Horst D. Deckert

Der Aggressor heißt Putin!

Kriegstreiber in jedem Sinn des Wortes: Wladimir Putin (Foto:Imago)

Die gegenwärtigen Vorgänge in der Ukraine beschäftigen auch die freien Medien in besonderem Maße; viele Vertreter der „Gegenöffentlichkeit“ sind geradezu erleichtert, endlich einmal ein anderes Thema zu haben als die lähmende Dauerwurst Corona – mit all ihren Ausblühungen in sonstige gesellschaftliche und politische Bereiche hinein. Auch auf Ansage schreiben zahlreiche Autoren über die gegenwärtige Krise.

Es war von Beginn an der Anspruch dieser Seite, unterschiedlichen und auch kontroversen Sichtweisen eine Plattform zu bieten. Und so mache ich auch heute, als Verantwortlicher dieser Seite, keinen Hehl daraus, dass ich zum Thema Russland-Ukraine eine völlig andere Meinung vertrete als die meisten meiner Autoren. Ich schicke meinem nachfolgenden Beitrag diese Bemerkung voraus, weil sich in einer allgemein aufgeheizten Atmosphäre schon wieder dieselbe unselige Polarisierung abzuzeichnen beginnt, die uns seit zwei Jahren bei Corona begleitet: Was dort nämlich Coronazis vs. Covidioten, Maßnahmenbefolger vs. Freiheitsdemonstranten, Ungeimpfte gegen Demonstranten und Alarmisten vs. „Leugner” sind, findet jetzt seine Entsprechung in „Russlandhassern” vs. „Putin-Verstehern”, oder „Nato-Nutten” vs. „Russland-Trollen”. Das Merkel-Erbe der von mir schon einmal so bezeichneten „Verblödungsspaltung“ wirkt offenbar themenübegreifend.

Tatsächlich existiert eine kausale Verbindung zwischen der diskursiven Kluft bei Corona und der Einordnung des aktuellen Konflikts in Osteuropa: In zwei Jahren „Pandemie“ ist dermaßen viel Vertrauen in hiesige Medien, in die Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit der Politik an sich verloren gegangen, dass viele eine grundsätzliche Fundamentalopposition gegenüber jedem „westlichen” Narrativ, praktisch jeder Mainstream-Darstellung einnehmen. Das bei Corona sehr wohl begründete Misstrauen hat viele leider blind gemacht für jegliche objektive Wahrnehmung-  und sie wittern Lüge selbst dort, wo die ansonsten desavouierten und fragwürdigen Vertreter des journalistischen und politischen Establishments einmal ausnahmsweise richtig liegen.

Ein großes Missverständnis

Das ist der Hauptgrund dafür, dass viele Kolumnisten und Blogger auch in der gegenwärtigen weltpolitischen Krise nicht nur fast zwanghaft vom genauen Gegenteil dessen ausgehen, was ihnen die in den meisten Fällen tendenziösen Medien auftischen; sie machen sich so leider auch empfänglich für die Propaganda der Gegenseite, die ihre Ressentiments dankbar ausnutzt und sich als Gegenmodell zu ihren in den letzten zwei Jahren kultivierten Feindbildern inszeniert: Putin und Russland als Gegenentwurf zum Great Reset, zum Globalismus, zur Islamisierung, zur westlichen Dekadenz und Verweichlichung. Nichts davon ist objektiv haltbar; im Gegenteil; doch die neuentdeckten prorussischen Apologeten wollen, ja sie können dies nicht verstehen: Sie sind mit derselben Blindheit geschlagen, die jahrzehntelang die westlichen Kommunisten und viele Linke der BRD gegenüber dem Sklavenhalterstaat Sowjetunion an den Tag legten, wenn es um die Greuel des Stalinismus oder Maoismus ging, oder um die wahre Natur des DDR-Systems. Sie halten die Feinde ihrer Feinde automatisch für ihre Freunde. Ein fataler, ja tödlicher Irrtum.

Und so kommt es auch, dass viele mainstream-kritische Autoren gerade der freien Medien dieser Tage mit Inbrunst meinen, „westliche Lügengebäude” de-bunken zu müssen und der russischen Position so zur Ehrenrettung zu verhelfen. Ob sie es wollen oder nicht, ob bewusst oder unbewusst: Sie machen sich damit zu nützlichen Idioten eines Autokraten, der wie alle Herrscher von Regimes mit Großmachtansprüchen austestet, wie weit er gehen kann. Und Putin kann verdammt weit gehen, soviel steht fest – denn aufhalten wird ihn so schnell wohl niemand.

