„„Nationale Interessen“ – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“, so lautet der provokante Buchtitel einer Monografie, die 2022 von dem sozialdemokratischen Urgestein Klaus von Dohnanyi veröffentlicht wurde. Nun mag der Leser sich fragen, warum ein Linker den Titel eines Buches eines eher rechten Sozialdemokraten wohlwollend zitiert, da doch kaum Schnittmengen zwischen ihnen bestehen dürften. Die Antwort ist: Nun, weil K. Dohnanyi einfach recht hat – zumindest in großen Teilen kann ich ihm zustimmen. „Nationale Interessen“ und „Staatsräson“ sollten wir neu definieren und von links besetzen. Von Alexander Neu.
Vor 10 oder 20 Jahren hätte die Frage, warum ich als Linker K. v. Dohnanyi zitiere, eine Berechtigung gehabt, ich hätte diese Möglichkeit sicherlich weit von mir gewiesen. Aber Zeiten ändern sich: Seit einigen Jahren beobachten politisch interessierte Menschen einen immer schneller vonstatten gehenden Wandel der internationalen Ordnung. Wir durchleben multiple Krisen (Finanz-, Klima-, Sicherheits-, Repräsentations-, Flüchtlingskrise etc.), die Unsicherheiten in der Gesellschaft unseres Landes hinterlassen. Hinzu kommen die absehbare und durch die Politik zu verantwortende Deindustrialisierung Deutschlands und somit der unausweichliche Wohlstandsverlust in großen Teilen der Gesellschaft sowie das Totalversagen vieler etablierter Massenmedien, die, statt Fakten zu berichten sowie Hintergründe und Kontexte aufzuzeigen, um die Menschen aufzuklären, lieber selbst direkt Politik betreiben.
Die Gesamtheit dieser Krisen führt dazu, dass auch das herkömmliche politische Koordinatensystem von Politikern und Politikinteressierten institutionalisiert durch das Parteiensystem eine Erschütterung erfährt. Manche politische Weggefährten von gestern sind mir heute fern, manche politische Gegner von gestern werden nun zu interessanten Gesprächspartnern, alte politische Fronten brechen auf, neue Fronten entstehen vor dem Hintergrund der weltpolitischen Entwicklungen und ihrer innergesellschaftlichen Auswirkungen. Eine sehr spannende Erfahrung nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch als persönliche, ja teilweise bereichernde Erfahrung bis in mein eigenes soziales Umfeld hinein. Wo liegen nun die neuen Trennungen, die neuen Fronten? Sie liegen in der Analyse und noch viel mehr in der Deutung derselben, wohin Deutschland, wohin Europa angesichts des unaufhaltsamen Epochenbruchs, dem unaufhaltsamen Ende der seit Jahrhunderten währenden westlichen Globaldominanz sich hin entwickeln könnte und sollte. Ein Epochenbruch ist der kurze Moment zwischen zwei Epochen, der auch eine Neubewertung und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Neujustierung der „Nationalen Interessen“ und der „Staatsräson“ erforderlich macht. Denn „Nationale Interessen“ und „Staatsräson“ sollten nicht als statisch, als immer gültige Handlungsmaximen, betrachtet werden:
Zur Debatte steht also nichts weniger als eine außen-, außenwirtschafts-, sicherheits- und geopolitische Grundsatzentscheidung Deutschlands und Europas:
Sollten die Europäer sich weiterhin als transatlantisches Anhängsel in der Familie des globalen Werte-Westens verstehen, wie die Anhänger des westzentrierten Weltbildes, wonach alles so bleiben müsse, wie es ist, es vehement fordern? Oder sollte Europa ein eigenständiger, ein wahrlich souveräner Akteur gemäß den eigenen Interessen werden, wie die Aufgeschlossenen, die die Zeichen der Zeit erkennen, es empfehlen. Genau hier liegt die Trenn- und Konfliktlinie, die Linie zwischen den transatlantischen Gesinnungsethikern und den pragmatischen, nach vorne blickenden Verantwortungsethikern. Genau hier geht auch die Trennlinie durch die Parteien in Deutschland. Bislang dominieren – flankiert durch die vorwiegend transatlantisch eingestimmten Massenmedien – die Vertreter des konservativen Verständnisses, also der traditionellen transatlantischen Ausrichtung – zumindest in der SPD, der FDP, der CDU/CSU und den Grünen. Nur in der LINKEN und der AfD scheinen die Mehrheiten nicht eindeutig zu sein.
