Der Donbass ist ein Kriegsgebiet, über das die ganze Welt spricht. Aber öffentlich-rechtliche und private deutsche Fernsehanstalten mit Informationsauftrag meiden dieses Gebiet wie eine heiße Kartoffel. Seit 2014 haben ARD und ZDF keine einzige ausführliche Film-Dokumentation aus den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk gesendet, wie sie in den letzten Jahren etwa von mehreren freien Journalisten und Video-Filmern vorgelegt wurden. Wie man ohne gebühren-finanzierte Budgets Donbass-Filme machen kann, wollte Ulrich Heyden in Moskau von dem Regisseur Wilhelm Domke-Schulz wissen. Der Dokumentarist aus der Gegend um Leipzig drehte[1] in den letzten 30 Jahren Filme für MDR und ARD.
Der letzte Film von Domke-Schulz über den Bürgerkrieg in der Ukraine, „Gesichter des Donbass“, ist seit einem Monat im Netz. Er beginnt mit einer schockierenden Szene. Vera, eine 42 Jahre alte Frau mit drei Kindern, schnallt sich morgens eine Prothese an die Stelle, wo ihr Unterschenkel von einem ukrainischen Geschoss abgerissen wurde. Vera ist eine von vier Hauptpersonen in dem Film von Domke-Schulz. Die Kamera begleitet diese vier Personen durch ihren Alltag in den „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk.
„Gesichter des Donbass“ zeigt das vielschichtige Bild eines Kriegsgebietes, tieffliegende Kampfflugzeuge, Kinder, die Rosen pflanzen, und teilweise zerstörte Schulen, in denen wieder unterrichtet wird. Die Filmsequenzen sind oft nur kurz. Orte und Bilder wechseln schnell. Das ist manchmal irritierend. Einzelne Filmabschnitte vermitteln ein nervöses Gefühl, typisch für einen Krieg, wo es keine Gewissheiten gibt und sich die Lage von Sekunde zu Sekunde ändern kann.
Man sieht von ukrainischen Geschossen zerstörte Wohnhäuser und zwei junge Mädchen, die immer noch fassungslos vor den Trümmern ihres Hauses stehen. Eine hebt die Überreste eines Fensterrahmens aus dem Gras und sagt, „das war mal unseres“. Man sieht russische Panzer zu ihren Stellungen fahren und man sieht, wie im Schummerlicht eines Schützengrabens das blutige Bein eines Soldaten notdürftig verbunden wird.
Vier Hauptpersonen
Wie in einer Höllenfahrt geht es 90 Minuten durch das Kriegsgebiet. Vier Hauptpersonen erzählen, wie sie im Krieg leben. Durch sie wird der Film mit seinen immer wechselnden Episoden zusammengehalten. Diese vier Menschen zeigen, dass ein Leben im Krieg möglich ist. Es treten auf: Eine junge Dichterin aus Lugansk, die ihre Überlebensphilosophie erklärt, ein junger Opernsänger aus Frankreich, der gut Russisch spricht und den man begleitet bei seiner Arbeit in einer Musikschule und bei Auftritten in einem Konzertsaal. Außerdem treten auf: Andrej, ein Mann mittleren Alters, der humanitäre Hilfe an Bedürftige verteilt, und schließlich ein älterer Autor von Fantasy-Romanen, der erzählt, die größte Angst seines Lebens sei der Atomkrieg. Und der sei auch Thema in seinen Büchern.
Der Film bildet die kompletten acht Jahre Bürgerkrieg im Südosten der Ukraine ab. Zwei historische Schlüsselszenen werden mit eindrucksvollen Bildern dokumentiert, als auf dem Maidan ukrainische Nationalisten Polizisten mit Molotow-Cocktails in Brand steckten und als sich beim Unabhängigkeitsreferendum im Mai 2014 in Mariupol hunderte Meter lange Schlangen vor den Abstimmungslokalen bildeten.
