Horst D. Deckert

Die New York Times rät ihren Lesern vom kritischen Denken ab

Vor gut einer Woche erschien in der ehemaligen Qualitätszeitung New York Times ein Meinungsbeitrag, der keine Fragen mehr offen lässt im Hinblick auf die Marschrichtung, in die der westliche Mainstream aufgebrochen ist. In dem Artikel wird dem Leser erklärt, dass allzu kritisches Hinterfragen der vorgesetzten Meldungen „nicht hilfreich“ sei, wie es unsere Bundeskanzlerin ausdrücken würde, und Medienkonsumenten besser unhinterfragt schlucken sollen, was die Mainstream Postillen hüben wie drüben in den Äther blasen, weil sie sonst zu sehr verwirrt werden könnten. Da es sich bei der New York Times noch immer um den Goldstandard für Mainstream Journalisten aus aller Welt handelt, ist die Bedeutung des dort geschriebenen in seiner Signalwirkung nicht zu unterschätzen.

Der Inhalt des New York Times Beitrags passt bestens zu dem, was das das früher ebenso respektierte Time Magazine vor einigen Wochen brachte. Kurz nachdem Präsident Biden vereidigt war, erschien dort ein langer Text, in dem von einer „geheimen Kabale“ berichtet wurde, die sich im Hintergrund anstrengte, um die US-Präsidentschaftswahl zu „sichern“. Einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen den beiden Texten kann ich zwar nicht feststellen. Doch ich würde mich nicht wundern, wenn der eine Bericht, in dessen Folge es zu einer massiven Kritik seitens der noch nicht ganz parteiisch berichtenden (alternativen) Medien kam, den anderen auslöste.

 

Der Verstand setzt aus – nur bei wem?

 

Der Artikel beginnt mit der Aufforderung eines „digitalen Schrifttumsexperten“ (wörtlich „digital literacy expert“) namens Michael Caufield, dass man „nicht zu viel darüber nachdenken sollte, was man online zu sehen bekommt“. Es ist eine Aussage, die sich sowohl kontrovers als auch trivial auslegen lässt, was von Caufield ein Stück weit vielleicht sogar beabsichtigt war.

Trivial ist seine Aussage, wenn man bedenkt, wie viel belangloses Zeugs den Tag über unsere Endgeräte erreicht. Katzenvideos, Mems, bunte Werbebanner und reisserische Überschriften sind eine Suppe, die notwendigerweise durch das Fangnetz unseres Bewusstseins rauschen muss, da wir sonst verrückt werden würden.

Kontrovers wird die Aussage jedoch dann, wenn „Missinformation“ gemeint ist, die uns aus allen Ecken vom Mainstream der Meinungen abbringen will. Genau darauf bezieht sich der Autor Charlie Warzel mit dem Verweis auf Caufied als Aufhänger seiner Kolumne. Warzel hält nicht lange zurück mit dem, was er uns beibringen will. Wieder mit Bezug auf Caufield schreibt er:

„Die Art und Weise, wie uns von Kindesbeinen an das kritische Denken und Einschätzen von Informationen beigebracht wurde, ist zutiefst fehlerhaft und zum Scheitern verurteilt, wenn es um das Chaos des gegenwärtigen Internets geht.“

Denn in Anbetracht der vielen Informationen, die sich uns täglich präsentieren, hält es Caufield für unmöglich, dass wir uns vertieft mit all den Dingen in einer Weise auseinandersetzen, um diese final in einer reflektierten Weise beurteilen zu können. Zu viele fehlende Puzzleteile sorgen dafür, dass die Neigung des menschlichen Verstandes, die Lücken mit Phantasie zu füllen, immer öfters schief gehen muss, und wir am Ende in die Falle tappen und aus der zusammengebastelten Missinformation eine umfassende Desinformiertheit erwächst.

