Zum Ärger der deutschen Pandemie-Profiteure ist die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Großbritannien am Mittwoch den siebten Tag in Folge niedriger gewesen als eine Woche zuvor. Das geht aus Daten hervor, die die Gesundheitsbehörden am späten Nachmittag veröffentlichten. Demnach gab es 27.734 neue Fälle binnen 24 Stunden und damit rund 37 Prozent oder etwa 16.000 Fälle weniger als am letzten Mittwoch gemeldet wurden.
Nach sieben Tagen in Folge, an denen die Zahlen gegenüber dem Vortag sanken, gab es allerdings erstmals wieder einen Anstieg. Nachdem am Montag vor einer Woche fast alle Corona-Regeln in England zum sogenannten „Freedom Day“ aufgehoben wurden, zweifeln viele Experten noch, ob der jüngste rückläufige Trend anhalten wird. Eine weitere Neuerung soll ab dem kommenden Montag in Kraft treten: Ab dann sollen vollständig geimpfte Reisende aus der EU und den USA nicht mehr in Quarantäne müssen, wenn sie in England ankommen.
Derweil hat das Robert-Koch-Institut (RKI) am frühen Donnerstagmorgen vorläufig 8.439 so genannte Corona-Neuinfektionen gemeldet. Das waren 347 Prozent oder 6.549 „Fälle“ mehr als am Donnerstagmorgen vor einer Woche. Die Inzidenz stieg laut RKI-Angaben von gestern 15,0 auf heute 16 neue „Fälle“ je 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage.
Insgesamt geht das Institut laut der vorläufigen Zahlen derzeit von rund 22.200 positiv Getesteten aus, das sind etwa 5.800 mehr als vor einer Woche.
Die Intensivstationen sind allerdings weiterhin leer gefegt. Lediglich 370 belegte Intensivbetten wurden heute morgen gemeldet.
In Deutschland wird – was sonst – weiterhin heftig gestritten um den richtigen Umgang mit Inzidenzzahlen und Ungeimpften:
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble plädiert für eine Aufhebung von Corona-Auflagen nur für Geimpfte, um Impf-Unwillige zur Immunisierung zu bewegen. Die Debatte über eine Impfpflicht gehe „in die falsche Richtung“, sagte Schäuble der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (NOZ). „Gleichwohl: Noch behandeln wir Geimpfte, Genesene und Getestete gleich.“
Dabei sei erwiesen, dass nach Genesung oder nach der vollständigen Impfung die Gefahr deutlich sinke, andere anzustecken. „Daher werden wir diese Gruppen nicht dauerhaft allen Beschränkungen unterwerfen können, die für Nichtgeimpfte gelten müssen, um die Pandemie zu bekämpfen“, stellte der CDU-Politiker klar. „Für eine solche unterschiedliche Behandlung von Getesteten einerseits und Genesenen und Geimpften andererseits sehe ich keine verfassungsrechtlichen Probleme, da das Risiko des Impfens nach heutigem Wissensstand extrem gering ist“, fügte der gelernte Jurist hinzu.
Frankreich, wo Nichtgeimpfte nicht länger freien Zugang etwa zu Restaurants oder Kulturveranstaltungen erhalten, könne ein Vorbild für Deutschland sein. „Wir sollten durchaus schauen, wie Frankreich und andere Länder das Problem der mangelnden Impfbereitschaft angehen, welche Wege sie einschlagen“, sagte Schäuble mit Blick auf die wieder gestiegene Impfquote in Frankreich. „Von den Erfolgen anderer zu lernen hilft uns, die Pandemie zu bekämpfen. Und wie gesagt: Es sind auch in unserem Land für Menschen, die nicht genesen oder vollständig geimpft sind, Einschränkungen möglich, die Vollgeimpften und Genesenen nicht länger aufzuerlegen sind.“ Der 78-Jährige zeigte sich erschüttert über die gesunkene Impfquote in Deutschland. „Ich kann die mangelnde Impfbereitschaft nicht nachvollziehen, das macht mich maßlos traurig“, sagte er der NOZ. Darin zeige sich „die tiefe Widersprüchlichkeit“ der Gesellschaft.
Zu Beginn des Jahres hätten die Menschen es nicht erwarten können, die rettende Spritze zu bekommen. „Und jetzt verzweifeln Hausärzte, weil Impfdosen massenhaft bei ihnen liegen bleiben.“ Dabei sei ein vollständiger Impfschutz für so viele Menschen wie möglich die einzige Chance, Corona in die Schranken zu weisen und die Freiheit zu sichern. Um das Impftempo zu steigern, hofft Schäuble auch auf sozialen Druck. Jeder Einzelne solle sich stärker mit der Frage auseinandersetzen, welche Folgen eine Impfverweigerung für die Mitmenschen hätten. „Das sollte durchaus Thema im Freundes- und Bekanntenkreis sein, dass diejenigen, die nicht mitmachen, obwohl sie es könnten, ein schlechtes Gewissen bekommen. Ein gewisser gesellschaftlicher Druck wäre aus meiner Sicht nicht verkehrt.“ Zugleich brauche es noch mehr Alltagsangebote, überall dort, wo sich die Menschen ohnehin aufhielten. „Bald etwa wieder vor dem Fußballstadion oder dem Open-Air-Konzert. Wir müssen auch verstärkt mobile Impfteams in Wohnbezirke schicken, wo wir die Menschen bislang zu wenig erreichen, wir müssen den Impfstoff zu ihnen bringen“, so der Appell des CDU-Politikers. Jede kreative Idee, wie mehr Menschen geimpft werden können, sei willkommen. Seine tiefe Überzeugung sei: „Einen neuen Lockdown müssen wir alle gemeinsam vermeiden! Das wäre verheerend für die Gesellschaft, die Wirtschaft und alle anderen Lebensbereiche.“ Gerade auch in Bildungseinrichtungen von der Kita bis zur Hochschule dürfe es nicht wieder zu solchen Einschränkungen kommen, um den Kindern und jungen Leuten nicht noch mehr Schaden zuzufügen. „Wenn ich höre, dass an manchen Universitäten auch im Wintersemester nur ein Viertel der Lehrveranstaltungen in Präsenz stattfinden soll und der Rest wieder online, muss ich sagen: Die Studierenden sollten sich damit nicht zufriedengeben. Mit Abstand und Masken muss mehr möglich sein.“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich auch mal wieder zu Wort gemeldet und widerspricht dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, in der Debatte um die Bedeutung der Inzidenz als Leitindikator in der Pandemie. „Mit steigender Impfrate verliert die Inzidenz an Aussagekraft“, sagte Spahn der „Bild“. Daher brauche es „zwingend weitere Kennzahlen, um die Lage zu bewerten“, etwa die Zahl der neu aufgenommenen Covid-19-Patienten im Krankenhaus.