Der Regisseur: „Sie wollten nicht Menschen zweiter Klasse sein“
Ich sah den Film von Domke-Schulz im Haus des russischen Schriftstellerverbandes in Moskau. Es war nur eine kleine Runde von Studenten der Moskauer Filmhochschule WGIK und ein paar Aktivisten der patriotischen Kulturszene zusammengekommen.
Regisseur Domke-Schulz trat mit einer Einleitungsrede auf, in der er erklärte, er habe große Achtung vor den Menschen im Donbass, denn sie hätten verstanden, was nach dem Staatsstreich in Kiew auf sie zukommt und sie hätten sich rechtzeitig gewehrt. Das könne er von seinem Heimatland, der DDR, leider nicht sagen. Viele Bürger hätten sich von der westdeutschen Propaganda über „blühende Landschaften“ täuschen lassen. Die Menschen im Donbass aber hätten begriffen, dass sie ihre kulturelle Identität verlieren und Menschen zweiter Klasse werden, wenn sie sich nicht wehren.
Solch eine Einschätzung über die deutsche Wiedervereinigung hörte man in den letzten 30 Jahren in den russischen Medien nicht. Kritik an der Art und den Folgen der Wiedervereinigung war für die russischen Medien bis vor ein paar Jahren ein Tabu. Der Kreml wollte die deutsche Regierung nicht verärgern.
Domke-Schulz berichtet im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen mit einem Augenzwinkern, dass die Russen bei seiner Einschätzung der Wiedervereinigung immer mit den Köpfen nicken. Er wisse dann immer nicht, ob das Freundlichkeit oder Zustimmung bedeute.
Erzwungene Einseitigkeit
Dass in seinen inzwischen drei Donbass-Filmen nicht beide Seiten des Bürgerkriegs zu Wort kommen, erklärt Domke-Schulz damit, dass er nicht in die Ukraine einreisen konnte, um auch dort Interviews zu führen. Seit seinem Film über den Brandangriff auf ein Gewerkschaftshaus in der Südukraine „Remember Odessa“ stehe er auf der Myrotvorets-Liste, auf der „Feinde“ Kiews gelistet sind. Eine Einreise in die Ukraine für Film-Aufnahmen sei für ihn deshalb nicht möglich. Für den Film „Remember Odessa“ interviewte Domke-Schulz nicht nur die Angehörigen der Opfer des Brandes, sondern auch ukrainische Nationalisten.
Ich fragte den Regisseur, es sei doch aber im Vietnam-Krieg möglich gewesen, Kriegsverbrechen aufzudecken. Warum nicht auch heute? Ja, der Journalist Seymour Hersh habe das Massaker von US-Soldaten an der Zivilbevölkerung im Dorf My Lai aufgedeckt. Den USA habe das damals sehr geschadet und sie hätten – wie jetzt auch die Regierung in Kiew – daraus gelernt. Journalisten bekommen in der Ukraine nur noch „embedded“ Zugang zum Kriegsgebiet.
ARD und ZDF berichteten nicht über den Anti-Maidan
Der Regisseur erinnert sich an Gespräche mit Kollegen vom ZDF. „Die haben komische Gesichter gemacht, als ich ihnen vom Anti-Maidan in Kiew erzählte. Es gab zur selben Zeit, wie der Maidan stattfand, auch eine Gegenveranstaltung im Marinski-Park von Kiew, wo Tausende für die Janukowitsch-Regierung demonstrierten. Diese Szene taucht auch in meinem Film ´Leben und Sterben im Donbass´ auf.“
Domke-Schulz hat drei Jahrzehnte für ARD und MDR mit festen Budgets gearbeitet. Die Umstellung auf spendenfinanzierte Dokumentarfilme fiel ihm nicht leicht. Aber es klappte doch, allerdings nur durch einen vereinfachten Produktionsplan. „Ich war in Donezk und habe einige Interviews selbst gemacht. Ich schrieb das Konzept, die Drehpläne für die Protagonisten und ich habe die Filme montiert.“ Der Dokumentarfilmer Maksim Fadejew aus Donezk habe wertvolles Film-Material zur Verfügung gestellt. Die Produktionszeit für die beiden Donbass-Filme betrug jeweils fünf Monate.
