Horst D. Deckert

Der Abschiedsbrief: Auf Nimmerwiedersehen, Frau Merkel!

Allen Euphorikern zur Ernüchterung in Erinnerung gerufen: Am Abend der Bundestagswahl am 26. September wird die Kanzlerin noch nicht weg sein. Sie verbleibt so lange im Amt, bis nach Koalitionsverhandlungen eine neue Regierung steht. Wie lange das dauern kann, ist seit der Wahl 2017 bekannt. Ein Abschiedsbrief wäre deshalb verfrüht. Es gibt dennoch einen.

von Max Erdinger

Liebe Frau Bundeskanzlerin!

Schade, daß Sie schon wieder gehen müssen. 16 Jahre sind eine viel zu kurze Zeit. Sie gehen zu einem Zeitpunkt, an dem mein Vertrauen erst zu seiner vollen Blüte herangewachsen ist. Sie sagten einst, die Demokratie lebe vom Vertrauen. Das wollte ich damals nicht wahrhaben. Heute weiß ich, daß Sie Recht hatten. Bereits kurz vor Ihrem Amtsantritt im Jahre 2005 hätte ich mehr Vertrauen haben sollen. Nein, nicht in Sie, sondern in die Leute, die vor Ihnen gewarnt hatten. Mir fiel das damals schwer, weil ich nach sieben Jahren einer rot-grünen Regierung überzeugt davon gewesen war, daß es nicht die ganz große Rolle spielen würde, wer Kanzler werden würde, so lange es ein konservativer Kanzler ist. Mit Ihren Reden bei den Bundesparteitagen der CDU in den Jahren 2002 und 2003 hätten Sie sich retrospektiv betrachtet auch um den Parteivorsitz bei der AfD bewerben können. Die gab es aber damals noch nicht.

Da ich vorhin bereits wußte, daß ich Ihnen einen Abschiedsbrief schreiben würde, habe ich noch einmal im Archiv nachgesehen, was die Leute, die mich damals vor Ihnen warnten, über Sie geschrieben hatten. Ausgerechnet im „SPIEGEL“ wurde ich fündig, was nebenbei auch mein Vertrauen in die Richtigkeit der Feststellung stärkte, daß der „SPIEGEL“ heute so auf den Hund gekommen sei, wie das ganze Land unter Ihrer Kanzlerschaft. Damals jedoch hätten viel mehr Wähler, denen heute der Doppelpunkt in „Wähler:innen“ zur „Mauer in den Köpfen“ wurde, dem „SPIEGEL“ vertrauen sollen. Lediglich die Schlagzeile von damals war falsch. Sie lautete „Reformerin light„. Heute würde man richtigerweise – also nicht beim „SPIEGEL“ – titeln müssen: „Deformerin ultraheavy“. Daß mein Land von einer einzelnen Person so deformiert werden könnte, hätte ich nicht für möglich gehalten. Und trotzem haben Sie sich erwiesen als eine Verteidigerin Ihres Vaterlandes, so paradox das klingt. Ihr Vaterland ist bekanntlich die DDR gewesen. Sie haben Ihr Vaterland zumindest vor seinem „geistigen Untergang“ bewahrt. Dafür danke Ihnen, wer will, – ich nicht.

Aber ich will nicht generell undankbar sein. Ihrer Kanzlerschaft ist es zu verdanken, daß mich heute keinerlei Illusionen mehr über jenes Volk in die Irre leiten, dem Sie in den vergangenen 16 Jahren peu à peu die Demokratenmasken vom Gesicht gerissen haben, um sie zuletzt durch FFP2-Masken zu ersetzen.

