Horst D. Deckert

La Dépossession, von Renaud Camus, oder die Enteignung des verwurzelten Menschen

Der Essayist Renaud Camus, der lange Zeit im Selbstverlag veröffentlicht hatte, nachdem er von seinen Verlegern verbannt worden war, fand in den Éditions de La Nouvelle Librairie einen ebenso seriösen wie effizienten Vermittler für die Förderung seiner Werke – ihr Leiter, François Bousquet, widmete ihm sogar ein langes Interview in einer aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Eléments. So hat der Verlag in der Rue Médicis nach der Neuauflage einer Sammlung von zum Teil unveröffentlichten Texten und Reden unter dem Titel Le Grand Remplacement – mit dem Untertitel „Introduction au remplacisme global“ – vor kurzem die logischen Folgen davon mit Le Petit Remplacement einerseits und La Dépossession andererseits – mit dem Untertitel „Ou du remplacisme global“ – wieder aufgelegt.

Le Petit Remplacement enthält nicht weniger als sechs zuvor veröffentlichte Essays des weitschweifigen und eklektischen Schriftstellers aus Plieux: La Dictature de la petite bourgeoisie (2005), La Grande Déculturation (2008), Décivilisation (2011), Les Inhéritiers (2012), La Civilisation des prénoms (2014) und Le Mot „musique“ (2018). Camus vertritt die recht einfache, aber unwiderlegbare These von den vielen kleinen Veränderungen, die das Gesicht, die Sitten, die Kultur, die Gewohnheiten bis hin zur Sprache und den Verhaltensweisen unserer hypermodern gewordenen Gesellschaften von einem Ort zum anderen buchstäblich umgestaltet und verändert haben. Für Camus ist „die Petit Remplacement die Veränderung der Kultur. Le Grand Remplacement ist der Wandel der Zivilisation. Le Petit Remplacement ist der Bedeutungswandel. Die Große Ersetzung ist der Blutwechsel. Die Große Ersetzung wird nur durch die Kleine Ersetzung ermöglicht. Sie beschleunigt sie jedoch ihrerseits. Die Wechselwirkung ist wechselseitig.“

Mit La Dépossession setzt der Schriftsteller seine Überlegungen zu diesem unerbittlichen und unaufhaltsamen Prozess, den er als „Replacementism“ bezeichnet, fort. Was ist die Enteignung? Sie ist die Enteignung des verwurzelten Menschen durch seinen entwurzelten Doppelgänger. Renaud Camus verortet ihren Ursprung am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Wissenschaft Gott als höchste Instanz der Wahrheit ersetzte. In diesem ebenso meisterhaften wie monumentalen Essay (fast 850 Seiten) taucht der Autor in die philosophische Genealogie der „Ersetzung“ ein, dieser tektonischen Bewegung, die in den anthropologischen und kulturellen Tiefen unserer postindustriellen Gesellschaften arbeitet, indem sie alles durch seinen einfacheren, effizienteren, billigeren, genormten und standardisierten Ersatz ersetzt. Auf diese Weise seines Wesens beraubt, ist der Mensch nur noch ein Rädchen im Getriebe der produktivistischen und konsumistischen Megamaschine, identisch mit den anderen, beliebig ersetzbar. Für Camus ist die Enteignung das eigentliche Prinzip der großen Verdrängung.

Das Buch ist umso spannender, als Camus als Theoretiker einer Thematik arbeitet, die faule und böswillige Sophisten in der öffentlichen Debatte schnell als verschwörungstheoretisch oder „rechtsextrem“ abstempelten. Am Ende des Bandes definiert ein Glossar die wichtigsten Wörter (Davokratie, Faussel, Nocense, Grande Presse usw.), um den Artifizialismus einer Welt so genau wie möglich zu erfassen, die Guy Debord zunächst als „Spectacle“ sah, d. h. als dieses unechte Moment der eindimensionalen Kommerzialisierung – um mit Herbert Marcuse zu sprechen. Die Prophezeiung von Camus hat (leider) Zukunft.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei BOULEVARD VOLTAIRE, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.

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