Hat die in der Silvesternacht aufbrechende Gewalt etwas mit der Entwicklung unserer Medien und insbesondere des Fernsehens zu tun? Das ist eine alte Frage, eine immer wieder gestellte Frage. Grob skizziert gibt es dazu zwei Positionen. Zum einen: Gewaltdarstellung führt nicht zu verstärkter Gewaltbereitschaf, eher wird sie abgebaut. Zum anderen: die Inflation der Gewalt im Fernsehen hat Auswirkungen. Diese Position ist weiter unten formuliert; ich halte sie für schlüssiger. Dessen ungeachtet sind in der Vergangenheit politische und medienpolitische Entscheidungen getroffen worden, deren Folgen wir heute jeden Tag besichtigen können. Albrecht Müller
Die Fernsehprogramme sind heute voller Gewaltdarstellungen. Ein Krimi folgt dem anderen – manchmal in einem Programm zwei am Abend. Außerdem nimmt die bewundernde Darstellung militärischer Gewalt spürbar zu. Gestern Abend zum Beispiel in der Tagesschau. In den ersten 5 Minuten nackte Bewunderung für einen Panzer mit entsprechender spannender Darstellung seiner Wendigkeit, eindrucksvoll für jedes kindliche Gemüt und verbunden mit dem Plädoyer, dieses „Marder“ genannte Gerät militärischer Gewalt schnellstens an die Ukraine zu liefern und nicht auf Putins Vorschlag für eine Waffenruhe einzugehen. – Dann folgte knappe zwei Stunden später zu Beginn des ZDF-Heute Journals eine noch längere Verherrlichung dieses Kriegsgeräts und damit militärischer Gewalt. Acht-minutenlang und ebenfalls beginnend mit der spannenden Darstellung dieses Panzertyps. – Gibt es noch eine extremere Form der Darstellung militärischer Gewalt? Und dann noch verstärkt mit einem langen Interview mit einem sogenannten Experten, einem Professor der Bundeswehr Hochschule München, selbstverständlich ein Plädoyer für die Lieferung dieses militärischen Geräts.
So war das nicht nur gestern. Diese spielerische Bewunderung militärischer Gewalt ist in unseren Hauptmedien üblich geworden, übrigens auch im Hörfunk. Gerade schrieb ein Nachdenkseiten-Leser: „Der Deutschlandfunk hat heute Nacht und heute morgen drei Interviews mit Personen geführt, die die Panzerlieferungen (“Marder”) befürworten.“
Wir werden unentwegt mit der Bewunderung und Förderung militärischer Gewalt berieselt.
Wenn wir Panzer bewundern und zum Einsatz schicken, warum sollte dann nicht auch der Einsatz von Silvester-Kanonen möglich sein, notfalls auch im Einsatz gegen Polizei und Feuerwehrleute?! Die elementare Gewaltbereitschaft Berliner Jugendlicher ist sozusagen Ausdruck und Spiegelbild des gesellschaftlichen Gesamtkunstwerks. Wer diese Zusammenhänge bezweifeln will, möge das tun. Ich sehe das anders.
1984 gab es eine Art Urknall für die totale Fernseh- und Medien-Berieselung von der Art, wie wir sie heute erleben: die Vermehrung der Fernsehprogramme und ihre Kommerzialisierung. Das wurde damals nach einem sechsjährigen Streit zwischen SPD einerseits und CDU/CSU andererseits so entschieden. 1978 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sich geweigert, den gedankenlosen Forderungen seines Fernmeldeministers Gscheidle und dem Begehren der CDU/CSU Ministerpräsidenten nach mehreren 100 Millionen zur Erweiterung der Fernsehkanäle zuzustimmen. Diese Weigerung hat er bis zum Ende seiner Kanzlerschaft im September 1982 durchgehalten. 1984 dann hat die neue Bundesregierung mit Helmut Kohl und seinem Fernmeldeminister Schwarz-Schilling die Programmvermehrung und damit verbunden die Kommerzialisierung des Fernsehens durchgesetzt. Parallel dazu lief die Vermehrung der Präsenz vor dem Bildschirm über das Internet. Beim damaligen Streit lag die tägliche Fernsehen-Nutzungsdauer im Durchschnitt bei ca. 2 Stunden. 2021 waren es etwas über fünfeinhalb Stunden – sonstige Bildschirmnutzungszeit nicht eingerechnet.
Was uns heute in die Wohnzimmer geschickt wird, ist also nicht vom Himmel gefallen. Es ist menschengemacht – in Kenntnis der Gefahren und im Interesse großer und mächtiger Unternehmen.
In der Debatte über Fernsehnutzung und Kommerzialisierung zwischen 1978 und 1982 spielte die Sorge um die Gewaltdarstellungen und ihre Wirkung eine bemerkenswerte Rolle. Beleg dafür ist die Einlassung des damaligen Bundeskanzlers in seinem „Plädoyer für einen Fernsehfreien Tag“ in der Wochenzeitung Die Zeit vom 28. Mai 1978. Dort gibt es einen Abschnitt 5.c zum Thema Gewalt. Ich zitiere:
c) Fernsehen und Gewalt
Ein besonderes Problem ist die Fülle von Gewaltdarstellungen im Fernsehen, die auch bereits zu Sendezeiten gezeigt werden, zu denen noch Kinder jeglichen Alters vor dem Apparat sitzen. Dieses heftig diskutierte Thema hat zwar unmittelbar mit dem der mangelnden Kommunikation nur wenig zu tun, es gehört aber in den weiteren Zusammenhang unserer Fragen nach der Wirkung des Fernsehens. Die Frage nach der direkten Wirkung von Gewalt auf dem Fernsehschirm ist in der pädagogischen und psychologischen Forschung umstritten. Es mag sein, daß die Frage, ob eine Darstellung von Gewalt brutales Verhalten fördern kann, in dieser Form zu einfach gestellt ist. Die überzogene Katastrophen- und Gewaltdarstellung ist auch keinesfalls nur ein Problem des Fernsehens. Alle Medien, gerade bestimmte Formen der Tagespresse, sind in Gefahr, Gewaltsituationen zu übertreiben oder reißerisch darzustellen. Trotzdem meine ich: Es gibt im Fernsehen Nachlässigkeiten gegenüber dem Gewaltproblem. Sie reichen von der Tagesschau bis tief in die Unterhaltungssendungen. Die häufige Vorspiegelung, Konflikte seien besonders einfach mit Gewalt zu lösen, muß eine verheerende Auswirkung auf die politische Struktur einer Demokratie haben. Demokratie muß Konflikte mit den ihr eigenen Möglichkeiten und Methoden lösen können. Das Schwarz-Weiß-Schema von Gewaltlösungen darf nicht zu einem Vorbild für unsere Gesellschaft werden.