Red. Die geopolitische Ausgangslage in der Ukraine hat sich mit dem Eingreifen Russlands grundlegend verändert. Corona-Transition verurteilt diesen Angriff auf die Ukraine. Ebenso deutlich müssen wir aber die Scharfmacher im Westen kritisieren, die die Situation in der Ukraine weit im Vorfeld angeheizt hatten. Es ist uns wichtig, die Propagandisten und Kriegstreiber auf beiden Seiten aufzudecken.
Im Rahmen unserer Serie «Wie Propaganda funktioniert» werden wir in den kommenden Tagen und Wochen Auszüge aus Klassikern der Propagandaforschung publizieren; Bücher, die aufzeigen, wie Meinungen gemacht werden. Einzelne Schriften sind schon älter, aber in unseren Augen aktueller denn je. – Corona-Transition Redaktion
Albrecht Müller ist ein ausgewiesener Kenner der Politik. 1972 leitete er Willy Brandts Wahlkampf sowie die Planungsabteilung unter den SPD-Kanzlern Brandt und Schmidt. Von 1987 bis 1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2003 ist Müller Herausgeber der Online-Zeitung NachDenkSeiten.
2019 schrieb der Journalist das Buch «Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst – Wie man Manipulationen durchschaut». Darin fasste Müller die wichtigsten Erkenntnisse zum Thema Propaganda zusammen, die er im Laufe seines Lebens als Politiker und Journalist gesammelt hatte. Müller beschreibt 18 Methoden der Manipulation, wie sie im Zuge von Konflikten regelmässig zum Tragen kommen; beispielsweise, indem Medien und Politik «Geschichten verkürzt erzählen» – eine Methode, die gegenwärtig auch im Ukraine-Krieg zu erkennen ist. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus Müllers Buch, der aktueller kaum sein könnte.
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Mit der Methode, Geschichten verkürzt zu erzählen, werden viele Menschen unentwegt in die Irre geführt. Sie bestimmt über weite Strecken die öffentliche Debatte. Auf Basis dieser Manipulation werden reihenweise politische Fehlentscheidungen getroffen und gedeckt.
Typische Beispiele sind: Wenn hierzulande über das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland berichtet und gesprochen wird, dann wird die Tatsache, dass West und Ost 1990 gemeinsam vereinbart haben, sich nicht mehr zu bedrohen und das Verhältnis auf die Idee der gemeinsamen Sicherheit zu gründen, häufig weggelassen. Es war vereinbart worden abzurüsten. Jetzt wird so getan, als gäbe es diese Vereinbarungen nicht, ja als gäbe es die gesamte Entspannungs- und Friedenspolitik nicht.
Und natürlich wird auch vom Bruch der gegenseitigen Versprechen nichts erzählt. Nichts davon, dass schon die Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze ein übler Vertrauensbruch war. Nichts davon, dass und wie der Westen in der Amtszeit des russischen Präsidenten Jelzin in die inneren Verhältnisse Russlands hinein zu regieren versucht hat. Von diesen unglaublichen Machenschaften hat Naomi Klein in ihrem Buch «Schock-Strategie» eindrucksvoll berichtet. Das Buch ist 2007 in Deutschland erschienen und wurde erstaunlich erfolgreich vergessen gemacht.
Es wird bei der Beurteilung der russischen Politik und insbesondere des Präsidenten Putin alles Mögliche angeführt, aber nicht die Tatsache, dass Putin im September 2001 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag, teilweise auf Deutsch, weitreichende Angebote für die Zusammenarbeit gemacht hat. Das passt nicht ins Bild, deshalb wird es nicht berichtet. Genauso wenig wie die betretenen Gesichter deutscher Kabinettsmitglieder von Joschka Fischer bis Otto Schily, denen man anmerkte, dass ihnen diese Friedensofferte nicht in den Kram passt, weil ihre amerikanischen Freunde sie auf Konfrontation eingestimmt hatten und haben (…)
Drittes Beispiel: Der Ukraine-Konflikt. Viele Medien und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier datieren die Ukraine-Krise auf die militärische Unterstützung Russlands für die Aufständischen in der Ost-Ukraine und auf die Annexion der Krim. Weggelassen wird quasi alles Wichtige, was davor geschah: die erwähnte Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze, der Versuch von EU und NATO, auch die Ukraine einschliesslich der Krim und damit die Militärbasis Russlands in Sewastopol in den Bereich der EU und der NATO einzubeziehen.
Es wird weggelassen, was die USA an Propaganda und – wie sie es nennen – demokratischer Aufbauarbeit in der Ukraine veranstaltet haben. Sie haben nach Auskunft der zuständigen US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland 5 Milliarden Dollar – Milliarden, nicht Millionen! – in der Ukraine eingesetzt. Auch die westlichen Inszenierungen zum Maidan, die Umstände des Staatsstreichs gegen den amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch und der Einfluss rechter Gruppen in der Ukraine werden in die Erzählung nicht aufgenommen.
Es wird auch nicht darüber aufgeklärt, welche Rolle die Aussenminister von Polen, Frankreich, und Deutschland, namentlich Steinmeier, im Februar 2014 in Kiew gespielt haben. Man kann alle diese Interventionen ja rechtfertigen, aber man kann sie bei der Erzählung der Geschichte nicht einfach weglassen.
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Albrecht Müller, «Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst – Wie man Manipulationen durchschaut». Westend, Frankfurt/Main 2019. ISBN: 9783864892189, 144 Seiten. 14 Euro. Weitere Infos und Bestellung hier.