„Nationale Interessen“ und „Staatsräson“ – Begriffsklärung
Der oben zitierte Buchtitel ist deshalb provokant, da der Begriff der „Nationalen Interessen“ angesichts zweier von Deutschland zu verantwortender Weltkriege eher durchaus und zu Recht vorbelastet ist. Die Begriffe „Interessen“ und „national“ und erst recht die Kombination werden in der zeitgenössischen Politik- und Mediensprache eher mit spitzen Fingern angefasst. Das heißt nicht, dass die Berliner Republik tatsächlich keine „Nationalen Interessen“ hätte oder haben sollte, sondern nur, dass sie dieses Etikett eher meidet und die Interessen vorzugsweise mit Werten bemäntelt. Werte hört sich einfach harmloser und letztlich altruistisch an.
Gegebenenfalls vernimmt man noch den Begriff der „Staatsräson“, der sich seriöser und weniger historisch belastet anhört als „Nationale Interessen“. Das Wesen der „Staatsräson“ ist das Primat des Staatlichen und der Notwendigkeit, die Staatlichkeit um jeden Preis aufrechtzuerhalten. In diesem Verständnis steht der Staat über dem Individuum, was mit der Errungenschaft der Rechtsstaatlichkeit kollidiert und daher im innerstaatlichen Gefüge des modernen westlichen Staatsverständnisses in der Debatte nahezu keine Rolle spielt. Ganz anders jedoch auf der außenpolitischen Ebene: Im außenpolitischen Selbstverständnis Deutschlands zählt die historische Verantwortung Deutschlands für Israel ebenso zur „Staatsräson“ wie die unverbrüchliche Freundschaft und Partnerschaft mit den USA und der von ihr geführten NATO, mithin die als alternativlos betrachtete transatlantische Orientierung. Die ausschließliche transatlantische Orientierung wird von ihren deutschen Protagonisten geradezu zur Bringschuld (beispielsweise „Bündnissolidarität“) gegenüber den USA aufgeblasen.
Nachfolgend die europäische Integration und ggf. weitere Elemente. Diese Elemente der außenpolitischen „Staatsräson“ Deutschlands stehen faktisch über dem internationalen Recht, für den Fall der Kollision zwischen Recht und Interessen. Das viel strapazierte Bekenntnis zur Pflege und Verteidigung der internationalen Rechtsstaatlichkeit verkommt hierbei zu einem Lippenbekenntnis, da Verlautbarungen über die Treue zum internationalen Recht und die tatsächliche außenpolitische Praxis auseinanderfallen.
Grenzen des demokratischen Streits
Demokratietheoretisch gehören alle das Gemeinwesen betreffenden relevanten Fragen und deren erforderliche Regelungen auf den Tisch: wenn schon nicht durch Volksentscheide, so doch zumindest durch parlamentarische Beratungen – sollte man meinen. Mit Blick auf die außenpolitische „Staatsräson“ indessen ist der demokratische Entscheidungsprozess weitgehend außer Kraft gesetzt. Es gilt die exekutive Prärogative, das heißt das Vorrecht der Regierung, frei nach ihrem Gusto außenpolitische Entscheidungen zu treffen. Das prärogative Recht ist der Bundesregierung sogar durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2001 bestätigt und in weiteren Entscheidungen im Laufe der Jahre unterstrichen worden. Dieses Verständnis kollidiert jedoch bei genauer Betrachtung mit dem Prinzip der Gewaltenteilung:
Denn diese besagt, dass die Legislative – also das Parlament – die Gesetze und somit den politischen Rahmen regierungsamtlichen Handelns bestimmt und die Regierung auch kontrolliert. Gibt das Bundesverfassungsgericht bereits der Regierung einen Blankoscheck in außenpolitischen Entscheidungen, so verhindert die Bundesregierung sogar die Kontrollpflicht des Deutschen Bundestages. So werden beispielsweise häufig Fragen von Abgeordneten ausweichend und nichtssagend „beantwortet“ oder gerade in außenpolitischen Fragen ganz offen mit dem Hinweis auf das „Staatswohl“ gar nicht erst beantwortet. Was genau das „Staatswohl“ ist, entscheidet allein die Bundesregierung. Kurzum, die „Staatsräson“ setzt auch den demokratischen Entscheidungs- und Kontrollprozessen enge Grenzen. Die Inhalte der „Staatsräson“-Elemente dürfen nicht zur Diskussion gestellt werden, so das eigentümliche Demokratieverständnis – weder im Deutschen Bundestag noch durch außerparlamentarische und zivilgesellschaftliche Diskussionen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Ort, an dem diese Frage sinnigerweise hätte diskutiert werden können und müssen, nämlich der Deutsche Bundestag, in meiner Zeit das Thema der „Nationalen Interessen“ gemäß seiner Relevanz debattiert hätte. Und wenn eine solche Debatte vielleicht irgendwann mal geführt wurde, so müsste doch alle paar Jahre eine Debatte über eine eventuelle Aktualisierung der „Nationalen Interessen“ geführt werden. Das hat meiner Wahrnehmung nach so nicht stattgefunden.