Hier mischen sich abgestandene, plumpe Anti-Amerikanismen in eine westlichen Zivilisationsmüdigkeit, paart sich ein Überdruss an westlicher Selbst- und Identitätsverleugnung mit der Idealisierung politischer Stärke und nationaler Selbstbehauptung, wie man sie im russischen Diktator verwirklicht sieht. Dass den holzschnittartig erkannten positiven Aspekten des russischen Systems ganz grauenhafte Schattenseiten entgegenstehen, blenden unreflektierte Putin-Fans dabei geflissentlich aus. Ausgerechnet sie, die sie hierzulande zu Recht eine zunehmende Zensur und Steuerung der Medien beklagen, ignorierten in Putin-Russland fast alltägliche Mordanschläge gegen unzählige Journalisten, darunter etwa Aleksander Jefremow, Igor Domnekow, Nowaja Gaset, Anna Politkowskaja oder Nasche Wremja, oder die Enteignung und Zerschlagung kritischer Sender. Sie negieren russischen Staatsterrorismus oder relativieren ihn durch Vergleiche mit hiesiger Polizeigewalt gegen Demonstranten – obwohl Welten zwischen diesen Exzessen liegen.

Blindheit für Fehlentwicklungen auf beiden Seiten

Dass man beides kritisieren kann, die Fehlentwicklungen im „besten Deutschland aller Zeiten“ UND die in einer Kleptokratie wie Russland – das kommt ihnen nicht in den Sinn. Ausgerechnet Putin zur letzten Verteidigungslinie gegen „Globalisten” zu erklären – einen Potentaten also, der nur durch radikalkapitalistische Großoligarchen an der Macht gehalten wird, die allemal stärkere Zentralisierungs- und Weltherrschaftsmotive verfolgen als Bill Gates und George Soros zusammengenommen -, ist ein bizarrer Treppenwitz.

Oh ja: Man kann auch die Politik der Ukraine in den letzten acht Jahren kritisieren -aber ohne dass man damit gleich einem militärischen Überfall das Wort redet. Es trifft zu: das Land hat das Minsker Abkommen nie hinreichend implementiert; es hat die russischstämmigen Ukrainer im Donbas nicht zurückzugewinnen versucht, sondern bekriegt; in Kiew regieren heute dieselben korrupten Eliten wie in Moskau oder Mink, diesbezüglich sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Der Populist Wolodymyr Selenskyj ist sicherlich nicht der liberale Saubermann, als der er von der EU und Deutschland gefeiert wird. Seine Catch-all-Partei Sluha narodu („Volksdiener“) ist eine nationalistische Sammelbewegung mit radikalen Rändern, und ohne den Hintergrundsupport des zwielichtigen Oligarchen und Multimilliardärs Ihor Kolomojskyj wäre Selenskyi heute noch ein zweitklassiger Komiker.

Und trotzdem stimmt an der russischen Legendenbildung, in Kiew regierten „Neonazis“ oder „Rechtsextremisten”, praktisch nichts. In die Welt gesetzt wurden diese Behauptungen erstmals von dem 2014 im Zuge der Euromaidan-Proteste abgesetzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowytsch, der mit tatkräftiger Unterstützung russischer Medien aus dem Moskauer Exil behauptete, rechte Nazitruppen hätten die zu seinem Sturz führenden Krawalle maßgeblich getragen – eine längst widerlegte Desinformation, gedacht zur Diskreditierung der Kiewer Proteste im Ausland, die unter grotesker Aufbauschung der eigentlichen Bedeutung der „Nationalgarde Asow” erfolgte. Dass Janukowytschs Nachfolger, der Großunternehmer Petro Poroschenko, 2019 dann von einer überwältigenden Mehrheit von über 73 Prozent der Ukrainer – und zwar in auch von der OSZE anerkannten, ordentlichen Wahlen – ab- und Selenskyi ins Amt gewählt wurde, widerspricht dieser aktuell gerade wieder massiv verbreiteten Falschdarstellung (es sei denn, man wolle Dreiviertel aller Ukrainer zu Neonazis stempeln; das schafft nicht einmal Nancy Faeser bei den Deutschen!). So oder so, auch wenn die Regierung Selenskyi hochumstritten ist: Sie ist in jedem Falle legitim.