Die Liberalen im russischen Kulturbetrieb
Der Regisseur hat seine eigene Meinung, auch zur Situation in Russland. Er ist enttäuscht, dass sein Film nicht in einem großen Kino der russischen Hauptstadt und noch nicht mal im „Haus des Kinos“ – einer traditionellen Spielstätte für Dokumentarfilme – gezeigt wurde. „Liberale“ hätten in Russland noch weite Bereiche des Fernsehens und der Kinos in der Hand, so die Erklärung des Regisseurs. Sie säßen noch an Schaltstellen der russischen Kulturpolitik und wollten lieber Unterhaltung zeigen als den Krieg vor der eigenen Haustür.
Domke-Schulz hat seit 2014 drei Filme über den Bürgerkrieg in der Ukraine gemacht. Außer dem Film „Remember Odessa“ und „Gesichter des Donbass“ auch noch den Film „Leben und Sterben im Donbass“. Diesen Film, in dem die gesamte Geschichte des ukrainischen Bürgerkrieges in allen Einzelheiten erzählt wird, habe er speziell für Westdeutsche gemacht. Bei einem großen Teil der Westdeutschen gäbe es in Bezug auf die Ukraine praktisch kein Vorwissen und man müsse „praktisch bei Null anfangen“, meint der Regisseur.
Kino-Vorführung für Westdeutsche
Domke-Schulz wohnt im Umland von Leipzig, wohin nach der Wiedervereinigung viele Westdeutsche übergesiedelt sind. Einige dieser Westdeutschen – Domke-Schulz nennt sie „Siedler“ – waren auch bei den Filmabenden, die der Regisseur in seinem Haus-Kino vorführt. Und da stellte der Filmer fest, dass seine Gäste aus Westdeutschland fast nichts über die Ukraine wissen. Nachdem sie den Film „Leben und Sterben im Donbass“ in seinem Haus-Kino gesehen hatten, seien diese Gäste sehr verunsichert gewesen und wollten ihre Meinung zu dem Film nicht sagen. Sie hätten nur gegrummelt, „da muss ich mich jetzt erstmal mit beschäftigen“.
Warum wissen viele Westdeutsche über den Donbass so wenig oder sogar gar nichts? Der erste Grund ist wohl, dass die großen deutschen Medien direkt aus den Volksrepubliken Donezk und Lugansk nicht berichten. Und auch wenn die Korrespondenten des deutschen Mainstreams aus der Zentralukraine berichten, halten sie sich streng an die Vorgaben der ukrainischen Regierung. Kritische Fragen zur Verfolgung von Andersdenkenden (z.B. Ukrainische Menschenrechtlerin Larissa Schessler: „Alle haben Angst“ (nachdenkseiten.de) ) und Oppositionellen (z.B. Kiewer Rechtsanwalt Walentin Rybin: „Ich fürchtete um mein Leben“ (nachdenkseiten.de) ) in der Ukraine oder zur Verfolgung der russisch-orthodoxen Kirche werden von den ARD- und ZDF-Korrespondenten nicht gestellt.
