Horst D. Deckert

Das schwache Individuum gefährdet sich und andere

(Auszug aus Oliver Ittensohns «Männlichkeit um 1900»):

«Gott gab Dir nach Leib und Seele die Anlagen, relativ gesund und glücklich zu sein; wenn Du es nicht bist, so bist Du öfters selber schuld, als Du Dir’s engestehen magst.»

Jakob Laurenz Sonderegger, Arzt und Gesundheitspolitiker, 1890

Menschliche Körper, komplexe Maschinen

Das Individuum konnte für seinen Gesundheitszustand und seine Leistungsfähigkeit verantwortlich gemacht werden. Was aber gesund ist, ist nicht ausserkulturell definiert. Die Gesundheit an sich gibt es nicht und «nichts, was mit dem Körper zu tun hat, versteht sich von selbst». Was Gesundheit ist und zu sein hat, wurde im 19. Jahrhundert von Ärzten und Hygienikern in Beschlag genommen.

In Anlehnung an den Philosophen Michel Foucault (1926 – 1984) wurde dieser Vorgang in der Forschung als Bio-Macht beschrieben. Bürgerliche Normalitätsvorstellungen traten im wissenschaftlichen und wertneutralen Gewand auf. In dieser neuen Wissenschaft der Hygiene zeigte sich das Bedürfnis, den Menschen in seiner Totalität zu erfassen und beeinflussen. Speziell der menschliche Körper wurde nun als komplexe Maschine begriffen, welche auf eine komplexe Weise mit ihrer Umwelt interagiert.

So schrieb Sonderegger in seinem weitverbreiteten Volkslehrbuch «Vorposten zur Gesundheitspflege»:

«Es gibt aber keine Sündenvergebung im Reiche der Natur, sondern es herrscht vollendete Gesetzmässigkeit. Der Menschenleib ist eine Maschine, welche genauer arbeitet als jeder Chronometer und auf bestimmte Störungen mit bestimmten Abweichungen antwortet.»

Dies war eine grundsätzliche Umgestaltung der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Der Universalitätsanspruch der Wissenschaft, der auf jedes Individuum als solches und die Gesellschaft als Ganzes Zugriff forderte, wurde zu einem verbindlichen Angebot zum Umgang mit sich selbst.

Schwaches Individuum gefährdet sich und andere

Die Sorge um sich selbst ist aber nur die eine Seite der Medaille. Entscheidender wurde der Gedanke, dass ein schwaches Individuum nicht primär sich selbst gefährdet, sondern die Gesellschaft und die wirtschaftliche Potenz eines Staates.

Dazu schrieb Sonderegger im Jahr 1894:

«Je tiefer die Kulturstufe eines Volkes steht, um so mehr beschäftigt es sich mit Nebensachen und Spielereien; je höher die geistige Entwicklung, um so ernsthafter werden die grossen Lebensfragen behandelt. Alle Völker, die von der Weltgeschichte im Buche der Lebendigen durchgestrichen wurden, sind an der Genusssucht einzelner Klassen und am Elend der grossen Volksmasse zugrunde gegangen.»

Mit diesem Gedanken war Männlichkeit nicht mehr nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine politische Angelegenheit. Der Staat wurde zum Akteur, der sich aus leistungsfähigen Bürger*innen zusammensetzt. …

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