Vor sechzehn Jahren stand im „SPIEGEL“: „So steht denn das Wahlprogramm, das die Union an diesem Montag vorlegt, unter einem strengen Vorbehalt: Die Wahrheit hat sich dem Ziel der Machterringung unterzuordnen. Schummeln und Verschweigen ist erlaubt, wenn es denn dazu dient, der Union die Kanzlerschaft zu sichern. Was Merkel will, ist dem Dokument nicht ohne weiteres zu entnehmen. Schon eher das, was sie sich traut, den Deutschen zu sagen.“ – Wenn man einmal davon absieht, daß die Annahme falsch gewesen ist, es sei damals darum gegangen, der Union die Kanzlerschaft zu sichern, weil wir heute wissen, daß es darum gegangen war, Ihnen per Instrumentalisierung der Union die Kanzlerschaft zu sichern, so ist doch der Rest der damaligen Analyse von beeindruckender Treffsicherheit gewesen. So, wie sich damals die Wahrheit dem Ziel der Machterringung unterzuordnen hatte, hat sie sich heute dem Ziel des Machterhalts einer ganzen politisch-medialen Klasse generell unterzuordnen. Daß es dabei nicht mehr um Ihren persönlichen Machterhalt geht, spielt keine Rolle. Das damalige Schummeln wurde zum veritablen Betrug, dem die lässige Pfiffigkeit des Schummelns völlig fehlt, und aus dem Verschweigen wurde die gezielte Desinformation. Was Sie sich dem Volk zu sagen trauen, ist heute ebenfalls bekannt. Es handelt sich um Unverschämtheiten nicht nur in Worten, sondern auch in sprechenden Taten. Die symbolkräftigste war wohl, als Sie am Wahlabend 2013 Ihrem damaligen Gesundheitsminister Gröhe das Deutschlandfähnchen aus der Hand gerissen haben, um es mit angewiderter Miene achtlos zu entsorgen. Wer danach noch glaubte, Sie seien angetreten, um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren, mußte damals bereits mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen sein. Es ist nun wahrlich nicht Ihre Schuld, daß das so viele gewesen sind, wie sich bis heute herausgestellt hat.

In den sechzehn Jahren Ihrer Kanzlerschaft, liebe Frau Merkel, wurde das „wir“ vom inkludierenden zu einem exkludierenden Personalpronomen, wie es bei der Fütterung der Dementen im Altersheim verwendet wird. „Jetzt tun wir mal schön unser dünnes Süppchen essen“, sagt dort die Pflegekraft. Gemeint ist aber immer: „Jetzt tust du einmal schön dein dünnes Süppchen essen, du alter Depp.“ Während Ihrer Kanzlerschaft ist es üblich geworden, von den Formulierungen „ich schlage vor“ oder „ich befürworte“ abzurücken und stattdessen ein „wir müssen“ oder ein „wir dürfen nicht“ zu verwenden. Das „wir“ aus Ihrem Munde muß heute verstanden werden als ein „Ihr“. Damit das nicht so leicht auffällt, wurden während Ihrer Kanzlerschaft rhetorische „Wir-Verstärker“ gebräuchlich. „Wir müssen gemeinsam“ und „gemeinsam dürfen wir nicht“. Vermutlich, damit niemand darüber nachdachte, daß er es mit einer Sowjetakademikerin, einer vormaligen FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda zu tun hatte, in deren Natur eine intolerante Besserwisserei bereits angelegt war, mussten „wir“ rhetorisch nicht nur „gemeinsam“, sondern „wir“ mussten dauernd „in einem konstruktiven Dialog auf Augenhöhe gemeinsam“. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß es mir bis zum heutigen Tage nicht gelungen ist, mich so weit herabzubeugen, daß ich eine Position der Augenhöhe mit Ihnen einnehmen könnte. Ich bin einen Meter neunzig groß und leide an Bandscheibenproblemen … herausforderungen. Nehmen Sie es mir und anderen leidgeprüften Großgewachsenen deshalb bitte nicht übel, daß wir uns die Köpfe nicht amputieren lassen haben, um wegem dem bißchen Augenhöhe auf Ihre Größe zu kommen.

Heute frage ich mich, ob es im Jahre 2005 wirklich nötig gewesen war, das Wahlprogramm der CDU zu studieren, um Sie zur Kanzlerin zu wählen, oder ob es nicht zielführender gewesen wäre, sich gleich die Person anzuschauen, die Kanzler werden soll. Das Schicksal unseres Landes liegt ja zu einem beträchtlichen Teil in den Händen des Bundeskanzlers. Man hätte herausfinden können, ob diese Person mit sich selbst im Reinen ist, oder ob eventuell die Gefahr besteht, sie könnte ihre eigene, innere Zerrissenheit, ihre Distanz zur eigenen Kreatürlichkeit übertragen auf das ganze Land. Was hätte also nähergelegen, als sich Ihre Hände einmal genauer anzuschauen? Man hätte es tun sollen. An Ihren Händen wären Sie trotz Ihrer kryptischen Art, zu formulieren, rechtzeitig und ziemlich zutreffend zu analysieren gewesen. Da hätte das ganze Versteckspiel mit „diejenigen, die denjenigen dasjenige derjenigen“ nichts mehr genützt. Nicht nur die Grundrechte der Bürger unseres Landes sehen zum Ende Ihrer Kanzlerschaft aus wie Ihre eigenen Fingernägel. Das hätte sich vermeiden lassen.