Medien verfälschen Geschichte
Der zweite Grund ist, dass die Geschichte des Bürgerkrieges in der Ukraine verfälscht wird, indem wichtige Ereignisse des Bürgerkriegs in den Erzählungen der großen deutschen Medien einfach weggelassen werden, wie der Staatsstreich in Kiew 2014, die Streichung von Russisch als offizielle Regionalsprache durch das ukrainische Parlament (23. Februar 2014), die Entsendung von ukrainischen Truppen in den Donbass (14. April 2014) und der Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus von Odessa (2. Mai 2014). Diese Art der Erzählung sieht auf tagesschau.de dann so aus:
„Bis zum Kriegsausbruch 2014 war die pro-russische “Partei der Regionen” des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch dort am stärksten. Generell waren die Einwohner pro-russisch eingestellt, von der Zentralregierung in Kiew forderten sie mehr sprachliche und wirtschaftliche Mitbestimmung. Diese Stimmung verstärkte sich, als Janukowitsch infolge des Maidan-Aufstands aus Kiew floh und die pro-westliche Bewegung die Führung übernahm. Im Donbass schlugen die politischen Unruhen schnell in gewalttätige Auseinandersetzungen um, die sich zu schweren militärischen Kämpfen steigerten. Sie konnten erst durch internationale Verhandlungen zum Minsker Abkommen und Einsetzung einer internationalen Beobachtermission der OSZE eingedämmt werden.“
Donbass-Filmer werden in Deutschland verfemt und verfolgt
Wenn man mit Journalisten der großen deutschen Medien über die Berichterstattung zum Ukraine-Krieg spricht, hört man oft das Argument, „die Russen“ würden ARD und ZDF nicht in die „Volksrepubliken“ lassen. Doch das stimmt nicht. 2018 berichteten ARD und ZDF mit eigenen Korrespondenten mit ein paar zwei Minuten langen Nachrichtenstücken über die Wahlen in den „Volksrepubliken“. Auch haben außer Wilhelm Domke-Schulz mehrere freie Journalisten und Blogger Filmdokumentationen von dort veröffentlicht, wie die Französin Anne Laure Bonnel[2] sowie die Deutschen Marc Bartalmai[3], Wilhelm Domke-Schulz, Alina Lipp[4] und der Autor[5] dieser Zeilen.
Anstatt die Arbeit dieser Journalisten zu würdigen, wurden sie von den großen deutschen Medien als „keine echten Journalisten“, „Russland-nah“ oder „Putin-Lautsprecher“ abgeurteilt. Der Bloggerin Alina Lipp wurde sogar ihr Konto in Deutschland gesperrt. Die Staatsanwaltschaft Göttingen startete gegen Lipp ein Ermittlungsverfahren[6].
„Die Welt“ veröffentlichte im Oktober letzten Jahres einen großen „Enthüllungsartikel“ über Domke-Schulz, in dem berichtet wurde, der Regisseur habe via Internet mit einem Mann aus dem Umfeld von Putin kommuniziert. Das habe ein „ukrainischer Hacker“ herausgefunden.
Domke-Schulz bekam für seinen Film „Remember Odessa“ Preise auf einem Filmfestival in Kalkutta (Indien) und auf dem Filmfestival „Solotoj Vitjas“ in Sewastopol auf der Krim. Auf dem Eurasia-Dokumentarfilmfestival 2022 in Minsk bekam er sogar den Grand Prix. Im Gespräch sagte Domke-Schulz, „wenn man im Westen froh sein kann, wenn Filme noch nicht gelöscht oder verboten sind, ist es doch wesentlich netter, hier in Russland einen Preis zu bekommen.“
Titelbild: Ulrich Heyden / Shutterstock
[«1] domke-schulz-film.de/produktionen/
[«2] exxpress.at/umstrittene-kriegsreporterin-franzoesin-berichtet-von-zerstoerungen-in-donetzk/
[«3] Marc Bartalmai lebte seit 2014 längere Zeit in Donezk. Er drehte dort für seine Filme „Ukrainian Agony“ (2015) youtube.com/watch?v=sy759dlJWYE und „Frontstadt Donezk“ (2017) youtube.com/watch?v=w5-JPEcMHfg
[«4] Alina Lipp, Dokumentarfilm “Donbass 2022”, vk.com/video29517891_456253565
[«5] Ulrich Heyden, „Sechs Jahre Krieg in Europa – Reportage Lugansk“ (2020) youtube.com/watch?v=AvXJtPl-hnQ
[«6] ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Staatsanwalt-Goettingen-ermittelt-gegen-YouTuberin-Alina-Lipp,aktuellbraunschweig8804.html