Auf der gesamten rechten Hälfte des Spielfeldes der bundesdeutschen Politik findet sich an vielen Orten die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einem „echten“ Konservatismus, bei der gleichzeitig eine klare Abgrenzung zu radikalen oder gar extremistischen Haltungen gewahrt werden soll. Ein Beispiel dafür sind gerade in diesen Tagen Erwartungen an eine Renaissance der klassischen CDU unter Friedrich Merz. Aber auch Hans-Georg Maaßen und der „gemäßigte“ Flügel der AfD stehen für das Bild eines solchen Konservatismus. Ähnliche Einstellungen finden sich auch unter den Corona-Demonstranten, die häufig ein bürgerliches Selbstbild besitzen, in ihrer eigenen Vorstellung nichts anderes wollen als eine Rückkehr zum Grundgesetz und sich deshalb fragen, warum sie die Staatsmacht eigentlich zu Feinden erklärt. In diesem Essay möchte ich aufzeigen, warum dieser Traum vom wahren, guten Konservativen weder realistisch noch praktikabel ist und im Interesse wirklicher Verbesserungen der politischen Gesamtsituation dringend aufgegeben werden sollte.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass das von den Protagonisten dieser Strategie imaginierte große Wählerreservoir in der Praxis nicht existiert. Hans-Georg Maaßens Direktkandidatur für den Deutschen Bundestag scheiterte in Südthüringen kläglich. Die AfD verharrt trotz aller Anbiederung an den Mainstream seit Jahren im Zehn-Prozent-Ghetto. Mit dem Rücktritt Jörg Meuthens vom Parteivorsitz wird das Scheitern dieser Strategie offen eingestanden. Wirklich erfolgreich ist die AfD nur dort, wo sie weder ein pointiert rechtes Auftreten noch eine Zusammenarbeit mit vorgeblich rechtsextremen Vorfeldgruppen scheut: In Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Die Merz-CDU könnte sich schon sehr bald als weitgehend überflüssig erweisen, weil der klassische CDU-Wähler eine aussterbende Spezies ist. Den Linksschwenk der CDU unter Angela Merkel konnte man als Ausdruck eines extremen Opportunismus kritisieren, aber nicht als Verrat an ihrer Partei. Hätte Frau Merkel im letzten Jahr den Willen eines Helmut Kohl zur „ewigen Kanzlerschaft“ besessen, dann hätte die Union die Bundestagswahl sehr wahrscheinlich haushoch gewonnen. Die brav-bürgerlichen Corona-Demonstranten denken, wie ich noch begründen werde, ihren eigenen Protest nicht konsequent zu Ende, weil sie in einem falschen Politikbild verharren, das seinen Ursprung noch in der „alten“ Bundesrepublik hat.
Restbestände traditioneller Ordnungen
Mit diesem letzten Punkt kommen wir einer Erklärung des Phänomens schon näher. Allen Genannten ist nämlich eines gemeinsam: Sie vertreten das, was der russische Politikwissenschaftler Alexander Dugin als ”Liberalismus 1.0” bezeichnet hat. Diese Einstellung dominierte bis zum Jahre 1990 nicht nur das bürgerliche politische Spektrum der westlichen Staaten: Ein hohes Maß an persönlicher Freiheit, das aber durch immer noch starke Restbestände traditioneller Ordnungen eingehegt wurde. Wirtschaftliche Freiheit, die gleichzeitig staatliche Einflüsse auf die Wirtschaft und die Sozialbindung der Arbeit respektierte. Das selbstverständliche Vorhandensein eines ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaates mit einer bürgerlichen Leitkultur und die genauso selbstverständliche Präsenz des klassisch-bürgerlichen Familienbildes, das Ausnahmen zwar tolerierte, aber weit davon entfernt war, sie zu gleichwertigen Alternativen oder gar zur Regel zu erklären. Ein solcher bürgerlicher Liberal-Konservatismus widerspräche nicht den Wünschen der meisten heutigen „Rechten“. Er ist in der heutigen Zeit nur leider aus gleich mehreren Gründen zu einer praktischen Unmöglichkeit geworden.
