Horst D. Deckert

Vom Paulus zum Saulus: Die zerplatzte Putin-Illusion deutscher Oppositioneller

Wladimir Putin taugt nicht länger als Weißer Ritter (Symbolbild:Imago)

Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 war nicht nur weltpolitisch und weltwirtschaftlich ein Einschnitt, dessen dramatische Folgen uns erst nach und nach bewusst werden. Er zwingt meiner Meinung nach auch die politische Opposition und die demokratische Gegenöffentlichkeit in Deutschland – mich selbst eingeschlossen – zu einem Umdenken. Vor dem Ukraine-Krieg ergab sich eine gewisse Russland- und auch Putin-Freundlichkeit aus einer simplen Bewertung der Kräfteverhältnisse: Russland war (und ist) offensichtlich ein Erzfeind der „kalifornischen“ globalistischen Ideologie, der Konzern- und Finanzmagnaten, welche die Ideologie des Great Reset verkörpern und der weitgehend von diesen Magnaten gesteuerten US-Politik. Wer gegen diese globalistische Ideologie und ihre Vertreter eingestellt war, musste fast zwangsläufig ein positives Bild von Putins Russland entwickeln.

Russland schaffte es unter Putins Präsidentschaft in der Tat, weitgehend von den ruinösen Zwängen der schrankenlosen Globalisierung frei zu werden, indem es seine Wirtschaft wieder einer nationalen Kontrolle unterwarf. Die russischen Wirtschaftsdaten waren vor Kriegsbeginn gut. Insbesondere steckt das Land bis heute nicht in jener Schuldenfalle, welche die Politik fast aller westlichen Staaten bestimmt. Die Russen bewahrten ihre nationale und persönliche Identität. Es gab keine Masseneinwanderung und keine systematische Zerstörung der Begriffe von Familie und Geschlechtern, was der Stabilität der russischen Gesellschaft sehr dienlich war. Im Zusammenleben mit einer zahlenmäßig starken islamischen Minderheit herrschte nach dem Ende des Tschetschenien-Krieges von 1999/2000 weitgehend Harmonie. Die orthodox-christliche Mehrheitsgesellschaft besaß nämlich ein hinreichendes kulturelles Selbstbewusstsein, um von den russischen Muslimen als gleichwertiges Gegenüber angesehen zu werden. Genau daran mangelt es in unserer eigenen Gesellschaft, was unsere wohlbekannten Probleme im engen Zusammenleben der Religionen und Kulturen weitgehend erklärt. Auch im Hinblick auf „Corona“ gewährte Putin dem russischen Volk eine erstaunliche, nach deutschen Maßstäben fast unvorstellbare Freiheit. In Russland gab es etwa keinen Impfzwang, obwohl das Land mit Sputnik V den weltweit ersten anwendungsfähigen Corona-Impfstoff entwickelte.

Erschütterung des positiven Russland-Bildes

Es gab also vor dem Ukraine-Krieg genügend Gründe für ein positives Russland-Bild deutscher Oppositioneller. Dazu gesellte sich die verlockende Vorstellung von einem vereinten Europa der Vaterländer unter Einschluss Russlands. In einem solchen Zustand hätten sich Russland und Westeuropa nicht nur wirtschaftlich ideal ergänzen können. Russland hätte darüber hinaus sogar die Rolle einer militärischen Schutzmacht für den ganzen europäischen Kontinent übernehmen können. Der Einfluss nicht-europäischer Großmächte wie der USA und der VR China, deren Interessen allein schon aufgrund der Geographie nicht deckungsgleich mit den Interessen Europas sein können, wäre auf wohltuende Weise zurückgedrängt worden. Europa hätte so im 21. Jahrhundert unabhängig von den kalifornischen Globalisten seinen eigenen Weg gehen können.

