Horst D. Deckert

Der Krieg in der Ukraine und das westliche Mantra des „As long as it takes“

Seit Monaten greift Russland Kiew mit Drohnen und Raketen an. Jetzt gab es mit dem, auch von russischer Seite bestätigten, massiven Drohnenangriff auf Moskau die vorläufig letzte Drehung der Eskalationsspirale in diesem Krieg. Vor diesem Hintergrund soll die Frage gestellt werden, was diese vom „Westen“ immer wieder formulierte Unterstützungsparole für die Ukraine „As long as it takes“ eigentlich bedeutet. Von US-Präsident Biden angefangen über die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, Bundeskanzler Scholz bis zum deutschen Verteidigungsminister Pistorius wird dieser Slogan gebetsmühlenartig immer wieder betont. Stellt sich die Frage, ob es sich dabei um eine Sicherheitsstrategie oder vielleicht sogar um eine Zielsetzung handelt und was diese Aussage eigentlich bedeutet. Von Jürgen Hübschen.

Denkbar wären folgende Interpretationen:

  1. Bis Russland seine Truppen freiwillig aus der Ukraine abzieht, weil man in Moskau eingesehen hat, dass eine weltweite internationale Isolierung des Landes droht.

    Dafür gibt es keinerlei Hinweise. Außerdem kann eigentlich nur von einer US-amerikanischen und europäischen Isolierung die Rede sein, weil die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten zwar den Krieg verurteilt, sich aber nicht an den Sanktionen gegen Russland und schon gar nicht an einer Isolierung des Landes beteiligt.

  2. Bis Russland seine Truppen aus der Ukraine abzieht, weil man eingesehen hat, dass die gesetzten Ziele weder politisch noch militärisch erreicht werden können?

    Auch dafür gibt es keine Indikatoren, vielmehr hat es den Anschein, dass die aktuelle russische Strategie zunehmend erfolgreich zu sein scheint. Man hat in Moskau erkannt, dass die ursprüngliche offensive Vorgehensweise, auch auf Grund eines zu geringen Truppenansatzes, ein Fehler war und gescheitert ist. Russland zog unter der neuen Führung von General Surovikin die Konsequenzen und setzte auf eine defensive Strategie mit möglichst viel Abstandswaffen, wie Artillerie, Drohnen und Raketen.

    Die ukrainische Niederlage in Bachmut und die Angriffe auf Kiew und andere Städte und Einrichtungen in der Ukraine sind Beweise dafür, dass und wie diese neue Strategie umgesetzt wird. Der jetzige russische Oberbefehlshaber in der Ukraine, General Gerasimov, scheint an dieser Strategie festzuhalten. Auch in Bezug auf die ukrainische Luftverteidigung verfolgt Moskau offensichtlich eine Abnutzungsstrategie. Sollten die Zahlen der Raketen und Drohnen, mit denen Russland Kiew angegriffen hat und die ukrainischen Angaben zutreffen, wie viele davon durch die eigene Luftverteidigung abgeschossen wurden, ist es nur noch eine Frage der Zeit bis die Ukraine „leer geschossen ist“, verbunden mit immensen Kosten für Raketen, die pro Stück zwischen 400.000 und eine Million Euro zu Buche schlagen.

  3. Bis die Ukraine mit Unterstützung ihrer westlichen Alliierten, alle von Russland besetzten Gebiete, einschließlich der Krim zurückerobert und den Krieg militärisch gewonnen hat?

    Davon spricht „im Westen“ mittlerweile überhaupt niemand mehr. Stattdessen scheint man – abgesehen von Präsident Selensky selbst – nur noch darauf zu setzen, einen „frozen conflict“ zu erreichen, allerdings ohne zu erklären, was danach kommt.

