Für gläubige Christen ist Pfingsten laut Website der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „das Fest des Heiligen Geistes. Dieser Geist lässt Menschen einander als Brüder und Schwestern in Christus erkennen. Daher gilt Pfingsten auch als der ‚Geburtstag der Kirche‘. Gottes Geist versöhnt und schafft Gemeinschaft. Er belebt und erneuert die Menschen aber auch individuell. Im Leben des Einzelnen setzt Gottes Geist Kreativität frei und ermöglicht Neuanfänge.“ [1] Für alte koloniale Zuchtmeister und neue transatlantische Lehrmeister bilden aktuell Russland, die Volksrepublik China und die Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) die „Dreifaltigkeit des orientalischen Bösen“ schlechthin – freilich nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Vieles deutet darauf hin, dass sich der Fokus nach der Ukraine immer stärker auf und gen China konzentriert. Säkulare Pfingstbetrachtungen anno Domini 2023 von Rainer Werning.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Kaiserliche Kriegslaune
„Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Es ist das um so empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre uralte Kultur stolz ist. Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freundlichen Ertragen von Leiden, möge Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel. Ihr wißt es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wißt: Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen.“ [2]
Mit diesen Worten, die als „Hunnenrede“ in die Annalen der Geschichte eingehen sollten, verabschiedete Kaiser Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven deutsche Soldaten, die im Rahmen eines internationalen Expeditionskorps zur Niederschlagung des sogenannten „Boxeraufstandes“ nach China entsandt wurden. Dort war es verstärkt zu antiwestlichen Protesten gekommen, in deren Folge Ausländer – darunter auch der deutsche Gesandte Clemens von Ketteler – und chinesische Christen ums Leben kamen. Es war die Hochzeit einer heraufbeschworenen „gelben Gefahr“, die ursprünglich in einschlägigen Schriften in Britannien geschürt und hernach als propagandistische Allzweckwaffe zum integralen Bestandteil eines jeden Sturmgepäcks europäischer und US-amerikanischer Truppen wurde. China war zu jener Zeit ein Spielball kolonialen und imperialen Schachers, wo neben Japan, den USA und dem zaristischen Russland noch das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn und eben auch das deutsche Kaiserreich politische, militärische und wirtschaftliche Interessen verfolgten. Letzteres kontrollierte immerhin seit dem 6. März 1898 qua erzwungenem Pachtvertrag mit dem Kaiserreich China Kiautschou im Süden der Shandong-Halbinsel, ein Gebiet, das nicht zuletzt dem Wunsch der Kaiserlichen Marine nach einem Flottenstützpunkt in Ostasien entsprach.
So martialisch sich auch und gerade europäische Mächte in China gebärdeten, so sehr ist dennoch die Tatsache hervorzuheben, dass es in dieser Zeit eine Vielzahl herausragender Sinologen und China-Landeskenner gab, unter denen deutsche Gelehrte wie beispielsweise Alwin Wilhelm Otto Franke, sein Sohn Wolfgang Franke, Wilhelm Grube, Erich Haenisch, Richard Wilhelm und Hans Georg Conon von der Gabelentz international hohes Ansehen genossen.
„China, China, China“
Eine große Zäsur in der Geschichte Chinas – nach Jahren außenpolitischer Demütigungen, innenpolitischer Turbulenzen und der harschen Zeit unter der Knute des japanischen Kolonialismus seit Mitte der 1930er-Jahre – bildete die Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 durch Mao Zedong. Als schließlich unter seiner Führung die Kommunistische Partei Chinas Mitte der 1960er-Jahre die sogenannte „Große Proletarische Kulturrevolution“ entfachte, haute das im beschaulichen Bonn Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger dermaßen vom Hocker, dass er 1969 auf dem Dortmunder Wahlkonvent der CDU unversehens mit dem Kassandraruf „Ich sage nur China, China, China“ (jeweils ausgesprochen als „Kina“) auf seine Art neuerlich die „gelbe Gefahr“ beschwor. [3] In schrillem Kontrast dazu setzten weltweit marxistisch-leninistische Parteien und Zirkel auf das „chinesische Modell“ und sahen in der Kulturrevolution ein probates Mittel, eine „revisionistische Entartung“ à la Sowjetunion zu vermeiden.
