Horst D. Deckert

Unstatistik: «Der Impfstoff ist zu 90 Prozent wirksam»

Die gute Nachricht des Monats [November] kam von BioNTech und Pfizer mit dem vorläufigen Ergebnis, dass ihr Impfstoff gegen Covid-19 „zu 90 Prozent wirksam“ sei. Inzwischen haben BioNTech und andere Hersteller berichtet, dass Impfstoffe gar zu 95 Prozent wirksam seien. Das sind alles erfreuliche Ergebnisse. Aber was bedeutet „zu 90 Prozent wirksam“?



Das würde bedeuten, wenn man alle 83 Millionen Deutschen impft, dann sind davon 90 Prozent geschützt; nur die restlichen 8,3 Millionen können sich anstecken. Das wären aber immer noch weit mehr Infizierte als es bisher der Fall ist. Also kann das nicht gemeint sein.

Die 90 Prozent beziehen sich nicht auf die Gruppe der Geimpften, sondern auf jene der Infizierten. …

Im Studienprotokoll von Pfizer findet man die Definition der Wirksamkeit: Hierzu wird der Anteil der Covid-19-Fälle in der Impfgruppe dividiert durch den Anteil der Covid-19-Fälle in der Kontrollgruppe. Dieser Wert wird von 1 abgezogen und mit hundert multipliziert, so dass man es bequem in Prozenten ausdrücken kann. Daraus folgt, es muss in der Impfgruppe 8 Fälle und in der Placebogruppe etwa 86 Fälle gegeben haben, was einer Reduktion von rund 90 Prozent entspricht (bei den 95 Prozent waren es dann 8 versus 162 Fälle).

Die „zu 90 Prozent wirksam“ bezieht sich also nicht auf 9 von 10 Menschen, die zur Impfung gehen, und auch nicht auf alle Teilnehmer der Studie oder alle Menschen, die sich in Deutschland impfen lassen. Sie ist eine relative Risikoreduktion, die sich auf die Zahl der Erkrankten bezieht, aber keine absolute Reduktion, die sich auf alle Geimpften bezieht.

Der Unterschied zwischen relativer und absoluter Risikoreduktion ist für viele Menschen schwer zu verstehen. Er wird vielleicht am Beispiel der Grippeschutzimpfung für Menschen zwischen 16 und 65 Jahren nochmals klarer. In einer Saison mit geringer Verbreitung des Grippevirus liegt die Wirksamkeit der Grippeschutzimpfung etwa bei 50 Prozent. Diese Zahl bedeutet aber nicht, dass 5 von 10 Geimpften vor der Grippe geschützt sind. Sie bedeutet, dass von je 100 Personen ohne Impfung zwei eine bestätigte Influenzainfektion bekamen, und von je 100 Personen mit Impfung nur eine (s. dazu auch die Informationen des Harding-Zentrum für Risikokompetenz).

Es ist auch wichtig zu verstehen, dass sich die von BioNTech und Pfizer berichteten „zu 90 Prozent wirksam“ auf die Reduktion von Infektionen, nicht von schweren Erkrankungen oder gar Todesfällen bezieht. Wir können nur hoffen, dass diese Reduktion in gleichem Maße auf schwere Erkrankungen durchschlägt, aber das wird in den derzeitigen Studien nicht untersucht.


Der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Bochumer Ökonom Thomas Bauer und der Dortmunder Statistiker Walter Krämer haben im Jahr 2012 die Aktion „Unstatistik des Monats“ ins Leben gerufen und veröffentlichen seither monatlich eine Analyse einer statistischen Verwirrung. http://www.unstatistik.de/

Das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (vormals Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung) ist ein führendes Zentrum für wissenschaftliche Forschung und evidenzbasierte Politikberatung in Deutschland und Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.

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Peter Doshi, Assistenzprofessor für Pharmakologie an der University of Maryland weist in dem Meinungsbeitrag im British Medical Journal darauf hin, dass bei den Tests des Pfizer/Biontech-Vakzins insgesamt 3580 Personen erkrankten. In die Auswertung aufgenommen wurden allerdings nur 170, die mit PCR-Bestätigung an Covid-19 erkrankten. 3410, rund 20 mal mehr erkrankten bloss an «suspected Covid-19» und wurden in der Statistik nicht berücksichtigt.

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