Horst D. Deckert

Die Angst treibt uns zum «weltweiten Bürgerkrieg»

Vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben ist soeben auf deutsch eine Sammlung von 20 kurzen Texten erschienen, zwei in Interview-Form, die er im ersten Halbjahr 2020 geschrieben hat. Agamben zeigt die wesentlichen Elemente des Ausnahmezustandes, wie diese «Epidemie als Politik» sich über die «eingepflanzte Furcht» immer weiter reproduziert.

Agamben fragt, Stand Ende Juni 2020, wie wir da wieder herauskommen?

«Dass es sich hierbei um keinen vorübergehenden Zustand handelt, wird von den Regierungsvertretern selbst bestätigt, indem sie nicht müde werden, zu wiederholen, dass das Virus noch unter uns sei und die Epidemie jederzeit wieder ausbrechen könnte.»

Dabei spielt die Aufrechterhaltung der Angst die entscheidende Rolle. Agamben zeigt, wie die Angst die politische Wahrnehmung und die Sicht auf die Dinge selbst verändert. Die Angst ist das politische Herrschaftsinstrument. «Es treibt unerkannt aus dem Inneren der Gesellschaft heraus zum weltweiten Bürgerkrieg». Das muss durchschaut werden.

«Die Dinge werden furchterregend, weil wir ihre Zugehörigkeit zur Welt vergessen.» Deshalb müssen wir zurück zur Wirklichkeit! «Das unsichtbare Ding, das mich in Schrecken versetzt», ist gewöhnliche Realität «wie ein Baum, ein Bach oder ein Mensch…». Wir müssen wieder lernen, mit dieser «innerweltlichen» Wirklichkeit aktiv nach «ethischen und politischen Regeln» umzugehen.

Agamben appelliert an unsere «Entschlossenheit». Denn erst die als politische Behörde sich aufspielende Wissenschaft schafft eine «abstrakt abgespaltene und zur höchsten Instanz erhobene Dingwelt» und macht es Interessengruppen überhaupt erst möglich, unerkannt «ihre Macht auf meine Angst zu gründen und den Notstand zur beständigen Norm zu machen, um mir vorzuschreiben… die Prinzipien ausser Kraft zu setzen, die bisher meine Freiheit garantiert haben.»



Agamben zeigt, wie ein Ringen um die gesellschaftliche Ordnung im Gange ist mit den Mitteln der Beeinflussung der Wahrnehmung und des Erkennens der Menschen.


Er knüpft an die altrömische Rechtsfigur des «vogelfreien» homo sacer an: Die Reduktion und rechtliche Entkleidung des Menschen auf den nackten Leib als Herrschaftsmethode — oder wie der Rezensent meint, die ‘Befreiung der Menschen’ von ihrem gesellschaftlichen Wesen zum «freien» Arbeiter.

Im «Social distancing — wie man es mit einem vielsagenden Euphemismus nennt —, sieht Agamben das neue Organisationsprinzip der Gesellschaft».

Mit Blick auf Notstandsgesetze und Diktatur weist er auf die Argumentation des nationalsozialistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt in seiner «Politischen Theologie» und zitiert im Zusammenhang mit der berühmten Definition «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet» den angesehenen italienischen Staatsrechtler Gustavo Zagrebelsky in der ‘La Repubblica’ vom 28. Juli 2020:

«Die Pandemie, welche die ganze Gesellschaft in Schach hält, bietet eine unerwartete Gelegenheit, ein Volk von Untertanen noch enger zu überwachen».

Davon muss sich heute die Gesellschaft befreien und die Frage beantworten, «wie wir die Zeit nach dem Notstand gestalten, wie wir zum normalen Leben zurückfinden werden. Denn das Land muss wieder aufstehen, unabhängig von den — alles andere als einstimmigen — Empfehlungen von Virologen und selbsternannten Experten. Eines ist klar:

«Wir werden nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Wir werden nicht mehr die Augen vor der Misere verschliessen können, in die uns die Religion des Geldes und die Blindheit der Entscheidungsträger gestürzt haben.»


Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir?Die Epidemie als Politik.

Aus dem Italienischen von Federica Romanini. Verlag Turia+ Kant, Wien 2021. 155 S., Fr. 24.90.

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