Dieser schöne Traum ist in den Morgenstunden des 24. Februar 2022 jäh zerplatzt. Dies muss man sich ohne jede Einschränkung eingestehen. Es ist zwar eine Tatsache, dass westliche Machtpolitik im Zuge immer neuer NATO-Osterweiterungen Russland mehr und mehr in die Enge getrieben hat. Dies rechtfertigt aber nicht Putins radikale Verneinung einer nationalen Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes, dessen reale Existenz als starke politische Kraft sich – im Gegensatz zu Behauptungen Moskauer Ideologen – in den letzten Wochen auf eindrucksvolle Weise gezeigt hat. Genauso ist es blanker Zynismus, wenn etwa der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill von einem Krieg im Namen des Christentums gegen „westliche Dekadenz“ spricht, den Russland seiner Meinung nach in der Ukraine führe. Diese Dekadenz gibt es zwar leider ohne Zweifel – aber die Ukraine ist nicht unbedingt eines ihrer Zentren. Selbst wenn dies so wäre, rechtfertigte dies nicht den massenhaften Tod von Zivilisten und die Zerstörung ganzer Städte.

Putins Weg von der sanften Diktatur zum offenen Totalitarismus

Der Hauptgrund, warum Wladimir Putin am 24. Februar vom Paulus zum Saulus wurde, ist jedoch ein anderer. Der russische Versuch, sich die Ukraine als „Kleinrussland“ einzuverleiben, ist nichts anderes als der Anspruch auf die Errichtung einer Kolonialherrschaft innerhalb Europas. Einem derartigen Ansinnen muss man sich allein schon deshalb widersetzen, weil ein solcher Imperialismus seinem Wesen nach keine natürlichen Grenzen kennt. Nach einem aus russischer Sicht erfolgreichen Ukraine-Feldzug gäbe es keinen Grund, warum dann nicht auch Polen, das Baltikum oder gar ganz West- und Mitteleuropa einer russischen Vorherrschaft unterworfen werden sollten. Eine solche Vorherrschaft wäre auch dann keine Befreiung, wenn sie den kalifornischen Globalismus von unserem Kontinent verbannen würde. Mit dem Ukraine-Krieg geht nämlich eine rasante Entwicklung der Putin-Autokratie von einer relativ sanften Diktatur zum offenen Totalitarismus einher. Bei allen Mängeln unserer eigenen Demokratie könnte uns ein solches politisches System keine Erlösung von der „Corona-Diktatur“ bringen, sondern nur eine wesentlich schlimmere Form der Gewaltherrschaft.

Diese bitteren Erkenntnisse machen die Lage der demokratischen Opposition in Deutschland sehr viel schwieriger, als sie es ohnehin schon sind. Es kann nämlich nicht die Lösung sein, nun plötzlich auf ein positives Bild der westlichen Mainstream-Politik und ihrer Repräsentanten umzuschwenken. Die schwere Krise der westlichen Staaten und Gesellschaften dauert ungeachtet des Ukraine-Krieges an. Die Probleme durch Überschuldung, Inflation, Verarmung, Demokratieabbau, die destruktive Corona-Politik, Gesundheitsrisiken infolge der Corona-Impfungen, Bildungs- und Kulturverfall, etc. sind seit dem 24. Februar keineswegs geringer geworden. Stattdessen hat sich eine weitere, schon lange ungelöste Problematik im Zuge des Krieges geradezu potenziert, nämlich die weitgehend planlose „Energiewende”, die – im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen und einem möglichen Stopp der Energie- und Rohstofflieferungen durch Russland selbst – schon jetzt zu dramatischen Teuerungen führt.