Trefflich merkten dazu vier Jahrzehnte später die Organisatoren des Chinaforums Germersheim anlässlich der Olympischen Sommerspiele in Beijing 2008 an:
„Ende der 1960er Jahre warnte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger mit den Worten ‚Ich sage nur China, China, China!‘ vor der Volksrepublik China als der ‚gelben Gefahr‘. Zwar scheint sich inzwischen allgemein die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass angesichts der wachsenden Bedeutung Chinas eine fundierte Auseinandersetzung mit der Volksrepublik nicht nur notwendig, sondern vor allem auch im eigenen Interesse ist. Vor dem Hintergrund einer verhältnismäßig großen kulturellen Distanz, weit verbreiteter Unkenntnis und – wenn überhaupt – meist nur lückenhaft vorhandener Sprachkenntnisse, sind einer soliden Beschäftigung mit China allerdings notwendigerweise enge Grenzen gesetzt.
Dies zeigt sich insbesondere in der Darstellung Chinas in deutschen Massenmedien. Wie auch schon in den 1960er Jahren orientiert sich die China-Berichterstattung meist an Vorstellungsbildern, die sich im Laufe der Geschichte in Europa und Deutschland herausgebildet und verfestigt haben. Diese historischen Chinabilder, etwa eines einerseits märchenhaften, vorbildhaften, mystischen und andererseits widersprüchlichen, despotischen oder gefährlichen China, sind durch eine entweder extrem positive oder extrem negative Sichtweise gekennzeichnet. Sie stehen exemplarisch für die Fülle an Projektionen und Wunschvorstellungen, die nur einen geringen Informationswert in Bezug auf die Zielkultur haben und primär auf die Ausgangskultur zurückverweisen.“ [4]
„Fasziniert von der eigenen Großartigkeit“
Und im Sinne der von Bundeskanzler Olaf Scholz beschworenen „Zeitenwende“, die keine ist [5], wird anstelle von „Diplomatie“ die exterminatorische Sehnsucht einer Frau Baerbock nach „Ruinierung Russlands“ genährt, woran sich tunlichst auch der „systemische Rivale“ China angesichts seiner gewachsenen politischen wie wirtschaftlichen Bedeutung zu beteiligen habe. Die Ostasienreise der Außenministerin Mitte April fand in Südkorea und Japan („Baerbock who?“) so gut wie kaum Beachtung, während ihr Auftritt in Beijing vom chinesischen Kollegen Qin Gang abgewatscht wurde mit der Erklärung, „China braucht keine Lehrmeister aus dem Westen“. Der Kolumnist der in Hongkong erscheinenden Tageszeitung South China Morning Post, Alex Lo, brachte den Auftritt der „obersten deutschen Wolfskriegerin“ in der Ausgabe vom 14. April auf den Punkt, als er süffisant-sarkastisch konstatierte:
„Wenn eine frühere Friedensaktivistin zum neokonservativen Interventionismus amerikanischer Prägung konvertiert, kann sie übermütiger sein als der durchschnittliche Pentagon-General.
Hier haben wir Annalena Baerbock, Deutschlands kriegerische Außenministerin, die nach Peking reist, um China aufzufordern, sich zu benehmen und Anweisungen zu befolgen – oder sonst?
‚China trägt eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden‘, sagte sie im Vorfeld ihrer Reise. ‚Die Rolle, die China mit seinem Einfluss gegenüber Russland spielt, wird Konsequenzen für ganz Europa und für unser Verhältnis zu China haben. Ganz oben auf meiner Agenda […] steht unser Interesse, den Krieg vor unserer europäischen Haustür in der Ukraine zu einem schnellen, dauerhaften und gerechten Ende zu bringen.‘
(…) Lassen Sie mich also ihre Warnung vor China verstehen. Der kollektive Westen hat unendlich viele Waffen und militärische Ausbildung geliefert und Echtzeitinformationen über russische Truppenbewegungen und Ziele bereitgestellt, aber es liegt in der Verantwortung Chinas, Russland aus der Ukraine zu vertreiben.
(…) Baerbock erinnert mich an ein Internet-Meme, das vor einiger Zeit aufkam: ‚Tut mir leid, aber ich kann dich nicht hören, weil ich so großartig bin.‘ Es scheint, als sei sie so fasziniert von der Großartigkeit ihres kirchlichen Kriegsgeschreis, dass sie sich nicht die Mühe macht, zu beurteilen, wie sie für andere klingt.
