Horst D. Deckert

Deutsche Schnellschusspolitik: Das böse Erwachen wird kommen

Erdgasproduktion in Sibirien (Foto:Imago)

Derzeit scheint es kein wichtigeres Staatsziel zu geben als die nachhaltige Kappung von Handelsbeziehungen zu Russland, am besten gleich, gerne jedoch auch asap oder irgendwann. Wer Verlautbarungen parteiübergreifender deutscher Politiker, aber auch von Joe Biden und Ursula von der Leyen im Chor mit den Chefs der EU- und NATO-Mitgliedsstaaten lauscht, der muss den Eindruck gewinnen, als ginge es hier nicht mehr um eine anlassbezogene Gegenreaktion auf einen klar völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – sondern um die finale, endgültige Isolation des rohstoffreichsten und größten Staates der Erde.

Man sollte doch eigentlich meinen, Zweck der Maßnahmen sei ein Kriegsende und, nach Möglichkeit, idealerweise ein Regime-Change im Kreml. Dass jedoch perspektivisch die Beendigung vieler Lieferbeziehungen bei bestimmten Produkten und Ressourcen erst 2024, 2028 oder 2030 abgeschlossen sein wird, scheint nicht weiter zu stören – sondern wird ebenso begrüßt wie das, was sanktionstechnisch sofort möglich ist. Seltsam: Diese offenbar unumgänglich gedachte finale Beendigung der geschäftlichen Kooperation mit Russland für alle Zeiten blendet vollkommen die Möglichkeit aus, dass man es bis dahin vielleicht schon gar nicht mehr mit dem „bösen Russland“ zu tun haben wird: Denn was passiert denn, wenn – wünschenswerterweise – das System Putin durch einen nicht von außen orchestrierten, sondern einen von innen (durch innerrussische Oppositionskreise, abtrünnige Militärs oder Volksaufstände) erzwungenen Machtwechsel zu Fall gebracht würde, und anschließend dann pro-westliche „Demokraten“ nach dem Gusto Brüssels, Berlin und Washington ans Ruder gelangen sollten?

Die nächste Rolle rückwärts?

Wollen die friedensbewegten blau-gelben Pazifisten, mit der Voraussicht und dem politischen Sachverstand einer Eintagsfliege, ihre im Eiltempo verabschiedeten Sanktionen und abgebrochenen Geschäftsbeziehungen dann stur beibehalten, die neue Post-Putin-Regierung schwächen und die Destabilisierung Russlands auch unter einer neuen, grundrechtsorientierten und friedlichen Führung durchziehen? Oder heißt es dann wieder einmal Rolle rückwärts, Kommando zurück- und es wird dann der nächste Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kohle in Gang gesetzt?

Für die deutsche Bundesregierung spielen solche perspektivischen Überlegungen offenbar überhaupt keine Rolle. Es zählt wieder nur die Moral des Augenblicks. Was sich gut anfühlt, muss gut und richtig sein! Dabei kann – wenn selbst die Grünen plötzlich Blutöl und -gas aus Arabien gutheißen und vor menschenrechtsverachtenden Scharia-Scheichs katzbuckeln, bloß um vom politisch unkorrekt gewordenen Putin-Öl und Gas herunterzukommen – von Logik, innerer Konsistenz und Glaubwürdigkeit deutscher Politik ohnehin nicht mehr gesprochen werden. Die Junkies wechseln den Dealer, doch der Neue ist nicht minder schmutzig.

Bei Habeck und Konsorten weiß man ohnehin nicht, ob sie die Tragweite der derzeit aus dem Bauch heraus, auf Druck der Straße getroffenen Entscheidungen ihres Putin-Exorzismus begreifen – und sie nicht als Mittel zum Zweck der energetischen „Dekarbonisierung“ begreifen – nach dem Motto: Hauptsache weniger CO2! In diese Richtung weisen grotesk unterkomplexe Bemerkungen nun auch Habecks, jeder Verzicht auf Autofahren, Reisen, Heizen und Stromverbrauch schade dem russischen Despoten. Der herbeiphantasierte Overkill durch Global Warming in 50 oder 100 Jahren scheint Grüne dabei zu jedem Zeitpunkt mehr zu beschäftigen als die Zerstörung Kiews oder Mariupols.

Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe drohen

Wenn schon in Sachen volkswirtschaftliche Zusammenhänge realitäts- praxisfremde Grüne, die durch ihre erratischen Kurzschlüsse angerichteten oder achtlos in Kauf genommenen Schäden nicht erahnen, so wären sie dennoch gut beraten, Warnungen jener ernst zu nehmen, die es besser wissen: So warnen Deutschlands Energiekonzerne im Falle des Stopps russischer Gaslieferungen bereits vor Schadensersatzklagen in Milliardenhöhe – und zwar durch all die Unternehmen, die dann nicht mehr ausreichend mit Gas versorgt werden können. Für diese Schäden würde am Ende die Regierung – und damit die Allgemeinheit – haftbar gemacht. Wie der aktuelle „Spiegel“ schriebt, sollen die Versorger deshalb bereits in einer Klausursitzung von der Bundesnetzagentur verbindliche Kriterien eingefordert haben, nach denen die Behörde über die Belieferung der Industriebetriebe entscheidet.

Der bisherige nationale Notfallplan sieht vor, dass bei sinkendem Gasdruck zuerst private Haushalte versorgt werden; Industriebetriebe müssten dann mit Rationierung oder Abschaltung rechnen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), die die Gespräche mit der Bundesnetzagentur führen, hatten zuvor deutlich gemacht, dass sie der Behörde keine konkreten Unternehmen nennen würden, die von der Versorgung abgeschnitten oder rationiert werden könnten. Sicher ist nur: Wenn es dazu kommt und geklagt wird, sind die Lockdown-Schadenersatzforderungen dagegen ein müder Witz.

In drei Arbeitsgruppen wollen Verbände und Behörde nun Kriterien für Abschaltungen erarbeiten und technische Details klären. Dabei dürfte relevant sein, ob Fabriken heruntergefahren werden können und ob es um Produkte geht, die lebenswichtig sind oder in den Lieferketten dringend benötigt werden. BDEW-Geschäftsführerin Kerstin Andreae hatte die Regierung am Donnerstag aufgefordert, die Frühwarnstufe auszurufen.

Der Vorstoß sollte offenbar Tempo in die Vorbereitungen bringen. „Wir müssen Tacheles reden“, soll sie in einer Videorunde gesagt haben. Das lässt nichts Gutes erahnen: Wann immer in Deutschland Tacheles geredet wird, passiert anschließend: Nichts.

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