Ganz offensichtlich sind die Inhalte sakrosankt, werden moralisierend sowie wertebasierend verteidigt und sodann der demokratischen Meinungsbildung innerhalb und außerhalb des Parlaments bei Strafe durch politische und mediale Ächtung entzogen. Nur Parteien, die diese „Staatsräson“ akzeptieren und aktiv tragen, sind „regierungstauglich“. DIE LINKE, beispielsweise, steckt diesbezüglich in einem Dilemma: Schluckt sie die Pille der transatlantischen „Staatsräson“, geht sie unter. Bleibt sie standhaft anti-militaristisch, lehnt die NATO ab und fordert stattdessen ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, wird sie auf absehbare Zeit auf Bundesebene nicht „regierungstauglich“ sein: So forderten beispielsweise die Grünen im Bundestagswahlkampf 2021 von der LINKEN, sich zur NATO zu bekennen als Voraussetzung einer rot-grün-roten Koalition.
Mit anderen Worten, grundlegende außen-, sicherheits- und geopolitische Fragestellungen werden der demokratischen Debatte und Entscheidung aufgrund der Einstufung als „Staatsräson“ seitens der transatlantisch geprägten politischen Entscheider und ihrer sie unterstützenden Massenmedien auf der parlamentarischen Ebene weitgehend entzogen und auf der außerparlamentarischen Ebene diffamiert.
Tabuthema NATO
Beide Begriffe, „Staatsräson“ und „Nationale Interessen“, sind inhaltlich nicht vollständig deckungsgleich, jedoch liegen sie im Bereich der Außenpolitik nahe beieinander, sodass ich in diesem Beitrag beide Begriffe auf der außenpolitischen Ebene synonym verwende. So würde ich mindestens die innere und äußere Sicherheit Deutschlands, den Frieden in Europa und der Welt, den Kampf gegen die Klimakatastrophe sowie die Aufrechterhaltung der sozialstaatlichen Errungenschaften und das Wirken der sozialen Marktwirtschaft als „Nationales Interesse“ bezeichnen. Ob aber das „Staatsräson“-Element der NATO, der transatlantischen Orientierung tatsächlich die alternativlosen Garantien für die äußere Sicherheit oder überhaupt eine Garantie für den Frieden angesichts des globalen Wandels darstellt, ist mindestens diskutabel. Genau das aber darf respektive kann nicht diskutiert werden, ohne dass das Damoklesschwert des Anti-Amerikanismus oder des Pro-Putinismus über einem schwebt.
Die Methode ist so durchsichtig, wie sie primitiv und dumm ist, aber erstaunlicherweise wirksam. Die Debatte über eine europäische Neuorientierung ist tabu – Schluss! Es gibt hier nur schwarz und weiß. Grautöne sind unerwünscht. Unerwünscht, auch weil die Argumentation der Schwarz-Weiß-Denker häufig von geringer Überzeugungsqualität ist. Und wenn man in einem Diskurs unterliegen würde, tabuisiert man ihn besser vorsorglich und stigmatisiert entsprechende Personen. Ein wunderbares Beispiel hierfür ist die Stigmatisierung von K. v. Dohnanyi durch seinen sozialdemokratischen „Parteifreund“, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth. K. v. Dohnanyi hatte es in einem Beitrag des NDR gewagt, seine vom vorherrschenden Narrativ abweichende Meinung über den Ukraine-Krieg und die Rolle der USA und Deutschlands darin zu äußern. Das kam bei M. Roth nicht gut an. Via Twitter maßregelte er K. v. Dohnanyi:
„Das ist zum Fremdschämen + (sic) und hat mit sozialdemokratischer Haltung nichts zu tun. Das ist (…) das Verharren im Einflusssphärendenken des 20. Jahrhunderts + ganz viel Antiamerikanismus“.