Interessenwahrung von „Pass-Russen”

Die vermeintlich gegen die „westlichen Medienlügen“ immunen Hobby-Faktenfinder im aktuellen Konflikt deuten das gestrige russische Einschreiten auch diesmal wieder – wie schon im Fall der Krim-Okkupation 2014 – als legitime „friedenssichernde” oder gar „humanitäre” Operation. Dabei gibt es wenige Konflikte der Geschichte, in denen die Frage nach dem Aggressor eindeutiger zu beantworten war als hier: Russland hat in den jetzt anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk seit acht Jahren künstliche „Pass-Russen“ geschaffen – und den verbliebenen Ostukrainern, die nicht erfolgreich vergrault wurden (und seither als Binnenflüchtlinge im Rest des Landes unterkommen mussten) russische Pässe ausgestellt, ohne die man zuletzt am öffentlichen Leben dort weniger teilhaben konnte, als unsereins hierzulande ohne Impfnachweis.

Auf diese Weise wurde der Anteil der „Russen” dort auf scheinbare Mehrheitsverhältnisse aufgeblasen, mit denen jetzt die Ukraine – und nicht Russland – als die eigentliche illegitime Besatzungsmacht dargestellt wird. Tatsächlich sind die russischsprachigen Bevölkerungsteile – in Charkow und Donesz fast 75 Prozent –  keineswegs alle „ethnische Russen”. Die Gleichsetzung von Sprache und Nation ist hier eine völlig propagandistsiche. Deutschland hätte unter Zugrundelegung solcher Kriterien mehr Anlass, im Elsass, in Österreich und Südtirol oder in Nordschleswig einzumarschieren, als Russland hier. Doch es geht ja längst um mehr: Die nunmehrige Ausweitung des Militäreinsatzes von einer „Schutzmission“ zum erklärten Regime-Change in Kiew, was die Invasion der Gesamt-Ukraine einschließt, zeigt die taktische Skrupellosigkeit Putins.

Viel ist bereits geschrieben worden über das Fehlverhalten des Westens gegenüber Russland und die vorgeblichen „Ungerechtigkeiten” zu dessen Lasten, dass ich auf dieses hochkomplexe Thema an dieser Stelle nicht allzu tief eingehen will. Nur soviel nochmals: Die, die an die vermeintlich schlüssige These vom „Wortbruch“ glauben, blenden ganz wesentliche Details aus. Erstens hat es ein völkerrechtlich bindendes „Versprechen” des Westens, eine NATO-Osterweiterung werde für alle Zukunft ausgeschlossen, schlichtweg nicht gegeben. Was US-Außenminister James Baker am 9. Februar 1990 gegenüber dem russischen Außenminister Edward Schewardnadse mündlich tatsächlich erklärt hatte, war dies: die NATO werde sich „nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen”, wenn – wesentliche Bedingung –die Sowjetunion der Wiedervereingung Deutschlands zustimmen werde. Laut Gorbatschow hätten US-Präsident George H. Bush bzw. Baker später ihm gegenüber wiederholt: „Jedwede Ausdehnung der NATO wäre sicherlich inakzeptabel für die Sowjetunion.

Der Mythos des gebrochenen Versprechens

Fakt ist, dass das Thema dann in den späteren Verhandlungen Helmut Kohls mit Gorbatschow keine Rolle mehr spielte; möglicherweise ging der letzte KPDSU-Generalsekretär davon aus, dass über die Absprache ohnehin Einvernehmen herrschte. Tatsache jedoch ist: In keinem einzigen Kommuniqué zur Einheit, vor allem aber auch nicht im – in Moskau unterzeichneten! – Zwei-plus-vier-Vertrag vom 12. September 1990, der die deutsche Teilung und damit die Nachkriegsordnung final besiegelte, wurde dieser – für die sowjetische Position doch vermeintlich so elementare – Punkt auch nur erwähnt geschweige denn geregelt.

Was den meisten altklugen Revisionisten, die Russland seit langem als Betrogenen darstellen, in ihrem westlichen Selbsthass und NATO-Argwohn gar nicht mehr aufzufallen scheint: Selbst wenn dieses Versprechen in völkerrechtlich bindender Form abgegeben worden wäre, dann wäre es ohnehin gegenüber der Sowjetunion – also einem seit über 30 Jahren erloschenen staatsrechtlichen Gebilde – und nicht gegenüber Russland – das damals als souveräner Staat gar nicht existierte – abgegeben worden. Russland war zwar die größte „Teilrepublik”, aber eben doch nur eine von 15 Unionsrepubliken der UdSSR; und auch wenn die übrigen 14 einst durch bolschewistische Gewaltherrschaft unter die rote Fuchtel kamen: Sie waren nie russisch, sondern stets unterworfene Territorien.