Wahrscheinlich ist sie zu sehr an die Beweihräucherung und die Jubelrufe – ‚Deutschland wird sich seiner historischen Verantwortung bewusst‘, bla, bla, bla – im Nato-Hauptquartier und in Washington gewöhnt.
(…) Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Baerbocks China-Reise nur eine Augenwischerei ist, um zu zeigen, dass westliche Kriegstreiber wie sie vernünftige Menschen sind und dass es die Chinesen sind, die nicht nach der Pfeife Washingtons und der Nato tanzen, um Moskau zur Kapitulation zu zwingen.
Als Umweltschützerin hätte sie Mutter Erde helfen können, indem sie ihre Reise und den damit verbundenen CO2-Fussabdruck ihres Staatsjets nach China eingespart hätte.“ [6]
Hätte nur noch gefehlt, Frau Baerbock allenfalls die Fähigkeit zu attestieren, unter der Ägide von Madame Victoria Nuland [7] als stellvertretende Hilfsvolontärin zu dienen. Wenn man in diesem Zusammenhang den diversen Stimmen US-amerikanischer Militärstrategen, Geopolitiker und politischer Falken in Washington lauscht, die der Publizist Connor Freeman in seinem jüngsten Beitrag zitiert [8], gefriert einem das Blut in den Adern. Kein Wunder, dass da der am vergangenen Wochenende im japanischen Hiroshima zu Ende gegangene G7-Gipfel in Beijing in geharnischtem Tonfall kommentiert [9] und in chinesischen Karikaturen Uncle Sam als Puppenspieler präsentiert wurde, der seine sechs Vasallen stramm auf Linie bringt und sie nach seiner Pfeife tänzeln lässt.
Wie tröstlich in einem trostlosen Jammertal wirkt da geradezu Pfingsten:
„In der Pfingsterzählung (Apostelgeschichte 2) ist das Pfingstwunder ein dramatisches Ereignis mit ‚Brausen vom Himmel‘ (Apostelgeschichte 2,2). Die vom Geist ergriffen wurden, konnten plötzlich fremde Sprachen sprechen und verstehen.“ [10]
Das nun verstehe, wer‘s denn will.
Titelbild: © Deutsches Historisches Museum, Berlin
[«1] Was feiern Christen an Pfingsten? – EKD * ekd.de/pfingsten-56258.htm
[«2] Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB) – Document „Hunnenrede“ (1900) * ghdi.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=755&language=german; Kaiser Wilhelm II: „Hunnenrede“ * geschichtsbuch.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/255/2017/02/Hunnenrede.kor_.pdf & Rainer Schmitz: Spricht da Kaiser Wilhelm II.? * spiegel.de/geschichte/die-hunnenrede-von-wilhelm-ii-als-tonaufnahme-a-947807.html
[«3] portfolio-concept.de/finanzkolumne-vermoegensverwaltung/ich-sage-nur-china-china-china/ & Vom Tisch, vom Tisch – DER SPIEGEL * spiegel.de/politik/vom-tisch-vom-tisch-a-fc915456-0002-0001-0000-000045522255
[«4] chinesisch.fb06.uni-mainz.de/files/2018/11/Chinaforum_Germersheim_China_China_China.pdf
[«5] Rainer Werning: Ukraine-Hype oder ZeitenWende und ihre seltsamen Kopf- und Magengeburten * nachdenkseiten.de/?p=97526 & Udo Brandes: Am grünen Wesen soll die Welt genesen – Überlegungen zur „wertegeleiteten Außenpolitik“ von Annalena Baerbock * nachdenkseiten.de/?p=97194
[«6] Alex Lo: scmp.com/comment/opinion/article/3217122/top-german-wolf-warrior-wants-china-end-war-west-sponsors – hier zitiert nach der im Zürcher Wochenmagazin Die Weltwoche am 21. April abgedruckten deutschen Übersetzung: weltwoche.ch/daily/oberste-deutsche-wolfskriegerin-will-dass-china-den-vom-westen-gesponserten-krieg-beendet-die-chinesische-sicht-zum-baerbock-besuch-in-peking/
[«7] en.wikipedia.org/wiki/Victoria_Nuland
[«8] Connor Freeman: libertarianinstitute.org/articles/washington-wants-war-with-china-served-hot-not-cold/
[«9] Siehe dazu u.a.: chinadaily.com.cn/a/202305/24/WS646d5229a310b6054fad4bab.html & chinadaily.com.cn/a/202305/21/WS646a383ea310b6054fad436e.html
[«10] Siehe Anm. 1