 

ABC-Schützenlogik

 

Als Abhilfe forschte Caufield gemeinsam mit anderen Spitzenforschern unter anderem von der Standford Universität an dem Problem und fand eine für den Autor Warzel offenkundig wenig intuitive Lösung: Man lerne über eine Information und gehe dann zu einer anderen Informationsquelle, um dort mehr oder eine andere Sichtweise über das Präsentierte zu lernen.

Wie üblich in seinem Metier greift Warzel dann zum Extrembeispiel. Er nennt das englischsprachige Rechtsextremistenforum Stormfront, wo sich jemand hin begeben könnte, weil er versucht sein könnte, „rassistische Behauptungen zu verstehen oder diese zu widerlegen“.

Bedeutend an dem Beispiel ist weniger das direkte Kalkül, sondern das indirekte durch den Autor. Einmal ist es unmöglich, Stormfront über eine Google Suche oder einen Link bei Wikipedia zu erreichen und selbst bei den Alternativen rangiert die Seite sehr weit hinten. Hauptgrund dafür ist die Bedeutungslosigkeit der Seite, was sich am Rang bei Alexa ablesen lässt (~170.000), während Similarweb die Seite nicht einmal kennt. Schaut man sich wiederum im Forum selbst um, dann sieht man, dass einige der neuesten Beiträge von heute stammen, manche von gestern und ein paar von vergangener Woche.

Die Seite ist herzlich bedeutungslos und steht vermutlich nur deswegen im Artikel, weil Autor wie Schrifttumsexperte kein besseres Beispiel kennen für einen relevanten Extremistentreffpunkt. Denn sonst hätten sie ein besseres bzw. bekannteres Beispiel genommen. Als Indikator für die Bedeutung des geschriebenen ist das eher nicht so gut, um es freundlich auszudrücken.

 

Weil wir Kinder sind

 

Mit der Direktanalyse von Stormfront bin ich ganz nebenbei der Aufforderung aus Stanford nachgekommen und habe mir eine weitere Informationsquelle angesehen. Ihre „Methode“ funktioniert also durchaus, wenn auch vielleicht nicht so wie sie sich dachten.

Für Caufield stellte mein Exkurs zur Naziseite denn auch eine Zeitverschwendung dar, weil jede Minute dort ein Geschenk für Extremisten ist, wie er durch die Blume durchblicken lässt. Nach seiner Auffassung wäre ich besser gefahren, wenn ich seiner Einschätzung und jener des Autors geglaubt hätte, die Stormfront für ein bedeutendes Nazinetzwerk hinstellten und nicht als Nischenprogramm einiger weniger Verirrter.

Das Risiko, so Caufield, für jemanden, der selbst mit kritischem Blick eine solche Seite besucht besteht darin, „dass man von deren Propagandakünsten überrumpelt wird, etwas falsch verstehen könnte und man am Ende von den dort präsentierten (sic!) Informationen überwältigt wird“. Das sic vor dem Wörtchen „Information“ ist dabei ein weiterer kleiner Hinweis, dass weder Warzel, noch Caufield allzu aufmerksam waren, als sie sich über das Thema ausgetauscht haben. Denn wann verbreiten Neonazis jemals Information? Ich dachte immer, sie würden nur missinformieren und Desinformation verbreiten. Nun gut.

Vielleicht mache ich auch einfach nur den Fehler, „kritisch zu denken und mich auf etwas zu konzentrieren, um tiefgreifend darüber nachzudenken – dem Folgen der präsentierten Information und ihr Abtesten auf Logik und Inkonsistenzen.“ Das schrieb Caufield schon vor drei Jahren und er findet das einfach nur „bäh!“, weil es „Schwindlern, Trollen, Verschwörungstheoretikern und Aufmerksamkeitsjägern das Stehlen von Aufmkerksamkeit vereinfacht.“

Wir fallen nicht etwa auf diese Informationsbereitsteller herein, weil sie eventuell etwas wertvolles zu bieten haben. Vielmehr, so der Tenor, fallen wir auf sie genauso herein, wie kleine Kinder, wenn sie im Supermarkt im Ganz zwischen Süßwaren und Spielzeug zur Salzsäule erstarren, weil sie sich nicht entscheiden können. Ungefilterte Information ist daher per se zu viel für uns und sollte deswegen reguliert werden wie Eltern ihre Kinder in den Einkaufswagen setzen, oder sie gleich zu Hause lassen, so die Schlussfolgerung von Caufield.