Vom hohen moralischen Ross herab

Mangelerscheinungen und schließlich ein volkswirtschaftlicher Kollaps könnten die nächsten Schritte dieser unheilvollen Entwicklung sein. Das globalistisch-liberale Hirngespinst vom Great Reset kann hier keine Lösungsansätze bieten. Dieser Great Reset ist nämlich – anders als es viele Oppositionelle glauben – kein ausgeklügelter Plan von „Verschwörern”, sondern vielmehr gerade durch die Abwesenheit eines durchdachten Planes gekennzeichnet. Die ganze unausgegorene Idee des Great Reset beruht hauptsächlich auf der falschen liberalen Vorstellung, dass Marktkräfte zwangsläufig von selbst einen neuen, besseren Gleichgewichtszustand schaffen, wenn man nur genügend Unordnung im bestehenden „falschen“ Gleichgewicht erzeuge. Es fehlt uns nur leider in der Realität nicht an Chaos, sondern an Ordnung! Zu diesem Chaos trägt auch eine westliche Außen- und Sicherheitspolitik bei, die seit dem Kriegsbeginn von einem hohen moralischen Ross herab nichts Geringeres fordert als einen möglichst vollständigen militärischen Sieg über Putins Russland und dabei die politischen und militärischen Kräfteverhältnisse völlig ignoriert.

Realistisch betrachtet, können „Moral“ und „Völkerrecht“ im neuen Ost-West-Konflikt offensichtlich nur dann gewaltsam siegen, wenn man um ihretwillen einen Nuklearkrieg riskiert, den nun wirklich keine Moral dieser Welt rechtfertigen könnte. Es ist aus meiner Sicht kein falsches Appeasement oder „Putin-Verständnis“, auf diesen Punkt hinzuweisen und eine Rückkehr zur Realpolitik zu fordern. Dass USA und NATO dazu weder willens noch in der Lage erscheinen, macht deutlich, wie tödlich der Hass der hinter den westlichen Regierungen stehenden kalifornischen Globalisten auf Russland und Putin sein muss. Dieser Hass kann die westlichen Staaten und Gesellschaften in den Untergang reißen, wenn nicht die westlichen Völker selbst diesem destruktiven Handlungsimpuls widerstehen.

Opposition ist weiterhin gefragt

Es gibt also weiterhin genug Gründe für oppositionelle Proteste. Die Illusion, von der man sich dabei befreien muss, besteht in dem falschen Vertrauen auf starke äußere Verbündete. Putins Russland kann eine solche Rolle nicht mehr spielen. Es ist vielmehr in einer ähnlichen Rolle zu sehen wie der politische Islam: Eine starke Kraft, die durchaus mit einer eigenen Berechtigung gegen die entfesselte liberal-globalistische Hypermoderne kämpft, aber dabei zwangsläufig auch für westlich-europäische Konservative zum Gegner werden muss. Wir müssen uns, so schwer das auch fällt, in unserem eigenen Kampf auf unsere eigenen Werte stützen und nicht auf falsche Freunde. In letztere Kategorie fällt übrigens auch Donald Trump, der zwar den westlichen Populismus im Jahre 2016 zu seinem bisher größten Triumph führte, aber danach nicht sehr viel Konstruktives zustande brachte. Ein genialer Plan von Trump existiert nur bei „QAnon“ – in der Realität also überhaupt nicht!

Eine Rückkehr Trumps ins Weiße Haus nach der US-Präsidentschaftswahl von 2024 würde sehr wahrscheinlich wenig an dieser Erkenntnis ändern. Auch gegenüber einem möglichen Wahlsieg von Marine Le Pen bei der bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahl muss man als deutscher Oppositioneller aus ähnlichen Gründen skeptisch sein. Èric Zemmour ist als einziger wirklicher konservativer Reformkandidat leider bereits aus dem Rennen. Madame Le Pen besitzt, ähnlich wie Donald Trump, eine untergründige Verbindung nach Moskau, was aus meiner Sicht leider nicht nur Mainstream-Propaganda ist. Der US-amerikanische Osteuropa-Experte und Publizist Timothy Snyder zeichnet in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ auf brillante Weise den Weg nach, auf dem Wladimir Putin den völlig gescheiterten Geschäftsmann und planlosen Politiker Trump zur Heilsgestalt aufbaute und ihn als Mittel zur inneren Destabilisierung der USA einsetzte. Trumps Aufstieg war laut Snyder nichts anderes als ein erfolgreicher Hackerangriff auf das Betriebssystem von Staat und Gesellschaft der USA, bei dem soziale Netzwerke die Schnittstelle darstellten, an welcher dieser Hackerangriff ansetzen konnte. Etwas Ähnliches muss man leider derzeit in Frankreich befürchten, sodann im Frühjahr 2023 bei der italienischen Parlamentswahl – und eines Tages vielleicht auch in der Bundesrepublik.

