Auf einem der Bildschirme, vor denen ich wie ein Börsenhändler sitze, spricht gerade Frau Wagenknecht. In der Video-Reihe allesaufdentisch verweist sie darauf, dass mit den Begriffen von der „Pandemie“ oder gar der „Tyrannei der Ungeimpften“ eine Hexenjagd vom Zaun gebrochen wurde, die ganz offenbar nur einem Ziel dient: Vom andauernden politischen Versagen abzulenken. Noch vor wenigen Tagen hatte ich in einer Persiflage („Abba nicht doch”) dieselbe, gemeinte Endloskette von Fehlleistungen hinter Satire versteckt. Erfolglos. Der Beitrag wurde mit dem Verweis auf Verstöße gegen „Gemeinschaftsstandards” entfernt. Gut, ich bin dagegen geimpft. Andere nicht.
Wagenknecht hat völlig Recht. Mit dem Schrei „Haltet die Ungeimpften!” urteilt die politische Führung keineswegs über Sinn und Unsinn von Impfungen. Wie auch. Für derart komplexe Geschehnisse ist die auf tagesaktuelle Vermeidungsstrategien abgerichtete Denkweise des Homo Politicus gar nicht geeignet.
Nein, es bietet sich einfach an, die Aufmerksamkeit wegzuhalten von der Endloskette der Fehlentscheidungen. Weg von der Masken-, Schutzkleidungs- und Impfstoffbeschaffungsschmonzette. Weg von den Fehlprognosen über die Übertragungswege, die gesundheitlichen Gefahren und den zu erwartenden Verlauf. Weg vom Informationschaos. Den gescheiterten Apps. Weg von den, nach 30jährigem Geschwafel über Digitalisierung noch immer vorsintflutlichen Datenübermittlungen per Fax. Weg vom metastasierenden Regelsprech mit AHA und R-Wert und G und 2G und 3G und vielen Pluszeichen, das sich nahtlos in den Ersatz einer facettenreichen, differenzierenden Kultursprache durch die infantile Zeichensprache der Technokratie fügt.
Weg von den Selbstmordraten
Man möchte möglichst weit weg von den -zigtausenden ausgehungerten Existenzen in Kultur, Tourismus, Einzelhandel. Weg von den Irrsinnssummen, die – auf den Markt geworfen – nun eine weitere Umverteilungsmaschine namens Inflation angeworfen haben. Weg von den psychischen Belastungen in den Familien durch die über Monate geschlossene Kitas und Schulen. Weg von den Selbstmordraten. Weg von den isoliert gestorbenen Alten. Weg vom flächendeckend verminten Trümmerfeld der sozialen Spaltung, wo direkt unter den eigenen Füßen jederzeit die Sprengsätze hochgehen können. Der Hysteriepegel muss gehalten werden. Solange jedenfalls, bis die nächste auf Eis liegende Sau ausreichend wild gemacht worden ist, und einer eventuell aufziehenden Verweigerung der Gefolg- und Zahlungsbereitschaft der Massen schnaubend und quiekend im Weg steht.
Im Video wird Frau Wagenknecht vom Kabarettisten Reiner Kröhnert befragt. Der stammt aus der vormals gut situierten Unterhaltungsbranche. Einem Milieu, das bis dato ganz ordentlich vom stetig Gold scheißenden Gebührenesel lebte, dem nun aber die Auftritte, Sendezeiten und Gagen wegbrechen. Die Kulturschaffenden bekommen nicht mal mehr den gewohnten warmen Beifall. All die preiswerten Bekundungen, die noch vor Jahresfrist den systemrelevanten Pflegekräften von den Balkonen aus entgegenbrandeten. Die statusbewussten Wort- und Haltungskünstler wurden statt dessen mit Almosen ruhiggestellt, die sie vermutlich demnächst (mit satten 5 Prozent über dem sonst üblichen „Basiszinssatz“ von Nullkommanichts verzinst) sogar noch zurückzahlen müssen. So etwas schmerzt selbst die Zeichensetzer von Gestern.
