Horst D. Deckert

Mit „Moses-Impfungen“ aus der Pandemie?

Jetzt wird’s biblisch: Winfried Kretschmann

Das Impfen ist der Moses, der uns aus dieser Pandemie herausführt“, dozierte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf dem Grünen-Parteitag über die Erlösung aus seiner „Pandemie biblischen Ausmaßes“. So jedenfalls zitierten die Zeitungen den Ministerpräsidenten im Originalton. Sich selbst allerdings traut er diese Führung –  angesichts der beschämenden Corona-Situation in Baden-Württemberg – wohl nicht mehr zu: Sein Ländle wartet mit der höchsten 7-Tage-Inzidenz der „alten“ Bundesländer auf –  und mit immer weniger freien Krankenhausbetten. Deshalb beschwört der grüne Landesvater nun also Moses, die alttestamentarische Rettergestalt, die einst ihr israelisches Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft herausführte und von der pharaonischen Willkürherrschaft befreite. Schon das unterscheidet den damaligen Gottesmann vom heutigen Möchtegern-Moses Kretschmann: Heute gilt die Willkür nicht mehr Fremden, sondern dem eigenen Volk.

Die Frage drängt sich auf: Hat Kretschmann überhaupt nachgedacht, wen er da als Problemlöser bemüht? Der biblische Moses führte sein Volk auf einem sehr langen Umweg ins Ziel, das verheißene Land; die wenigsten seines Volkes überlebten den Marsch. Nur kurz zu den historischen Fakten: Es waren damals keine 2,5 Millionen Menschen mit ihren Familien, darunter angeblich 603.550 „wehrfähige Männer“, wie das 4. Buch Mose es überliefert, sondern wohl eher höchstens 40.000 Israeliten, die sich unter Führung ihres Altvorderen auf den Weg machten. Und dieser führte sie nicht auf dem relativ kurzen, direkten Weg ins nur 400 Kilometer entfernte Kanaan, sondern bog mit ihnen – nach dem spektakulären Durchqueren des nördlichen Ausläufers des Roten Meeres (Schilfmeer) – rechts ab bis fast zur Südspitze der Halbinsel Sinai.

Biblischer Irrweg als Vorbild

Von dort ging es zurück Richtung Nordosten, zum Golf von Akaba. Dort drehte Moses eine „Ehrenrunde“ von einigen hundert Kilometern Wegstrecke Richtung Nordnordwest, ehe er endlich auf die „Zielgerade“ einbog und den richtigen Weg ins gelobte Land fand. Nach nicht weniger als 40 Jahren Odyssee und rund 1.200 Kilometern Reiseroute kam er mit nicht mehr allzu vielen seiner Israeliten am Ziel an (Moses selbst schaute das gelobte Land übrigens nur aus der Ferne – und starb kurz darauf, vor der Ankunft). Erst dort erholte sich sein Völkchen vom jahrzehntelangen Exodus – und setze sich mit seinen 12 Stämmen fest. Eine erstaunliche navigatorische Fehlleistung für ein Nomadenvolk, das das Umherziehen in der Wüste gewohnt war. (Die Heilige Familie war 1.200 Jahre später schlauer, sie nahm dann den direkten Weg.) Wer mehr zum Thema erfahren möchte: siehe hier.

Sollte eine solche Irrfahrt tatsächlich als Vorbild für Kretschmanns „Impfoffensive“ taugen? Wohin genau will uns dieser Ministerpräsident eigentlich führen, und vor allem: mit wie vielen Opfern rechnet er? Oder wählte er dieses Beispiel in der Erwartung, dass die Sache irgendwie am Ende zum Erfolg führen werde (koste es, was es wolle), so wie bei Moses – auch wenn ein großer Teil seines Volkes dabei auf der Strecke bleibt? Oder will „Kretsche“ etwa für die Drittimpfung werben, weil auch Moses einen dreifach längeren Umweg eingeschlagen hatte? Nichts von alledem, vermutlich; es dürfte sich bei dem schiefen Moses-Vergleich wohl eher um einen von Kretschmanns zahlreichen Ausflüge ins geistige Nirwana gehandelt haben.

In dieselbe Kategorie fällt eine weitere „Kretschmann-Kostprobe“ von dieser Woche: Bei einem emotionalen Interview im „Südwestrundfunk“ sprach er vom „Abimpfen“ der Stiche in die Oberarme – eine Formulierung, die Assoziationen mit „Abstechen“ wecken könnte. Seien wir froh, dass Kretschmann als erklärter einstiger Anhänger von Mao tse-Tung nicht selbigen als Rettergestalt für sein Volk bemühte! Denn tatsächlich steht Mao neben Moses für einen weiteren „Langen Marsch“ der Geschichte – den der chinesischen Kommunisten, der zu dem Gründungsmythos der Volksrepublik schlechthin wurde. Im Oktober 1935 erreichten von anfangs über 80.000 Mann – lediglich 35 Frauen sollen unter ihnen gewesen sein – nach einem Jahr gerade noch 8.000 Yan’an, das Rückzugsgebiet im abgelegenen Shaanxi im Nordwesten Chinas. Gemäß Maos These „Die Niederlage akzeptieren heißt den Sieg vorbereiten” geriet diese Fluchtburg zur Keimzelle der späteren Herrschaft der Kommunisten über China.

Siegen mit Mao

Anders allerdings als sein einstiges Idol Mao will Kretschmann die Niederlage in der heutigen Coronapolitik, versinnbildlicht in seiner Strategie des „Impfen, impfen, impfen”, partout nicht akzeptieren; vielmehr will er mit der Impfung erst recht siegen. Hier schließt sich dann der Kreis: Mao war, wie Trotzki in Russland, ein Verfechter des Prinzips der „permanenten Revolution“. Einer solchen jedoch hat Kretschmann nach seiner KBW-Zeit zwar abgeschworen. Doch wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen permanenter Revolution und permanentem Impfen? Die noch vollständigere Drittimpfung nach den zwei vorausgegangenen vollständigen Impfungen soll und wird ja ebenfalls bei weitem nicht der letzte Stich gewesen sein. Zum Vergleich: Gegen die Grippe reichte bisher eine (optionale!) Impfung im Jahr.

Kretschmann macht nicht nur Fehler bei seiner Wahl der Worte und bedenklichen Vergleiche; auch sein politisches Handeln ist höchst fragwürdig. Wie sonst wäre es zu erklären, dass er zwar neben dem bayrischen Frontmann Söder das strengste Epidemie-Regime führt und mit seinen autoritären Maßnahmen immer wieder vorprescht, aber trotzdem die schlechtesten Resultate und geringsten Erfolge vorzuweisen hat? Es wird höchste Zeit, dass er das Zepter in andere Hände gibt.

Nach dem von Kretschmann bemühten Alten Testament gab es zur Zeit von Moses in Ägypten zehn Plagen. Da haben wir es in Baden-Württemberg ja noch richtig gut: Hier gibt es nur zwei; eine kleine und eine große Plage. Die kleine ist, dass wir schlechtes Hochdeutsch sprechen. Was die große ist – dazu darf sich jeder seine eigenen Gedanken machen.

 

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