Die unerträgliche Gleichsetzung von „Russland“ mit der „Sowjetunion“ greift geschichts- und gedankenlos die imperialistische Sichtweise des Kalten Krieges auf, die seit dem 21. Dezember 1991 – der Auflösung der UdSSR – obsolet wurde und heute von Putin wieder wie selbstverständlich beansprucht wird. Völlig vergessen wird im Kontext dieses Blinden Flecks auch, dass die Ukraine, ebenso wie die von Russland bis heute gleichsam beanspruchten Kaukasus-Republiken – Teil der Sowjetunion war, und dass jegliche damals vom Westen gegenüber dieser abgegebenen Sicherheitsgarantien auch von der Ukraine hätten reklamiert werden können – und eben nicht nur von Russland. Der angemaßte Alleinvertretungs- und Nachfolgeanspruch von Russland als eines von mehreren Relikten der GUS-Staaten ist ahistorisch und ein Affront gegen seine Nachbarländer.

Selektive Würdigung des Selbstbestimmungsrechts

Sowieso also setzte die oft kritisierte Osterweiterung der NATO erst zu einem Zeitpunkt ein, da das totalitäre Konstrukt, dem hier angeblich das Gegenteil versprochen wurde, längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war. Was seitdem – und bis heute – ebenfalls vergessen wird: Diese Erweiterung erfolgte – anders als die einstige Formierung ihren früheren Antagonisten Warschauer Pakt – nie durch Gewalt und Usurpation, sondern ausschließlich auf Wunsch der betreffenden Bündnisstaaten und ihrer Völker hin – im Falle der osteuropäischen NATO-Neumitglieder wohlgemerkt nach einer 80jährigen sowjetischen Unterdrückungserfahrung, die ihre Einwohner unbedingt nach der Sicherheit des westlichen Bündnisses trachten ließ. Wer immer über diese Bündniserweiterung heute zynisch als einen strategisch in Brüssel oder Washington geplanten, heteronomen NATO-Akt redet, setzt sich damit kaltschnäuzig über die Tatsache hinweg, dass die NATO-Aufnahme der betreffenden Staaten in strikter Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechts und ihrer Souveränität erfolgte. Ironischerweise negieren dies jetzt dieselben, die das „Selbstbestimmungsrecht” im Fall der ukrainischen Donbas-Russischstämmigen über alles stellen.

Eine andere Frage ist, ob der Westen diese NATO-Erweiterung nicht deutlich diplomatischer, mit klareren Sicherheitszusagen gegenüber Russland hätte verbinden müssen: Dass etwa nie fremde Truppen oder ballistische Waffen des Bündnisses in unmittelbaren Nachbarstaaten stationiert würden, oder es etwa demilitarisierte Pufferzonen geben könne, hätte man in multilateralen Abkommen festlegen können, in Verbindung mit Wirtschafts- und Aufbauhilfen für das damals noch marode Russland. Hier nicht frühzeitig auf russische Sorgen Rücksicht genommen zu haben, kann als historisches Versäumnis vor allem des US-Präsidenten Bill Clinton, aber auch seiner Nachfolger gesehen werden. Vielleicht hätte man auch zumindest für bestimmte Übergangsfristen Assoziierungsabkommen mit den baltischen Staaten, Polen und anderen Grenzstaaten Russlands schließen können, statt sie gleich zu vollwertigen Bündnispartnern zu machen.