#Wirwerdenmehr, könnten sie jetzt wieder feststellen. Mit der irritierenden Einschränkung, dass sie nun auf der dunklen Seite des Universums erwachen. Sie werden zensiert. Ihre Stimmen und Gesichter verschwinden in den Netzwerken, von den Bildschirmen und den wenigen verbliebenen Bühnen. Man stimmt ihnen nicht nur nicht mehr zu, nein – man muss sich bei jeder Gelegenheit von ihnen öffentlich distanzieren. Auftritts- und Aufstellungsverbote werden gefordert. Ziemlich genau das also, was aus ihren Reihen eben noch mit den wahren Aussätzigen veranstaltet wurde. Den Hassern, Hetzern, Schwurblern, Aluhüten und Nazis, die ihnen in nie pausierender, „investigativer“ Enttarnungsarbeit aus den Redaktionsstuben vor die Flinte geworfen wurden. Gerade noch waren Hell- und Dunkeldeutschland in Ordnung und schon muss man sich von „wunderbaren Kollegen“ achselzuckende Entschuldigungsformeln anhören: „Es tut mir leid, Du weißt ja wie das ist! Ich kann nicht mit dir zusammen…man sieht sich!“
Lichtgestalten fallen durchs Raster
Nein, weder Wagenknecht noch Kröhnert sind hier geeignete Beispiele; da sind andere zu nennen. Autoren, Sportler, Bildende Künstler aus den vordersten Reihen. Eben jene, die sich gerade eben noch ziemlich einig darüber waren, wo sie hingehören und wohin keinesfalls. Jetzt fallen Lichtgestalten durchs Raster. Neben dem Ballartisten Kimmich trifft es Geistesakteure wie Aust, Precht, Liefers, Flaßpöhler, Prantl, Drosten. Sogar Markus Lanz – der Stiefeletten-Windschlupf mit dem zweifellos höchsten Cw-Wert unter den Abendtalkern – musste sich unlängst ob seiner allzu eigenständig denkenden Gäste öffentlich vom bestellten TV-Großinquisitor maßregeln und am Stuhlbein sägen lassen. Den Grundsound der Zeit liefern die Empörungsorkane in den Twittercharts. Und der „Tagespiegel” sah mit den Genannten und ihren leisen Zweifeln an der Existenz der einzig wahren Haltung gar das Mittelalter aufziehen. Klar – die Meute will gefüttert werden.
Sehr viele der Abtrünnigen, die nun als Moderatoren auf #allesdichtmachen und in unzähligen ähnlichen Diskursräumen auftauchen, waren bis eben – mehr oder weniger eifrig – in genau dem Räderwerk tätig, dass sie nun sie selbst ausspuckt. Die Zustände im Land waren ihnen herzlich egal, solange es das Leben der Anderen in den Vorstädten betraf. Nicht das Abrutschen im Bildungsranking wurde kritisiert, nicht die domestizierten Journalismusdarsteller. Nicht die völlig aus dem Ruder laufende Energie- und natürlich nicht die, von der restlichen Welt mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommene deutsche Migrationspolitik. Nicht die Verwandlung des Landes der Dichter und Denker, der Erfinder, Ingenieure und Organisationsweltmeister in ein einziges scheiterndes Debakel. Nein, ihre Kritik, ihre Belehrungen, ihre Verurteilungen und Schmähungen galten stets den wenigen Mutigen, die sich – mehr oder weniger versiert – diesem Absturz in den Weg zu stellen versuchten. Das Schicksal ist eben doch eine Schlampe. Nie hätte man einen derartigen Liebesentzug in den Reihen der E- und U-Schaffenden für möglich gehalten. Das besiegt geglaubte deutsche Nie-Wieder-Monstrum hat sich durch die Hintertür eingeschlichen. Es ist wieder da.