Aber: Noch seien „bei Weitem nicht ausreichend Menschen in Deutschland geimpft, um ganz auf den Blick auf die Inzidenz verzichten zu können“. Wieler hatte Medienberichten zufolge am Montag in einer Bund-Länder-Schalte eine Niedrig-Inzidenz-Strategie gefordert und vor einer vierten Welle gewarnt. Pläne aus dem RKI, auch andere Kriterien für die Corona-Politik zu berücksichtigen, spielten bei seinem Vortrag offenbar keine Rolle.
Stattdessen soll Wieler darauf beharrt haben, dass die Inzidenz „wichtig“ bleibe.
Abgeordnete von FDP und Linke fordern derweil eine Anpassung des Infektionsschutzgesetzes, um neben der Inzidenz weitere Faktoren zur Grundlage künftiger Corona-Maßnahmen zu machen. Michael Theurer, FDP-Fraktionsvize im Bundestag, wünscht sich „möglichst zeitnah“ eine Änderung. „Es bringt nichts, da jetzt irgendwelche konkreten Zahlen in den Raum zu stellen, die nächste Woche schon wieder überholt sein können“, sagte Theurer der „Welt“ (Donnerstagausgabe).
Er bezieht sich dabei auf Vorschläge zu neuen Inzidenz-Grenzwerten aus der Union. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) solle stattdessen darauf hinwirken, dass ein „dynamischer Faktor“ eingeführt werde – etwa bestehend aus der Impfquote, verfügbaren Krankenhausbetten und der Kapazität der Gesundheitsämter. Dieser Faktor solle dann mit der Inzidenz multipliziert werden, so Theurer.
Achim Kessler, der gesundheitspolitische Sprecher der Linken-Fraktion, sagte, die Entscheidung über eine Anpassung des Infektionsschutzgesetzes gehöre „dringend zurück in den Bundestag“. Er fordert: „Eine Sondersitzung ist angebracht, und zwar so schnell wie möglich.“ Anders argumentiert hingegen Rudolf Henke (CDU), Berichterstatter für Infektionskrankheiten der Unionsfraktion.
„Wir sollten an den Inzidenz-Grenzwerten von November festhalten, allerdings jetzt nach Geimpften und Genesenen einerseits und Ungeimpften andererseits unterschieden“, sagte Henke der „Welt“. Er rechne damit, dass unter den Ungeimpften schon eine Inzidenz von 50 überschritten sei. „Auch ohne erneute Gesetzesänderung haben die Landesregierungen und die Bundesregierung genügend Raum, um die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen“, so Henke.
Sein Fazit: „Akut würde ich das Gesetz jetzt nicht ändern.“
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hat dazu eine schnelle Entscheidung über eine Testpflicht für Reiserückkehrer gefordert, die nicht vollständig geimpft sind. Ein entsprechender Beschluss dürfe nicht erst Mitte oder Ende August fallen, sagte Woidke dem Fernsehsender Phoenix. Die Ruhe, die derzeit auf der Bundesebene herrsche, könne er nicht ganz nachvollziehen.
Allerdings werde nicht jeder Urlaubsreisende kontrolliert werden können: „Das liegt ja auf der Hand“, so der SPD-Politiker. Grundsätzlich dürfe man sich nicht auf der positiven Pandemie-Entwicklung in Deutschland ausruhen. „Wir können uns nicht zurücklehnen.“
Das Virus habe nichts von seiner Gefährlichkeit verloren. „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass vielleicht auch neue Überraschungen vor der Tür stehen“, sagte Woidke.
Die Vorsitzende des Ärzte-Bundesverbands des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert, fordert dagegen jetzt schon eine bessere Vorbereitung auf eine drohende neue Corona-Welle im Herbst. „Man muss jetzt mit den Vorbereitungen anfangen“, sagte sie der „Süddeutschen Zeitung“. Die Inzidenz von 50 sei mal als Grenzwert für die Kapazitäten der Gesundheitsämter ausgegeben worden, aber wenn man sich höhere Inzidenzen erlauben wolle, müsse entsprechend mehr Personal für die Nachverfolgung da sein, so die Ärztin.
Teichert lobte aber auch die Entwicklungen in den Gesundheitsämtern: „Da hat sich viel getan, beim Personal und auch im Bereich Technik und Digitalisierung.“ Es gebe zwar noch Luft nach oben, aber einen Schub habe es gegeben.
Kurz zusammengefasst: Nach der Bundestagswahl kommt der nächste Lockdown. (Mit Material von dts)