Konfrontation und Provokation

Zur – aus heutiger Sicht skurril anmutenden – Wahrheit gehört allerdings auch, dass Russland selbst lange Zeit als NATO-Beitrittskandidat gehandelt wurde und diese Option von der russischen Regierung aktiv verfolgt wurde: Putins Vorgänger und Mentor Boris Jelzin erhob es nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident gar zum „langfristigen Ziel der russischen Außenpolitik”. Barraskopf, Geheimdienstveteran und Kalte Krieger Wladimir Putin, aus dem die alte Sowjetunion so wenig herauszubekommen ist wie SED und Agitprop aus Angela Merkel, war dies von Beginn an ein Graus gewesen; er brauchte einen wiederentflammenden oder dauerschwelenden Ost-West-Konflikt zwingend für seine großrussische Renationalisierungspolitik – weshalb entsprechende Bestrebungen spätestens mit seiner Berufung zum Ministerpräsidenten 1999 (noch unter Jelzin) wieder begraben wurden. Seither setzt Putin ausnahmslos auf Konfrontation und Provokation. Dass sich übrigens andere, zeitgleich mit Russland, nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Unabhängigkeit gelangte GUS-Staaten – namentlich die Ukraine – durch die Osterweiterung nie „bedroht“ fühlte, obwohl sie dazu doch theoretisch denselben Grund gehabt hätten wie Russland (mit der bezeichnenden Ausnahme Weißrusslands, das deshalb auch nicht ohne Grund als russischer Vasallenstaat bezeichnet werden muss), ist übrigens bezeichnend: Auch hier reproduziert sich wieder das alte Ost-West-Denken mit Russland als vermeintlich einzigem legitimen Erben der Sowjetunion.

Der Westen hat Russland in den letzten 30 Jahren zweifelsohne wiederholt gedemütigt und degradiert; man denke nur an die irrwitzige Verhöhnung durch Barrack Obama als „Regionalmacht“; so etwas verzeiht die chronisch gekränkte russische Seele nicht. Dass das Land allerdings „umzingelt“ sei, ist ein großer Unsinn: Wer einen Blick auf einen Globus wirft, dem wird unweigerlich auffallen, dass ein fast die gesamte nördliche Erdhemisphäre umspannender Staat mit 11 Zeitzonen zwangsläufig auf allen Seiten an „Feindesland“ grenzen muss, genauer: an zwölf Länder, ihrerseits zum Teil riesige Staaten – so dass die Erwartung, alle Nachbarn dieses flächenmäßig mit weitem Abstand größten Landes der Erde müssten dessen Sicherheit- und Machtsphäreninteressen gefälligst vorauseilend würdigen, doch reichlich anmaßend erscheint.

Zerrbild NATO

Und wenn wir in diesem Kontext über die NATO sprechen, sollte doch vor allem ihre unselige Gleichsetzung mit „den USA” in der Diskussion dringend unterlassen werden: Die NATO ist weder von ihrer Militärdoktrin noch ihrer strategischen Ausrichtung her offensiv. Sie ist alles – aber ganz sicher kein „Kriegstreiber”; von ihr gingen und gehen keine permanenten eskalativen Seehoheitsgebiets- oder Luftraumverletzungen Russlands aus, wie sie umgekehrt seit Jahren an der Tagesordnung sind. Sie führte auch keine provokativen Manöver in russischer Grenznähe durch, und ihre Führer bemühten – mit Ausnahme vielleicht im Balkankrieg gegen Serbien – keine Kriegsrhetorik. Noch heute könnte sich Russland der NATO theoretisch jederzeit aus freien Stücken anschließen; das manichöäische Schwarzweiß- bzw. Freund-Feind-Denken, das ein von Natur und Sozialisation aus zynischer und misstrauischer Machtpolitiker wie Wladimir Putin zeitlebens nicht mehr überwinden wird (und das von vielen seiner westlichen Sympathisanten gerade wieder neu entdeckt wird) macht derartige Überlegungen natürlich zur völligen Illusion. Dennoch: Die Möglichkeit bestünde jederzeit – weil eben die pazifistische Durchtränkung des Westens, die uns gerade jetzt einmal wieder zum Verhängnis wird, keine „Feinde“ mehr kennen will.

Dass die angeblich so „aggressive”, „provozierende”, „russisches Leben bedrohende” und „an Russland immer näher heranrückende” NATO in Wahrheit nicht nur keinerlei Gefahr darstellt, sondern eine geradezu pathologische Neigung zu Frieden und Unterwerfung verinnerlicht hat: Dies wird doch paradoxerweise gerade durch die derzeitige Krise unter Beweis gestellt – womit auch Putins Rechtfertigung, es handele sich hier um die „Wahrung russischer Sicherheitsinteressen”, als kompletter Nonsens entlarvt ist. Denn welche reale Offensivgefahr soll von einem angeblich „säbelrasselnden” und „kriegstreiberischen” Bündnis ausgehen, das eine militärische Aggression in seinem unmittelbaren Vorgarten sehenden Auges geschehen lässt? Nicht einmal auf den nachweislich mit einem russischen Buk-Waffensystem erfolgten Abschuss des Fluges MH17 mit 298 Toten im Juli 2014 hin hat der Westen klare Kante gezeigt – und so auch jetzt wieder: Putins Truppenaufmarsch ist seit Monaten bekannt. Was glaubten die Idioten in Brüssel, Paris und vor allem Berlin eigentlich, was Putin mit diesen Truppen vorhatte?

