Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock rechnet mit einem massiven Ansturm auf die Spitäler des Landes, da aufgrund der «Corona-Pandemie» Millionen von medizinischen Behandlungen abgesagt oder verschoben wurden. Dies berichtet die britische Tageszeitung The Telegraph.
Nun zeichne sich ab, «wie die Nachfrage zurückkehrt und unsere Notaufnahmen sich füllen». Gemäss Hancock müssten sich die Krankenhäuser auf eine Flut von bis zu 12,2 Millionen Menschen einstellen, die Eingriffe wie Hüft-, Knie- und Augenoperationen benötigen. 5,1 Millionen dieser Patienten stünden derzeit auf Wartelisten.
Ausserdem werde mit zusätzlichen 7,1 Millionen Menschen gerechnet, die während der Pandemie weggeblieben seien, und die nun wieder auftauchen und eine Behandlung verlangen, sagte Hancock. Der National Health Service (NHS), das staatliche Gesundheitssystem in Grossbritannien und Nordirland, stünde damit vor der «grössten Belastung in seiner Geschichte», zitiert The Telegraph den Gesundheitsminister.
Der NHS habe seit letztem März mehr als 5600 zusätzliche Ärzte und 10’800 Krankenschwestern eingestellt, um die zusätzliche Nachfrage zu bewältigen. In der Zwischenzeit habe die Regierung im März weitere 7 Milliarden Pfund an Finanzmitteln zugesagt. Aber: «Selbst wenn das System zu hundert Prozent läuft, selbst wenn alle unglaublich hart arbeiten» würde das nationale Gesundheitssystem den Ansturm kaum bewältigen können, warnte Hancock auf einer NHS-Konferenz letzte Woche.
2,4 Millionen abgesagte Operationen
Mitte Juni erschien die erste landesweite Studie, die die Auswirkungen der Pandemie auf die Chirurgie im NHS zu messen versuchte. Sie ergab, dass im Jahr 2020 mehr als 1,5 Millionen Operationen abgesagt oder verschoben wurden.
Laut der Analyse, die im British Journal of Anaesthesia veröffentlicht wurde, seien mehr als 900’000 von diesen Behandlungen als «semi-urgent» eingestuft. Die Studie rechnet damit, dass es bis Ende 2021 2,4 Millionen abgesagte Operationen geben wird, und dass sich der Rückstau über Jahre erstrecken wird.
Die NHS habe bereits zuvor geschätzt, dass es fünf Jahre dauern könnte, bis alle ausstehenden Behandlungen abgearbeitet seien. Patienten müssten sich auf jahrelange Wartezeiten einstellen für Eingriffe, die normalerweise innerhalb weniger Monate durchgeführt werden.
Szenarien für einen «harten Winter»
Englands Chefarzt Chris Whitty prognostizierte auf der selben NHS-Konferenz, dass die aktuelle Welle von Fällen «definitiv zu weiteren Krankenhauseinweisungen führen wird».
Whitty warnte auch vor der Rückkehr der Influenza: Da es im letzten Winter nur eine minimale Grippewelle gegeben habe, werde sie im kommenden Winter wieder zuschlagen — es sei denn, die Menschen würden aufgrund der Covid-Situation wiederum «ihre sozialen Kontakte wesentlich minimieren»:
«Also entweder werden wir einen sehr signifikanten Covid-Anstieg haben, die Leute werden ihre Kontakte minimieren und wir werden weniger Atemwegsviren haben. Oder die Leute werden zu einem normaleren Leben zurückkehren — dann wird es etwas Covid geben, aber auch wieder einen Grippeschub, einen RSV-Anstieg bei Kindern und so weiter», zitiert The Telegraph Whitty.
Indessen warnt auch Premierminister Boris Johnson vor einem «harten Winter» aufgrund neuerlicher Covid- und Grippe-Wellen und anderer Krankheiten, berichtet das Nachrichtenportal Lockdown Sceptics. Auch in Grossbritannien werden Lockerungsschritte immer wieder hinausgeschoben mit Verweis auf «ansteigende Zahlen» und die Gefährlichkeit der «Delta-Variante».
So war der lang ersehnte «Freedom Day» — das offiziell festgelegte Datum zur Aufhebung der Covid-Restriktionen — um 4 Wochen auf den 19. Juli verschoben worden, um die «Fallzahlen» zu reduzieren und «den NHS zu entlasten». Der Premierminister liess durchblicken, dass weitere Lockdowns jederzeit in Erwägung gezogen werden können, um «Druck» vom Gesundheitssystem zu nehmen. So äusserte Johnson:
«Man kann nie ausschliessen, dass es eine neue Krankheit gibt, einen neuen Schrecken, den wir nicht einkalkuliert haben … aber ich denke, es sieht gut aus, dass der 19. Juli einen Endpunkt markiert. Dinge wie die Grippe könnten in diesem Winter zurückkommen, es könnte aus allen möglichen Gründen einen harten Winter geben — und das ist ein Grund mehr, die Covid-Fälle jetzt zu reduzieren, um dem NHS die Atempause zu verschaffen, die er jetzt braucht.»
Nach Einschätzung der Lockdown Sceptics lasse Johnson damit durchblicken, dass Einschränkungen jederzeit wieder eingeführt werden können, wann immer irgendeine pessimistische, nicht verifizierte Modellierung nahelege, dass der NHS während des Winters «unter Druck» geraten könnte — ungeachtet der Tatsache, dass der NHS fast jeden Winter «unter Druck» gerate.