Horst D. Deckert

Der Journalismus ist tot – und eine Medienrevolution notwendiger denn je

Ich bin nicht Morpheus. Mir fehlt der Glaube, dass es nur einen Auserwählten braucht, um die Matrix zu zerstören. Ich glaube nicht einmal, dass man die Matrix überhaupt zerstören kann. Es geht deshalb in diesem Buch auch nicht um die Zerstörung, sondern um Aufklärung und um das, was aufgeklärte Menschen aus der Matrix machen könnten. Blaue Kapsel oder rote Kapsel: Sie haben sich schon entschieden. Sonst würden Sie dieses Buch nicht lesen. Sie wissen genau wie Neo, der Held in dem Action-Klassiker Matrix, dass mit der Welt etwas nicht stimmt, die wir alle für die Wirklichkeit halten müssen, und wollen verstehen, wo und wie die Realität produziert wird, die man uns rund um die Uhr ins Haus liefert. Neo zögert nur ein paar Augenblicke, als er das erste Mal vor Morpheus sitzt – in einem runtergerockten Zimmer mit einem kahlköpfigen Mann im Ledermantel, der seine Augen versteckt und im letzten Moment noch einmal die Stimme hebt.

In Hollywood ist das so. Keine Schlüsselszene ohne Drama. «Bedenke», sagt Morpheus zu Neo, «alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit. Nicht mehr». Okay: In dem Wunderland, von dem Morpheus spricht, winkt Trinity, eine Frau, die Neo sofort in ihren Bann gezogen hat. Da ist aber noch etwas anderes. Das sind all die Nächte, in denen er sich mit der Frage nach der Matrix quält. Der Splitter im Kopf, immer da und doch nicht zu greifen. Rote Kapsel, was sonst. Man kann sich das auf YouTube anschauen, knapp hundert Sekunden lang. Die Nutzerkommentare im Kanal von repat 123, der nur 85 Abonnenten hat, aber mit diesem Clip einen Hit, ähneln sich, egal von wann sie sind. «Heute, 2020, so aktuell und wahr wie selten», schreibt realbss1…

Ein Buch ist kein Film. Ich kann nicht versprechen, dass Sie die Propaganda-Matrix gleich erleben werden, und muss das auch gar nicht. Sie kennen diese Matrix. Sie lesen Zeitung. Sie sehen und hören Nachrichten, überall, immerzu. Der Film von Lilly und Lana Wachowski, inzwischen über zwanzig Jahr alt und von Brüdern und Schwestern gedreht, die jetzt Schwestern sind, ist genial, keine Widerrede.

Der Mensch, reduziert auf seine Körperfunktionen und eingesperrt in eine Art Kokon, merkt nicht, was mit ihm geschieht, weil seinem Gehirn eine Scheinwelt vorgegaukelt wird, in der es Liebe und Verrat gibt, Schwerkraft und blutige Verletzungen, Karriere, gutes Essen und überhaupt all das, wofür es sich zu leben lohnt. Die Matrix soll hier von der «Wahrheit» ablenken – von einer Dunkelheit, in der Maschinen regieren, die die Energie aus den Kokonfabriken brauchen und die Städte längst vernichtet haben. Morpheus kennt diese «Wahrheit».

Er versteckt sich mit seinen Leuten in der realen Welt und geht nur in die Matrix, weil er glaubt, den Auserwählten gefunden zu haben. Die Propaganda-Matrix ist anders. Dieser Matrix können wir nicht ausweichen. In unserer Welt gibt es weder das sagenumwobene Zion, eine Stadt tief unter der Erdoberfläche, in der die letzten «freien Menschen» auf die Revolution warten dürfen oder wenigstens so gut leben, wie das nach der Apokalypse und ohne Matrix eben geht, noch Schiffe wie die Nebukadnezar, die alles zum Guten wenden sollen, gelenkt von einem charismatischen Kapitän wie Morpheus. In unserer Welt gibt es keine Trennung zwischen hier und dort, zwischen einem Kunstprodukt, das die Wahrnehmung blendet, und einer «Realität», wie düster sie auch immer sein mag. Unsere Welt wird von der Propaganda-Matrix geformt. Wir sehen das, was wir im Elternhaus, in der Schule und im Beruf gelernt haben und was von der Presse, Radio und Fernsehen pausenlos wiederholt wird, natürlich auch online.