Heim ins Reich – wie in den 1930ern

Was hier tatsächlich abläuft – und dies schon praktisch über die gesamte Amtszeit Putins hinweg – ist die Umsetzung eines Masterplans zur Reinstallation des einstigen sowjetischen Einflussgebietes unter Vorherrschaft des Kreml. So wie zuvor im Falle von Tschetschenien, Ossetien, Georgien, Transnistrien/Moldau und zuletzt auf der Krim setzt Putin hier eine lupenreine Blut- und Boden-Doktrin um, die der „Heim ins Reich”-Politik Hitlers in dessen ersten sechs „friedlichen“ Jahren  seiner Herrschaft (1933 bis 1938) aufs Haar gleicht: Wer damals irgendwo in Europa Deutsch sprach, galt dem Reich als „Deutscher” – und entweder kam er selbst zurück ins Reich, oder das Reich bald schon kam zu ihm.

Die Masche, dass ein Regime sich zur „Schutzmacht” von Minderheiten im Ausland aufspielt, deren Interesse dann über nationale Integrität, geltende Grenzen und souveräne Daseinsberechtigung der betreffenden Staaten gestellt wird und so am Ende eine Annexion begründet, funktioniert immer dann bestens, wenn ihm keine Gefahr durch ein zum Handeln entschlossenes Ausland droht. Das traf auf den Westen der Dreißiger Jahre zu, der Hitler eine Provokation und Restitution nach der anderen durchgehen ließ – von Remilitarisierung des Rheinlandes über die Rücknahme Eupen-Malmedys oder der Saar über den „Anschluss“ Österreichs bis zur Angliederung des Sudetenlandes und schließlich zur der „Erledigung der Rest-Tschechei”. All dies ging solange gut, wie im Westen Appeasement-Politiker das Sagen hatten, die sich von Nazi-Deutschland nach Strich und Faden vorführen ließen – und es traf erst dann auf echten Widerstand, als Hitler sein Blatt mit der Invasion Polens überreizte – und in England mit Winston Churchill ein zur Gegenwehr entschlossener Rivale ans Ruder kam.

Der heutige Westen tickt wieder ganz genau so wie die Kreidefresser Edouard Daladier und Neville Chamberlain damals, die von Hitler verachtet und (zu Recht) als Schwächlinge bezeichnet wurden, spätestens seit sie mit der Münchner Konferenz den moralischen Totalbankrott der Demokratien gegenüber den faschistischen Diktaturen erklärt hätten. Putin spürt heute instinktiv genau dieselbe Schwäche – und deshalb wird er – wie einst Hitler – mit jeder weiteren „letzten territorialen Forderung“ neuen Hunger bekommen.

Ein neuer Churchill ist nicht in Sicht

Mit dem fatalen Unterschied allerdings, dass ein neuer Churchill heute nirgends in Sicht ist: In Washington regiert ein seniler, umnachteter Fremdbestimmter; Macron und Scholz sind zahnlose Tiger und Dampfplauderer; einzig Boris Johnson – und natürlich die osteuropäischen Regierungschefs – wären zwar konfliktfähig, sind aber alleine machtlos. Und wenn die Ukraine demnächst erfolgreich zum russischen Satelliten- oder Vasallenstaat umgewandelt ist und sich die Lage stabilisiert haben wird, so werden spätestens nach ein paar Jahren die nächsten Staaten mit angeblich nach „Autonomie” lechzenden russischen Minderheit an der Reihe sein: Lettland, Estland, Litauen, vielleicht auch Finnland oder Polen – und möglicherweise werden Europa und Amerika sogar dann stillhalten und einen Bündnisfall vermeiden, wenn es sich dabei um NATO-Länder handeln sollte. Nichts ist mehr unmöglich.