 

Sozialisten sprechen vom Markt

 

Immer wieder amüsant ist auch in diesem Fall der Verweis auf „unsere Aufmerksamkeit, die wir als knappe Ware erachten müssen“ als ein Weg, der fiesen Falle zu entgehen. Nur dann, wenn wir uns genau überlegen, wie viel Zeit wir mit etwas verbringen ist es möglich, eine zu tiefe Auseinandersetzung mit einem Thema zu vermeiden. (Das ist nebenbei bemerkt auch ein Ziel dieses Blogtextes, der jetzt schon wieder 1.100 Worte umfasst und nach Möglichkeit nicht länger als 1.600 Worte werden sollte. Man tut was man kann.)

Inwieweit es wert ist, sich länger als einen Klick lang mit dem Gesabbel eines „digitalen Schrifttumsexperten“ auseinanderzusetzen – oder gar ob es für diesen selbst die Zeit wert war, sich bis zur Verbeamtung mit dem Thema auseinanderzusetzen, erfährt der Leser von Warzels Erguss leider nicht. Als weitere Maßnahme zur Effizienzsteigerung der allgemeinen Aufmerksamkeit im Internet möchte ich hiermit aber vorschlagen, bei jeder Äußerung eines Experten den Teil seines Bruttojahresgehalts mitanzugeben, das er/sie/es vom Staat bekommt.

Als erweiterte Lösung für das Problem schlägt Caufield gemeinsam mit einem weiteren Experten namens Wineburg vor, dass wir am besten etwas machen, von dem Kritiker einwenden würden, dass wir das auch schon vor dem Internetzeitalter gemacht haben und vermutlich auch vor der Erfindung von Geld: 1) Innehalten; 2) andere Quellen zu Rate ziehen; 3) etwas besseres finden; 4) die Quellen prüfen.

Das ist wirklich innovativ. Dennoch kann ich den Vorschlag nur empfehlen. Denn in etwa so gehe ich auch vor, wenn ich mir eine Hose kaufen möchte (zumindest in prä-Coronazeiten). 1) Ich stelle einen Riss in der alten Hose fest; 2) dann suche ich nach Geschäften, die Hosen verkaufen; 3) ich suche mir die Hose mit der besten Preisleistung aus; 4) ich schaue noch einmal nach, ob die Nähte auch wirklich gut sind und mir das Geschäft im Fall der Fälle auch die versprochene Garantieleistung erfüllt.

Banaler geht es kaum. Dennoch muss zu einem gewissen Grad auch entschuldigend erwähnt werden, dass die wenigsten Elfenbeinturmbewohner heute noch etwas mit dem echten Leben zu tun haben. Gleichzeitig kam jemand wie Jordan Peterson nicht deswegen zu globaler Prominenz, weil er so brilliant ist, sondern weil er lange Zeit weit und breit der einzige war, der bereit war, auf den Elefanten im Raum zu verweisen mit der Aufschrift „Pragmatismus“.

 

Der willenlose Konsumzombi

 

Wie wenig sich Werzel und die beiden von ihm zitierten Kollegen bewusst sind, was sie da verbreiten, zeigt sich kurz danach. Es geht um Robert Kennedy, der sich einen Namen als Impfgegner gemacht hat. Im Versuch, den Mann und seine Positionen zu dekonstruieren, wird zunächst auf Wikipedia als objektive Informationsquelle verwiesen, nur um dann die ersten Suchergebnisse bei Google zu empfehlen, unter denen sich eine „Faktencheckerseite“ befindet.