  4. Bis der ukrainische Präsident einsieht, dass die Tür für Verhandlungen nicht mehr lange offenbleibt und er Moskau ein Gesprächsangebot macht? Das erscheint ausgeschlossen, weil Präsident Selensky – im Gegensatz zum März 2022- immer wieder und auch immer noch erklärt, dass Verhandlungen so lange ausgeschlossen seien, bis der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen habe.
  5. Bis Präsident Biden gegenüber Präsident Putin erklärt, die USA seien unter Leitung des UN-Generalsekretärs zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit?

    Auch diese Option ist derzeit unrealistisch, weil der US-Präsident, trotz zunehmender kritischer Stimmen in den USA, vor allem aus dem Pentagon, keinen Sinneswandel in diese Richtung erkennen lässt. Zudem fehlt seitens des UN-Generalsekretär Guterres auch jegliche Initiative in diese Richtung.

  6. Bis die politischen Führer Europas erkennen, dass die Sanktionen gegenüber Russland nicht oder vielleicht auch noch nicht die erhoffte Wirkung zeigen? Die zu beobachtenden geostrategischen Verschiebungen entwickeln sich zu Lasten „des Westens“, und es scheint letztlich ein Fehler zu sein, den USA vasallenhaft zu folgen, weil die Interessen der Supermacht nicht identisch mit denen Europas sind.
  7. Bis die finanziellen Belastungen und die damit verbundenen wirtschaftlichen Entwicklungen aus Sicht der amerikanischen Regierung und/oder der europäischen Führer nicht mehr (er)tragbar werden? Aktuelle wirtschaftliche Zahlen könnten dafür ein Indiz sein. Hinzu kommen eine hohe Inflation und Preissteigerungen, die ein immer größerer Teil der Bevölkerung offensichtlich nicht mehr stemmen kann.
  8. Bis die Bevölkerung in den USA und/oder in einem oder mehreren europäischen Ländern die Entscheidungen ihrer Regierungen nicht mehr mitträgt? Eine solche Entwicklung könnte bei anstehenden Wahlen zu einer entscheidenden Komponente werden. Eine entsprechende Thematisierung in den Medien oder öffentliche Demonstrationen und Proteste könnten dazu wesentlich beitragen.
  9. Bis- und auch das sollte nicht ausgeschlossen werden- dieser Krieg immer weiter eskaliert bis hin zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland?

    Das wäre eine nicht mehr kalkulierbare und beherrschbare Situation, vermutlich verbunden mit einem Flächenbrand in Europa, vor dem die USA (wieder einmal) durch den Atlantik geschützt wären. Mittlerweile sind zwar immer wieder irgendwelche roten Linien scheinbar folgenlos überschritten worden, aber wenn der Drohnenangriff auf Moskau der Anfang von weiteren direkten Angriffen auf Russland sein sollte, dann könnte das auch der Beginn eines 3. Weltkriegs sein. Davor hatte ja der US-Präsident bereits vor geraumer Zeit gewarnt, als es um die mögliche Lieferung von F-16 Kampfflugzeugen an die Ukraine ging. Diese Position hat Präsident Biden jetzt aufgegeben, der Ausbildung ukrainischer Piloten auf der F-16 in den USA zugestimmt und auch seinen Vorbehalt bezüglich einer Lieferung von F-16 durch europäische Länder zurückgenommen.

  10. Bis der Einsatz von russischen Atomwaffen alle bisherigen Überlegungen hinfällig werden lässt? In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die damalige US-Regierung den Abwurf der beiden Atomwaffen auf Hiroshima und Nagasaki damit begründet hat, den Krieg schnellstmöglich zu beenden, was sich ja auch bewahrheitet hat.

Diese Interpretationsversuche erheben keinerlei Anspruch auf Vollzähligkeit und hinzu kommt noch, dass die politischen Verantwortlichen im „Westen“ mit großer Wahrscheinlichkeit nicht dieselben Meinungen darüber haben, was dieses „As long as it takes“ eigentlich bedeutet.