Zum einen ergibt sich dies aus einer langfristigen historischen Entwicklung: Der Liberalismus wurde im 20. Jahrhundert von zwei alternativen Gesellschaftsmodellen herausgefordert: Kommunismus und Faschismus. Spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion (1991) errang der Liberalismus aber einen endgültigen Sieg über diese Gegner. Sooft man in den heutigen politischen Auseinandersetzungen auch mit Begriffen wie „Faschist“, „Nazi“ oder „Kommunist“ polemisieren mag, diese Einstellungen können nicht in großem Maßstab wiederkehren, weil sie im historischen Maßstab obsolet geworden sind. Damit fehlte dem Liberalismus aber nach 1991 ein „Feind“, den nach Carl Schmitt jede funktionierende politische Einheit braucht, da sich eine politische Einstellung wesentlich über einen Gegensatz zu etwas anderem definieren muss.
Die Folge davon war eine Weiterentwicklung des „Liberalismus 1.0“ zum heutigen „Liberalismus 2.0“: Wirtschaftliche Globalisierung, Schleifung des Sozialstaates und staatlicher Regulierungen des Wirtschaftslebens, Auflösung der Nationalstaaten und anderer organisch gewachsener Zusammenhänge und Identitäten, Massenmigration, Zersetzung der traditionellen Familie zugunsten eines Hyper-Individualismus, „Dekonstruktion“ der Geschlechter und – als immer näher rückende technologische Perspektive – eine bio-informatische Neuschöpfung des homo sapiens, wodurch auch die letzte verbleibende gewachsene Identität entfiele, nämlich die Identität als Mensch. Der in Carl Schmitts Sinne notwendige „Feind“ dieser neuen Ideologie kann niemand anders sein als ihr Vorgänger, also der Liberalismus 1.0.
Die klassischen Liberalen als Staatsfeinde
Es besitzt also durchaus eine innere Logik, wenn die heute dominierenden Linksliberalen genau den klassisch bürgerlichen Liberal-Konservativen als ihren Feind ansehen, ihn medial zum „Extremisten“ erklären und ihn schließlich zum Objekt staatlicher Repression machen. Im Weltbild heutiger Liberaler sind die „alten“ Liberalen nämlich wirklich Staatsfeinde. Dieser Falle kann man nicht dadurch entkommen, dass man immer wieder selbst die eigene Harmlosigkeit und demokratische Gesinnung betont. Der Mainstream ist an diesem Punkt sogar ehrlicher als viele seiner Gegner, denn er erkennt seinen Feind als solchen an, während letzterer immer noch vergeblich versucht, die Gegenseite von seinen – meistens sogar tatsächlich vorhandenen – freundlichen Absichten zu überzeugen.
Für eine zweite Begründung der heutigen Unmöglichkeit des bürgerlich-liberalen Konservatismus muss man auf eine marxistische Argumentation zurückgreifen: Marx‘ Erkenntnis, dass das ökonomische Sein das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt, darf zwar nicht überzogen werden, ist aber trotzdem alles andere als falsch. Auch von „rechts“ her muss bedacht werden, dass der ideelle „Überbau“ niemals unabhängig von seinem sozial-ökonomischen „Unterbau“ sein kann. Praktischer ausgedrückt bedeutet dies, dass der wirtschaftliche Global-Liberalismus der letzten Jahrzehnte die gesellschaftspolitischen Aspekte des heutigen Liberalismus 2.0 fast zwangsläufig bedingt. Linke machen sehr häufig den Fehler zu glauben, dass man den – aus ihrer Sicht positiven – Gesellschaftsliberalismus zusammen mit einer sozialen Wirtschaftsordnung haben könnte. Umgekehrt sind Rechte oftmals blind dafür, dass man diesen Gesellschaftsliberalismus nicht glaubhaft verdammen und bekämpfen kann, ohne gleichzeitig Kritik am globalen Kapitalismus zu üben.