Das ist zum Fremdschämen+hat mit sozialdemokratischer Haltung nichts zu tun. Das ist kolonialistische Arroganz gegenüber dem Freiheitswunsch osteuropäischer Staaten, das Verharren im Einflusssphärendenken des 20. Jahrhunderts+ganz viel Antiamerikanismus. pic.twitter.com/5hKRiCEepz
— Michael Roth – das Original (@MiRo_SPD) February 26, 2023
Dass Roth Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses ist und davor Staatsminister im Auswärtigen Amt, hat, so ist zu vermuten, nicht dazu geführt, dass er sich entsprechende Kompetenzen angeeignet hätte. Denn sonst wüsste er, dass intra- und interregionale Regierungsorganisationen wie die NATO, die EU, ebenso wie die Eurasische Union, die BRICS etc. geopolitisch und -ökonomisch geprägte Formate sind, denen das Denken und Handeln in Einflusssphären geradezu konstitutiv ist. Er wüsste auch, dass die Aussage von K. v. Dohnanyi, wonach die USA den Krieg hätten verhindern können, nichts mit „Antiamerikanismus“ zu tun hat. Diese Stigmatisierung ist Ausfluss übelster Gesinnungsethik.
„Nationale Interessen“ und „Staatsräson“ neu identifizieren
Die entscheidenden Fragen für die Zukunft Deutschlands sind, und das wäre die Aufgabe linker Kräfte, ob die sogenannten „Nationalen Interessen“ respektive die außenpolitische „Staatsräson“ nicht auch mit anderen Inhalten gefüllt werden könnten als mit den klassischen Kategorien der ökonomischen und politischen Macht, der Bündnistreue und dem Unterwerfungsgestus gegenüber den USA. Denn dann bliebe Deutschland im Übrigen auch so manche Peinlichkeit erspart. Man erinnere sich nur an den Antrittsbesuch unseres Wirtschaftsministers R. Habeck in den USA: Dort erklärte er: „Je stärker Deutschland (den USA – Anmerkung Alexander Neu) dient, umso größer ist seine Rolle.“ Focus Online wusste dazu zu berichten, dass die Erklärung vom deutschen Wirtschaftsminister R. Habeck „in der US-Hauptstadt erfreut zur Kenntnis genommen“ worden sei. Ja, selbstverständlich wurden diese Unterwürfigkeit und Bücklingshaltung dort vom US-Establishment mit Freude zur Kenntnis genommen. Das kann man ihnen ja nicht einmal verübeln.
Und weiter muss die Frage debattiert werden, ob nicht dieses traditionelle Macht- und letztlich Gewaltverständnis nicht nur anachronistisch, sondern eben auch friedensgefährdend ist. Weiter, ob eine Neubestimmung der „Nationalen Interessen“ Deutschlands nicht auch eine Emanzipation von den USA bedeuten könnte, weil unsere gegenwärtigen europäischen und „Nationalen Interessen“ mit denen der USA nicht deckungsgleich sind. Ob nicht eine souveräne und den eigenen Interessen geschuldete multivektorale Außen-, Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik zukunftsfähiger für Deutschland und auch für Europa sein kann, denn als transatlantisches Anhängsel zu fungieren. Die eindimensionale Ausrichtung auf die USA, auf das transatlantische Verhältnis könnte in naher Zukunft zu einem bösen Erwachen führen, sei es, dass Europa in einen Krieg mit China genötigt wird, sei es, dass ein neuer US-Präsident vom Typus D. Trump im Weißen Haus sitzen wird und Europa den Rücken kehrt.
So wie sich Individuen weiterentwickeln, so entwickeln sich Gesellschaften und ihre Staaten weiter, so entwickelt sich die Weltpolitik weiter – Imperien kamen und gingen. Das ist schlichtweg der Lauf der Geschichte. Es geht nun darum, in dieser Umbruchszeit für Deutschland und Europa einen neuen, einen endlich souveränen Weg zu finden – aber keinen souveränen Weg, der auf Konfrontationen, Konflikte, Dominanzgebaren etc. ausgelegt ist. Es muss ein konstruktives Souveränitätsverständnis sein, das auf Gleichberechtigung, friedliche Koexistenz und die Suche des Ausgleichs mit dem übergroßen Rest der Welt ausgelegt ist.
Ein solches Verständnis von „Nationalem Interesse“, von „Staatsräson“ Deutschlands würde unser Land zu einem auch jenseits der westlichen Hemisphäre und somit tatsächlich international geachteten Akteur machen.
Denn die Welt ist mehr als nur der Westen – diese Erkenntnis mag für den einen oder anderen Zeitgenossen im politischen Berlin und den Redaktionsstuben tatsächlich eine kognitive Herausforderung darstellen.
Titelbild: shutterstock / Peter Jesche