamentalopposition zu den Grünen gehen und kann demzufolge diese Partei nicht wählen. Heute sind Grünen-Wähler keine Mitläufer, sondern Mittäter.
Wer die AfD wählt, stimmt, so ist es zumindest Konsens unter den Leitartiklern, auch jeder rassistischen, antisemitischen und chauvinistischen Aussage von AfD-Politikern wie Björn Höcke oder dem mittlerweile ausgeschlossenen Andreas Kalbitz zu. Das lassen wir mal so stehen. Wenn man diesen hohen Anspruch an AfD-Wähler anlegt, müsste man jedoch im Umkehrschluss auch davon ausgehen, dass jeder Grünen-Wähler jeder rassistischen, bellizistischen und imperialistischen Aussage von Grünen-Politikern wie Anton Hofreiter und Annalena Baerbock zustimmt. Schließlich haben Grünen-Wähler ja im Parteien-Vergleich die höchsten Bildungsabschlüsse und sollten intellektuell begreifen, wem und was sie da ihre Stimme geben.
Denkt man dies konsequent zu Ende, dann haben rund 530.000 Niedersachen am Sonntag eine Partei gewählt, die auf volle Konfrontation mit Russland setzt und dabei einen heißen Krieg gegen das Land mit den meisten Atomwaffen zumindest billigend in Kauf nimmt. Als Niedersachse finde ich diese Erkenntnis hochgradig schockierend! Und ich hätte mir gewünscht – nein, ich hätte es erwartet -, dass dies in der medialen Berichterstattung auch zumindest im Ansatz so kommuniziert worden wäre. Stattdessen allenthalben Freude über das stabile Abschneiden der „demokratischen Mitte“, zu der man paradoxerweise die Grünen zählen, und wohlfeiles Gejammer über den demnach ja nicht demokratischen AfD-Erfolg.
Es ist schon paradox. Bei diesen Landtagswahlen trat die AfD als einzige Partei an, die die Position der Bundesregierung in Sachen Ukraine-Krieg und Russland-Sanktionen im Kern kritisiert hat. Auch wenn man die AfD für vieles kritisieren muss, sollte man dies zumindest zur Kenntnis nehmen und den Wählern nicht ihre demokratische Gesinnung absprechen. Wie glaubwürdig friedenspolitische Bekenntnisse einer in weiten Teilen nationalchauvinistischen Partei sein können, lassen wir mal dahingestellt. Fest steht jedoch auch, dass keine andere Partei – auch die Linkspartei nicht – in dieser existenziellen Frage eine progressive friedenspolitische Antwort liefert und die AfD damit ein Alleinstellungsmerkmal hat. Dafür kann aber die AfD nichts, das ist Schuld der anderen Parteien. Die Stimmgewinne der AfD sind also sicherlich zum großen Teil auch dem nahezu vollständigen friedenspolitischen Profilverlust der SPD und der Linkspartei zu verdanken.
Wenn Menschen aus den richtigen Gründen die falsche Partei wählen, ist das tragisch, aber sicher kein Schock. Ein Schock ist es jedoch, dass fast jeder elfte Wahlberechtigte in Niedersachsen vorsätzlich und mit vollem Wissen eine Partei gewählt hat, die für den Krieg steht und deren Politik in einem dritten Weltkrieg münden kann. Und so – und nur so – sollte man das Wahlergebnis auch interpretieren.
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