Für die Feigheit des Westens gibt es zumindest im Fall Deutschlands eine einleuchtende Erklärung: Hier glaubt ein gutmenschliches, endzeitgestählt- schlussgeschichtliches linkes Brahmanentum, spöttisch auf zurückgebliebene und vermeintlich für immer überwundene Formen der Konfliktbewältigung in anderen Weltwinkeln herabblicken zu können. Das Juste Milieu meint, wenn es die aus Krisengebieten Geflüchteten bei sich obergrenzenfrei aufnähme, sei ihm in jedem Fall der moralische Endsieg über jedes Bataillon und jeden Panzer gewiss (die Bundesregierung ist schon ganz heiß auf die ersten Flüchtlingsaufnahmen aus der Ukraine).  Truppenbewegungen, Kanonendonner und Sperrfeuer glaubt man hierzulande, spätestens mit dem Ende des (ersten) Kalten Krieges für immer überwunden zu haben. Und spätestens seit Beseitigung der Wehrpflicht ist die „Bunte Wehr” Spielwiese für weltanschauliche Haltungsneurotiker: Dritte Toiletten und Wickeltische in Kasernen, QueerBW-Feiern mit rosa Einhörnern und gefeierten Offizierstransen… während nichts mehr schießt, fliegt, rollt und schwimmt. Ein Staatsstreich könnte hierzulande von einer drittklassigen Sicherheitsfirma durchgeführt werden. Wer wollte sich bitte wehren und womit?

Versuchsanstalt für Wirklichkeitsverleugnung

In dieser watteweichen infantilen Versuchsanstalt für Wirklichkeitsverleugnung kann sich keiner mehr vorstellen, was „Krieg” eigentlich bedeutet. Doch er war nie weg; wir haben ihn nur ausgeblendet. Und wenn er jetzt erstmals wieder näher an uns heranrückt, als uns lieb ist, ist der Schock unvermeidlich. Wenigstens ist es ein heilsamer Schock – weil so das Volk endlich aus seiner psychotischen Corona-Monofixierung geschossen wird und schlagartig realisieren dürfte, dass es da draußen doch tatsächlich noch andere Lebensrisiken gibt. Ein Zurück in den  Pandemie-Panikmodus sollte danach jedenfalls deutlich schwieriger wenn nicht ausgeschlossen sein. Der Krieg in Osteuropa selbst ist an sich nichts Neues – weil es im Prinzip nur die Fortsetzung dessen ist, was 2014 mit der Krim-Annexion seinen Anfang genommen hatte. Ungleich gefährlicher dürfte das werden, was nach der „Erledigung der Rest-Ukraine” folgt – denn Putin wird, in Abhängigkeit von den westlichen Reaktionen, dadurch noch lange nicht saturiert sein. Der Appetit kommt beim Essen.

Apropos „westliche Reaktionen”: Diese sind bislang an Lächerlichkeit nicht zu überbieten – und das weiß man auch im Kreml. Echte Sanktionen wären das genaue Gegenteil dessen, was wir jetzt erleben: Sie würden sich nicht auf die verwaltungstechnischen Verzögerung der Betriebsgenehmigung für ein ohnehin noch nicht genutztes North Stream 2 bestehen, sondern in der sofortigen Stilllegung von North Stream 1. Hierzu müsste Deutschland natürlich sofort seine Kernkraftwerke und stillgelegten Gasturbinen wieder in Betrieb nehmen und augenblicklich eine Energiewende einleiten, die eine vollständige Unabhängigkeit von Russland ermöglicht.  Würden die westlichen Regierungen die Vermögen aller russischen Oligarchen (Putins eigentlicher Hintermänner und Strippenzieher) arrestieren, würden Ausweisungen bzw. Einreisebeschränkungen verhängen und ein sofortiges Importverbot für alle russischen Rohstoffe und Güter in Kraft setzen (auch wenn dies mit Entbehrungen einherginge): Das System Putin könnte sich keine sechs Monate an der Macht halten. Wenn man schon militärische Mittel ausschließt – was hier aufgrund des Gefahrenpotentials einer nuklearen Auseinandersetzung noch nicht einmal das Dümmste ist -, dann sollte man wenigstens wirtschaftlich ernsthafte Register ziehen. Wer nichts im Schaufenster hat, muss schon verdammt viel im Laden haben. Beides trifft auf Europa und vor allem Deutschland nicht zu: Mit veritablen Witzfiguren in der Bundesregierung wie einem halbsedierten, charismafreien Kanzler, einer stammelnden Trampolinspringerin als Außenministerin und einem vorgelagerten Landfrauen-Maskottchen als Verteidigungsministerin ist da natürlich kein Staat zu machen.

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