Als Beleg für diese These muss übrigens nicht einmal Karl Marx bemüht werden. Die Vorstellung, dass die wirtschaftliche Freiheit Voraussetzung (und nicht Folge) der persönlichen Freiheit ist, beide Aspekte des Liberalismus also immer zusammengehören, wurde auch von Friedrich August von Hayek vertreten, dem wohl wichtigsten liberalen Denker des 20. Jahrhunderts. Die falsche Vorstellung, unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus zum Liberalismus 1.0 zurückkehren zu können, ist Ursache für das Scheitern aller sogenannten Reformer aus der politischen „Mitte“ von Tony Blair und Bill Clinton über Gerhard Schröder bis hin zu Emmanuel Macron und Joe Biden. Gleichzeitig ist sie ein wesentlicher Grund für den Misserfolg Donald Trumps und ein großer Schwachpunkt von europäischen Rechtspopulisten wie Éric Zemmour oder Matteo Salvini.
Konservatismus als Kritik an der westlichen Moderne
Was sind die Konsequenzen daraus? Heutige konservative Oppositionelle müssen erkennen, dass ihr Gegner immer nur der globale Liberalismus in seiner Gesamtheit sein kann. Daraus folgt, dass sich Rechte offensiv zum Illiberalismus bekennen sollten. Man muss aus einer wirklich zeitgemäßen konservativen Perspektive also dazu bereit sein, das Denken der europäischen Aufklärung insgesamt infrage zu stellen. Damit wird der Konservatismus zu einer Kritik an der liberalen, westlichen Moderne erweitert. Dies ist keineswegs so „vorgestrig“ wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dieselbe Kritik üben nämlich auch radikale links-liberale Strömungen unserer Gegenwart, wenn auch auf eine völlig verzerrte Weise. „Black lives matter” und „Fridays for future” sind im Kern anti-westlich und anti-modern. Ihr berechtigtes Unbehagen am Zustand des heutigen „Westens“ nimmt nur leider falsche, autoaggressive Züge an: Selbsthass auf die „weiße“ Zivilisation, der sich in einer mutwilligen Zerstörung des eigenen kulturellen Erbes und seiner Symbole zeigt.
Anti-menschliche Auslöschungsphantasien als Reaktion auf eine durchaus reale Umweltkatastrophe, deren Ursache ist, dass die westliche Zivilisation die Kontrolle über ihr eigenes Wirtschaften und ihre eigene Technologie verloren hat. Zuletzt die paradoxe Erwartung an eine Erlösung der „Weißen“ durch die Einwanderung von Moslems und Schwarzafrikaner, die ja tatsächlich traditionelle Gesellschaftsbilder verkörpern, nach denen sich die heute von links her Protestierenden offenbar unterschwellig sehnen. Aus rechter Sicht muss diesen völlig destruktiven Vorstellungen das Bild einer selbstbewussten Erneuerung der wirklichen westlich-europäischen Kulturtradition entgegengestellt werden.
Damit fordere ich von den heutigen parlamentarischen wie außerparlamentarischen Rechten den Mut zu einer gewissen Radikalität. Der Gegensatz zwischen Mainstream und rechter Opposition erweist sich nämlich im Sinne des bisher Gesagten als unüberbrückbar. Er kann nicht einfach mit dem Verweis auf eine angeblich beiden Seiten eigene „demokratische“ Haltung zugekleistert werden. Demokratie kann es nur geben, wenn die Herrschaft des Liberalismus 2.0 definitiv beendet wird, und zwar nicht durch eine Wiederkehr des Liberalismus 1.0, sondern durch einen anti-aufklärerischen Traditionalismus.
Kein Satteln des toten Pferdes Faschismus
Natürlich muss dieser Traditionalismus gewisse Grenzen einhalten, um nicht selbst zu einem destruktiven Denken zu entarten. Abzulehnen sind Vorstellungen, die den Hyperindividualismus unserer Zeit einfach durch einen blinden Kollektivismus ersetzen wollen. Ein großer Teil unseres Selbstverständnisses als freie Individuen kann nämlich jenseits des aufklärerischen Liberalismus als Kennzeichen einer gewachsenen westlich-europäischen Identität verstanden werden, die ein Konservativer natürlich bejahen kann und muss. In einem solchen konservativen Sinne kann aber die Freiheit des Einzelnen niemals abgelöst von der Selbstbestimmung der Gemeinschaft betrachtet werden kann, welcher dieser Einzelne angehört. Also nicht: Du bist nichts, dein Volk ist alles, aber sehr wohl: Du kannst nur dann frei sein, wenn dein Volk frei von Fremdbestimmung ist.