Heraus kommt für die Experten wenig überraschend, dass Kennedys „Motivation aus etwas anderes als dem wissenschaftlichen Antrieb besteht“. Man könnte meinen, es handele sich um einen seichten Scherz. Doch diese Analysemethode wird tatsächlich als ganztägiger Kurs angeboten. Weil ihre Analysemethode so eingehend und damit zeitraubend ist, sollte man das einmal den Profis überlassen und dann auch „Seiten meiden, die man noch nie vorher gesehen hat, und die einen verwirrter zurücklassen könnte, als man davor noch war.“

Auch das ist kein Scherz. Tiefer im eigenen Desinformationssumpf könnte man wohl kaum stecken und es erklärt nebenbei zumindest teilweise, warum das Premiumangebot von Mannikos Blog nur ein Nischendasein fristet. Ein weiterer Baustein für die Erklärung besteht im übrigen darin, dass ich als häufigste Kritik bislang zu hören bekam, meine Seite würde „nicht professionell wirken“. Da waren wohl viele New York Times Leser dabei. Der Inhalt spielt für sie keine Rolle.

Das traurige ist, dass völlig außen vor bleibt, von welcher Motivation Medienkonsumenten getrieben sein könnten. Werzel kommt es nicht einmal in den Sinn, dies zu hinterfragen oder im Text zu erwähnen, dass er seine digialen Schrifttumsexperten danach gefragt hat, aber keine befriedigende Antwort bekam. Sie gehen alle von einem abstrakten Konsumenten aus, der als leeres Blatt keinerlei Vorgeschichte hat, über keine eigenen Analysetechniken verfügt und letztlich auch keinen eigenen Willen hat. Diesen bekommt er erst von außen eingeimpft – übrigens auch Doktoranden, die in Kursen abgerichtet werden – und da ist es besser, so der Tenor, wenn man vom Mainstream, Wikipedia und Google abgerichtet wird, als von Alex Jones oder noch schlimmerem.

 

Aus der marxistischen Analyse folgt die sozialistische Katastrophe

 

Als überaus beunruhigendes Fazit lässt sich feststellen, dass die Wissenschaft hinter einer eigentlich sehr bedeutenden Fragestellung, über eine heftige linke Schlagseite verfügt, wie es heute leider allzu oft vorkommt. Das Problem dabei ist weniger, dass als Ergebnis unbrauchbarer Mumpitz herauskommt, sondern dass es praktische Anwendung findet und die vermeintliche „Lösung“ immer weiter verbreitet wird, darunter sogar von der noch immer zu oft gelesenen New York Times.

Die im normalen Leben übliche Fehlerprüfung fällt dabei weg in der Form, als dass man etwas probiert und damit weitermacht, wenn es funktioniert, oder etwas anderes versucht, wenn es nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt. Auch das ist ein Merkmal sozialistischer Praxis, wenn die durch den marxistischen Lösungsansatz verstärkten Probleme nicht als solche erkannt werden, sondern als Symptome einer sich verschlimmernden Lage. Denn darauf kann in der linken Logik nur ein noch intensiveres Vorgehen gegen das wahrgenommene Problem folgen, woraufhin sich die Lage noch einmal verschlechtert.

Genau das ist auch bei diesem Ansatz der Informations- und Analyseverengung zu erwarten. Je stärker der Widerstand gegen das verengte Feld legitimer Meinungen wird, weil sie der Nachfragemotivation der Konsumenten nicht entsprechen, desto intensiver werden die Versuche sein, auch den letzten Dissens aus dem Internet zu vertreiben.

Oder um die viel zu lang gerade Rede mit einem kurzen Sinn zu versehen: Ideologen lassen sich daran erkennen, wenn sie einem davon abraten oder gar verbieten, auch andere Informationsquellen zu frequentieren. Pragmatiker dagegen fordern ihre Gegenüber mitunter sogar dazu auf, sich einer Gegenmeinung auszusetzen. Daher: Lesen Sie Warzels Elaborat gerne selbst durch und machen Sie sich Ihr eigenes Bild davon.

Quelle Titelbild

Ähnliche Nachrichten