Als Ihr verehrter Herr Vater, der Theologe Horst Kasner im September 2011 mit 85 Jahren verstorben war, erschien so etwas wie ein Nachruf auf ihn im „Tagesspiegel„. Ich zitiere: „Der „rote Kasner“ irritierte manchen Mitbruder mit seiner Suche nach einer konstruktiven Beziehung zwischen geistlicher und weltlicher Autorität.“ Weiter: „Horst Kasner lebte auf dem Waldhof bei Templin in Brandenburg. Hier wuchs die heutige Bundeskanzlerin auf, hier lebte sie mit ihren Geschwistern und Eltern, hier leitete ihr Vater über dreißig Jahre lang ein von ihm aufgebautes Pastoralkolleg der evangelischen Kirche, angrenzend an eine gleichfalls kirchliche Behinderteneinrichtung. “ – Ich zitiere das nicht nur deswegen, weil ich den Eindruck habe, daß Sie das fürsorgliche Verhältnis, das Sie in Ihrer Kindheit den Behinderten gegenüber mitbekommen haben, auf Ihr Verhältnis als Bundeskanzlerin zu den unbehinderten Bürgern unseres Landes übertragen haben, sondern auch wegen jener „konstruktiven Beziehung zwischen geistlicher und weltlicher Autorität“, die Ihr Vater angeblich herzustellen versuchte. Ich weiß nicht mehr wo, aber irgendwo hatte ich den vergangenen Jahren gelesen, daß Sie Ihren Herrn Vater sehr verehrt haben sollen.

Ihre gesamte Kanzlerschaft, Frau Merkel, kommt mir vor wie der Versuch einer nachträglichen Relativierung des Unrechtsstaats, den die DDR darstellte, respektive wie der Versuch einer Verehrungsrettung für Ihren Herrn Vater. Sie behalten eben gern Recht. Ob Sie tatsächlich Recht haben oder nicht, scheint dabei egal zu sein. Wenn stimmt, was schon öfter behauptet worden ist, nämlich, daß Sie den australischen Philosophen Peter Singer verehren, dann dient Ihnen seine These vom menschlichen Denken, das angeblich immer nur der Rechtfertigung seines Willens gilt, vermutlich als perfektes Versteck für Ihre eigenen, totalitären Anwandlungen. Es gibt keine Moral, die sich irgendjemand bei Ihnen abschauen könnte, der einer demokratischen Gelassenheit das Wort redet, anstatt jener moralistisch-ideologischen Verbissenheit, die wohl das Resultat des Versuchs ist, eine „konstruktive Beziehung zwischen geistlicher und weltlicher Autorität“ herzustellen, schon deswegen nicht, weil die geistliche Autorität von Protestanten per se auf die weltliche „Vermaterialisierung“ des Geistes abzielt, nicht auf eine Beziehung zwischen beidem.

Es waren von jeher Weltverbesserer mit den besten Absichten, die in regelmäßigen Abständen alles gegen die Wand gefahren haben, was dem frei geborenen Menschen heilig sein müßte. Insofern war Ihre unselige Kanzlerschaft nur ein weiterer Beleg dafür, daß dem tatsächlich so ist. Sie hinterlassen einen Trümmerhaufen in fast jeder Hinsicht. Wirtschaftlich, kulturell, intellektuell …

Auf Nimmerwiedersehen, Frau Merkel, es sei denn vor Gericht. Dort sähe ich Sie sogar sehr gerne wieder. Mit dem hypermoralistischen Weltverbesserungswahnsinn, der sich sogar die Grundrechte der Bürger unterwirft, muß nämlich endlich Schluß sein. Dem Realitätssinn eine Schneise!

Wenig hochachtungsvoll usw.usf. …

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