Es braucht mehr deutsches und europäisches Selbstvertrauen

Wir befinden uns also inmitten eines weltweiten, teils hybriden, teils offenen Krieges gleich mehrerer Mächte, die allesamt dem deutschen Volk nicht wohlgesonnen sind. Dabei darf auch die Volksrepublik China nicht vergessen werden, von der sich Deutschland in der Ära Merkel wirtschaftlich fast völlig abhängig gemacht hat. Wir erleben in diesen Tagen in Shanghai nicht nur reale Endzeitvisionen einer völlig außer Kontrolle geratenen Corona-Hysterie. Man muss darüber hinaus leider befürchten, dass die chinesische Führung unter dem Vorwand des Seuchenschutzes durchaus absichtlich den „Aus”-Schalter von Globalisierung und freiem Welthandel betätigt, um danach zu einem neuen Sozialismus zurückzukehren, dessen Rohstoff- und Nahrungshunger durch das weltweite Netz der „Neuen Seidenstraßen” auf Kosten der restlichen Welt befriedigt werden soll. Die Folgen eines solchen Politikwechsels in Peking wären für Deutschland und Europa schlichtweg katastrophal. Die gesamte Russland- und China-Politik der letzten Jahrzehnte hat eine simple Tatsache ignoriert: Russland und die VR China sind ohne Westeuropa sehr wohl lebensfähig. Umgekehrt gilt dies leider nicht – weil unsere Politik sehenden Auges ungeheure Abhängigkeiten von diesen Staaten erzeugt hat, die jetzt mit aller Gewalt auf uns zurückzuschlagen drohen.

Die Lage Deutschlands und seiner inneren demokratischen Opposition ist also sehr viel düsterer, als sie sich noch vor wenigen Monaten darstellte. Das Zerplatzen von Illusionen hat aber immer auch den Vorteil, dass der Blick auf die Situation danach deutlich klarer ist als vorher. Wir brauchen jetzt mehr denn je eigenes Selbstvertrauen, das sich aus unserer deutschen und europäischen kulturellen Identität speisen muss. Gründe dafür gibt es zur Genüge, man muss sie nur sehen wollen. Die demokratischen Straßenproteste haben zwar zurzeit nicht mehr jene Dynamik, die sie im Winter noch auszeichnete, aber dennoch sind sie keineswegs verschwunden. Es sind immer noch jeden Montag jeweils hunderte Menschen an hunderten von Orten unterwegs, die an ein besseres, demokratisches Deutschland glauben und öffentlich dafür eintreten. Sie haben es bereits erreicht, dass die schlimmsten Grundrechtsverletzungen im Zuge der Corona-Politik zurückgenommen wurden, dass nicht systemkonforme öffentliche Meinungsäußerungen überhaupt noch möglich sind und sogar die Berichterstattung der Mainstream-Medien wieder Schritte zurück in die Realität wagt. Darauf kann und muss man aufbauen. Es sollte nicht mit Russlandfahnen und „Z“-Symbolen demonstriert werden – aber sehr wohl für einen gerechten Frieden in Europa anstelle eines Atomkrieges. Auch wirtschaftliche und soziale Fragen könnten schon bald eine ungeahnte Mobilisierung von Protesten auslösen. Die Putin-Illusion ist zerplatzt. Die Hoffnung aufgeben müssen wir deshalb jedoch noch lange nicht.

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