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Die Realität der Massenmedien ist genauso real wie der Baum, den wir im Wald umarmen können, der Polizist, der unsere Papiere checken will, oder der Fluss, den wir ohne Brücke schlecht überqueren können. Eine Realität erster Ordnung, sagt Michel Foucault, einer der Sterne, denen dieses Buch folgt. Bei diesem französischen Philosophen heisst die Matrix Diskurs… Diskurs: Das ist bei Michel Foucault kein Gespräch, in dem man sich gegenübersitzt, Argumente und Gedanken austauscht und am Ende womöglich sogar etwas vereinbart. Diskurs steht hier für eine «theoretische Struktur», die unser gesamtes Verhalten steuert – ein «System», das zwar an unterschiedlichen Orten zu verschiedenen Zeiten jeweils anders aussehen kann, aber als Prinzip überall präsent ist und das freie «Denken» und Handeln einzäunt. «Wir denken stets innerhalb eines anonymen, zwingenden Gedankensystems, das einer Zeit und einer Sprache angehört.»…

Ich weiss nicht, ob Lilly und Lana Wachowski Foucault gelesen haben, als sie noch Andy und Larry waren und sich Morpheus, Neo und Trinity ausgedacht haben. Ich weiss aber noch, wie ich 1999 aus einem Kino in Leipzig kam und dachte: Wow. Es geht doch. Man kann eine sozialwissenschaftliche Theorie tatsächlich so verfilmen, dass das Publikum im Saal Gänsehaut bekommt und Tränen der Glückseligkeit weint. Zumindest ich. Man kann dieses Buch als Fortsetzung des Films lesen, als eine Art Making-of vielleicht, in dem es um das geht, was Michel Foucault viel mehr interessiert hat als die Matrix selbst: Wer schreibt das Programm?

Wie kommt es, dass wir immer wieder Markus Söder sehen, Markus Lanz und manchmal sogar Markus Babbel, aber kaum etwas «wissen» über, sagen wir, die besten Gemüsebauern vom Niederrhein? Und vor allem: Wer zieht die Grenzen des «Sagbaren» – nicht daheim auf der Fernsehcouch oder am Stammtisch, sondern in den Leitmedien und damit da, wo es darauf ankommt, weil hier alle (wirklich alle) das «Gedankensystem» à la Foucault sehen können und oft gar nicht mehr merken, dass es sich um ein Gefängnis für den Verstand handelt?…

Heute diskutiert der Journalismus über «Haltung» und zieht Grenzen. Verschwörungstheorien, Fake-News und Hate-Speech, Populismus. Überhaupt das Internet und dann gleich die Strasse.

«Wir» wissen, was «man» von diesem zu halten hat und was von jenem. Wenn einer der Netzgiganten einen Account sperrt oder einen Kanal, dann wir geklatscht, solange es die «Richtigen» trifft. Donald Trump zum Beispiel, Ken Jebsen, Ovalmedia und Robert Cibis oder die Stiftung Corona-Ausschuss. Und wenn das jemand «Cancel-Culture» nennt, auf die vielen «Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten oder unsichtbar Gewordenen» verweist und öffentlich fordert, das «freie Denken und Sprechen» aus dem «Würgegriff» der «Gesinnung» zu befreien, dann schreiben «wir» einfach, dass es das alles gar nicht gibt. Cancel Culture? Eine «paranoide Reaktion» auf eigenes Versagen, mehr nicht.

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Michael Meyen ist seit 2002 Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München und arbeitet dort mit angehenden Journalisten, PR-Profis und Medienforschern. Meyen schreibt auch regelmässig auf seinem Blog Medienrealität. Über sein jüngstes Buch sprach er unlängst mit Jens Lehrrich auf Rubikon.

Michael Meyen, «Die Propaganda-Matrix – Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft». Rubikon, München 2021. ISBN: 978-3-96789-020-4, 224 Seiten. 18 Euro. Weitere Infos und Bestellung hier.

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