Zusammenfassende Bewertung

Keine westliche Regierung sollte der Ukraine eine Sicherheitsgarantie geben und auch nicht den Anschein erwecken, es zu tun. Die Ukraine verteidigt sich gegen einen völkerrechtswidrigen Angriff Russlands und wird dabei vom „Westen“ militärisch, wirtschaftlich und auch finanziell unterstützt. Die Ukraine verteidigt aber nicht die Freiheit der USA oder Europas, sondern führt vielmehr einen Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland mit dem Ziel – wie es US-Verteidigungsminister Lloyd J. Austin III am 25. April 2022 nach seinem Besuch in Kiew erklärt hat – „Russland so zu schwächen, dass es niemals mehr in der Lage sein wird, einen solchen Krieg anzuzetteln“. In diesem Zusammenhang muss man auch an die Aussage von Präsident Biden in dessen Rede vom 26. März 2002 in Warschau erinnern, als er wörtlich in Bezug auf Putin erklärte: „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ („For God´s sake, this man can not remain in power“).

Wenn es zuträfe, was immer wieder behauptet wird, dass die Ukraine die „westlichen Werte“ – wer immer diese definiert hat – verteidigt, dann müsste „der Westen“ die Ukraine konsequenterweise mit eigenen Truppen im Kampf gegen die russischen Streitkräfte unterstützen. Das wird aber von den USA und allen europäischen Regierungen ausgeschlossen.

Bleiben die Fragen nach einer sicherheitspolitischen Strategie „des Westens“ und einer klaren Zielsetzung aller militärischen, wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine. Die aktuelle Antwort lautet: Es gibt diese Strategie nicht und auch kein definiertes Ziel, es sei denn, Europa übernähme die Position der USA oder hat diese bereits übernommen, nämlich: „For God´s sake, this man can not remain in power“, was gleichbedeutend mit einem Regierungswechsel in Moskau ist und …“see Russia weakened to the degree it cannot do the kind things that it has done in invading Ukraine“, gleichbedeutend mit einem militärischen Sieg über die russischen Streitkräfte in der Ukraine. Sollte also die US-Regierung die Zielsetzung „des Westens“ im Ukrainekrieg definiert haben, wäre das ein sicherheitspolitisches Versagen aller europäischen Regierungen auch gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern.

Da dies aber bestenfalls eine Vermutung ist, bleibt die Frage nach einer sicherheitspolitischen Strategie und einer klaren Zielsetzung weiterhin unbeantwortet, und es gibt überhaupt keine Anzeichen dafür, dass sich das in absehbarer Zukunft ändert. Den politisch Verantwortlichen in Europa fällt offensichtlich immer noch nichts Anderes ein, als gegenüber Russland ständig weitere Sanktionen zu verhängen und durch immer mehr und immer schwerere Waffen an die Ukraine die Eskalationsschraube weiter anzuziehen. Dabei hätte es bereits schon knapp einen Monat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine eine Chance gegeben, diesen Krieg zu stoppen, als nämlich Präsident Selensky am 22. März 2022 Russland zu direkten Verhandlungen aufgefordert hatte. Er hatte Moskau einen Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine angeboten, wenn Moskau im Gegenzug einen Waffenstillstand akzeptiert und seine Truppen aus der Ukraine abgezogen hätte.

In Bezug auf die Regionen Lugansk und Donezk sollte es, ebenso wie (erneut) für die Krim Referenden geben. Auf dieser Basis hatten Moskau und Kiew Verhandlungen begonnen, die -daran bestehen heute kaum noch Zweifel – auf Druck des damaligen britischen Premierminister Johnson bei dessen Besuch in Kiew am 10. April 2022 abgebrochen wurden.

Fazit: Dieses Mantra „as long as it takes” solle endlich definiert oder, was deutlich erstrebenswerter wäre, durch den Start einer diplomatischen Initiative zur Beendigung des Krieges überflüssig gemacht und ersetzt werden.

Titelbild: shutterstock / Tomasz Makowski

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