Horst D. Deckert

«Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen»

Brechts «Flüchtlingsgespräche», entstanden in dessen Exil im Jahre 1941, beginnen damit, dass Begriff und Sache in eklatanter Weise auseinanderfallen. Im «Bahnhofsrestaurant von Helsingfors» sitzen zwei vor dem Krieg in Europa geflohene Männer und reden, «sich ab und zu vorsichtig umblickend», über Politik.

DER GROSSE: Das Bier ist kein Bier, was dadurch ausgeglichen wird, dass die Zigarren keine Zigarren sind, aber der Pass muss ein Pass sein, damit sie einen in das Land hereinlassen.

DER UNTERSETZTE: Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. […]

DER GROSSE: Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes. Der Pass wird ihm in die Brusttasche gesteckt wie die Aktienpakete in das Safe gesteckt werden, das an und für sich keinen Wert hat, aber Wertgegenstände enthält.

DER UNTERSETZTE: Und doch könnt man behaupten, dass der Mensch in gewisser Hinsicht für den Pass notwendig ist. Der Pass ist die Hauptsach, Hut ab vor ihm, aber ohne dazugehörigen Menschen wär er nicht möglich oder mindestens nicht ganz voll. […]

Der «Pass» ist zur notwendigen Bedingung des Überlebens geworden, denn «der Pass muss ein Pass sein, damit sie einen in das Land hereinlassen», während alles andere nicht das ist, was es zu sein scheint. Die Begriffe sind willkürlich geworden, teilweise in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Obwohl der Einzelne im «totalen Krieg» vollkommen austauschbar ist und als Einzelner nicht zählt, muss er dennoch eindeutig identifiziert werden können. Die Pässe, so einer der beiden Gesprächspartner,

«gibts hauptsächlich wegen der Ordnung. Sie ist in solchen Zeiten absolut notwendig. Nehmen wir an, Sie und ich liefen herum ohne Bescheinigung, wer wir sind, so dass man uns nicht finden kann, wenn wir abgeschoben werden sollen, das wär keine Ordnung».

Der Pass dient also keinesfalls dessen Trägern, sondern lediglich jenen, die an der Aufrechterhaltung der Illusion einer «Ordnung» interessiert sind, welche es ohnehin längst nicht mehr gibt.

Es würde einen ziemlichen geistigen Aufwand erfordern, die Ähnlichkeiten zur Gegenwart nicht zu erkennen. Nahezu jede Seite, jeder Absatz dieses grossartigen, subtil humorvollen Textes konfrontiert uns beim Lesen nicht nur mit unserer Geschichte, sondern auch mit unserer aktuellen Realität.

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Das Foto zeigt eine Karte, auf die jemand mit einem Füller das wohl wichtigste Zitat dieses Textes geschrieben hat, vermutlich in den 60er-Jahren, denn aus dieser Zeit stammt die antiquarisch erworbene Ausgabe, in der die Karte sich befindet.

Das Papier leicht vergilbt und die Schrift schnörkelig und buchstäblich aus einem anderen Jahrhundert, fällt die Karte beim Aufschlagen aus dem Buch heraus wie eine Mahnung an uns «Nachgeborene». (Brecht hat auch ein berühmtes Gedicht «An die Nachgeborenen» verfasst!)

Vielleicht ist es nun an der Zeit, wieder vermehrt alte Bücher aufzuschlagen. Dabei kann man feststellen, dass alles schon da war: die Probleme, die Verbrechen, aber auch die Lösungen und die Auswege.

Einer der beiden Gesprächspartner in Brechts Dialog, Ziffel, hat beispielsweise grosse Zweifel am Prinzip der «Ordnung»:

«Ich erkenne bloss die ungeheuren Vorteile der Schlamperei. Die Schlamperei hat schon tausenden von Menschen das Leben gerettet. Im Krieg hat oft die kleinste Abweichung von einem Befehl genügt, dass der Mann mit dem Leben davongekommen ist.»

Jener Unordnung, die durch das Auseinanderfallen von Begriff und Sache, durch das Zerbrechen der alten Ordnung, entstanden ist, wäre im Rahmen einer klugen Strategie also damit zu begegnen, dass man sich nicht blindlings einer neuen «Ordnung» (hier einer des Krieges) unterwirft, sondern diese vielmehr durch «Schlamperei» unterläuft.

Erst dadurch kann man nicht nur mit dem Leben «davonkommen», sondern womöglich auch vorankommen. Und das auch noch auf heitere Weise.

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