Weiterhin ist jeglicher Versuch abzulehnen, das tote Pferd des Faschismus noch einmal satteln zu wollen, vor allem in Gestalt von Rechtfertigungen oder Beschönigungen des Nationalsozialismus, der nichts anderes war als das größte denkbare Unglück für Deutschland wie Europa. Ein zukunftsfähiger Gegenentwurf zum Liberalismus 2.0 muss zwar die Begriffe „national“ und „sozial“ zusammenführen. Es ist aber eine hinterhältige Verleumdung unserer Gegner, dass daraus immer nur der altböse Nationalsozialismus entstehen könnte. Man kann sich sogar fragen, ob nicht schon der reale, historische Nationalsozialismus diese Begrifflichkeit in sein Gegenteil verkehrt hat. Die „nordische Rasse“ ist schließlich etwas völlig anderes als das deutsche Volk, und sozialistisch war die NS-Zeit auch nicht. Hitler hofierte das Großkapital und klebte dieser Wirtschaftspolitik nur einige soziale Feigenblätter auf.
Man könnte die national-soziale Haltung, die ich hier vertrete, mit Alexander Dugin als „Nationalbolschewismus“ bezeichnen. Dieser Begriff ist zwar alles andere als positiv besetzt, aber er beschreibt zutreffend eine Staats- und Gesellschaftsordnung, in der sich der Nationalstaat hinreichend weit aus der Globalisierung gelöst hat, um seine inneren Angelegenheiten und vor allem seine Wirtschaft im eigenen Interesse zu ordnen. Ein solcher Staat wird, wie Wladimir Putins Russland, auch unter einer autoritären Führung im Sinne seines Volkes regiert, ist also keineswegs undemokratisch. Wichtig ist auch, dass eine anti-aufklärerische Einstellung nicht mit Irrationalismus gleichzusetzen ist. Das rationale Denken als Basis von Wissenschaft und Technik ist genauso ein originäres Merkmal der westlich-europäischen Kultur wie die Individualität des Menschen. Diese Dinge sind auch weder von der Aufklärung noch vom Liberalismus erfunden worden, sondern haben ihre Wurzeln schon im klassischen Altertum.
Die Systemfrage wird sich stellen
Eine Konsequenz für unsere Gegenwart ist, dass die gegenwärtigen Protestbewegungen, die sich vordergründig gegen Corona-Politik und Zwangsimpfungen richten, hinter denen aber eine zunächst noch unterschwellige Globalisierungskritik steckt, um eine Kraftprobe mit den (noch) Herrschenden nicht herumkommen werden, soweit hinter ihrem Protest wirklich Ernst und Entschlossenheit stehen. Man klammert sich an ein nicht mehr zeitgemäßes Politikmodell, wenn man glaubt, durch rationales Argumentieren und Präsenz auf der Straße die öffentliche Meinung so beeinflussen zu können, dass die Herrschenden schließlich nachgeben müssen. Das gilt für die Corona-Politik genauso wie für die Fragen von Migration und Energiewende. Nach allem bisher Gesagten ist bei diesen Themen eine Verschiebung der demokratischen Mitte nach rechts genauso wenig möglich wie ein Kompromiss. Deshalb sollte auch nicht beständig von rechts her an einen solchen Kompromiss appelliert werden, zu dem die Herrschenden niemals bereit sein werden, weil sie sich aus den global-liberalen Abhängigkeiten und Sachzwänge des Liberalismus 2.0 selbst dann nicht lösen könnten, wenn sie es wollten.
Wir müssen uns also auf eine Entwicklung einstellen, in der die Herrschenden die Protestbewegung so lange wie möglich zu ignorieren versuchen werden. Wenn aber gleichzeitig die Zahl der Protestierenden weiterhin stetig wächst wie in den letzten Wochen, dann wird irgendwann ein Punkt erreicht werden, an dem sich die „Systemfrage“ offen stellt. An diesem Punkt werden die Protestierenden und die gesamte national-konservative Opposition unbedingt tragfähige Ideen darüber benötigen, wie es mit Deutschland und Europa weitergehen soll. Ich hoffe, an dieser Stelle einige solche Ideen geliefert zu haben. Der Traum vom systemkonformen Konservativen gehört nicht dazu.
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