Horst D. Deckert

Deutschland und die Ukraine: Einige Gedanken zum 8. Mai

Chemnitzer Kriegsdenkmal mit zeitlosem Sinnspruch (Symbolbild:Imago)

Der Ukrainekrieg ist beendet: In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai erklärt Putin die Kapitulation und stellt den Raketenbeschuss ein. Auch ordnet er den sofortigen Abzug seiner Truppenteile aus allen Gebieten der Ukraine westlich des Dnjepr an, ebenso östlich dieses wichtigsten Wasserwegs – bis auf die selbsterklärten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Auf diese beiden Volksrepubliken verzichtet die Ukraine, um die riesigen Kosten des Wiederaufbaus der von ihr mitzerstörten Städte nicht tragen zu müssen. Den Waffenstillstand ermöglichten hochrangige Ex-Diplomaten und Generäle der alten Schulen (die jungen Polit-Akteurinnen und Akteure scheiterten damit, weil sie nicht wissen, wie ein „moderner” Krieg enden könnte).

So hätte es sein können…

Diese Vorstellung vom Ende des Ukraine-Krieges beschreibe ich in Anlehnung an das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945. Frieden ist möglich: Das zeigt uns das Geschehen vor 77 Jahren. Es war ein einseitiger Siegfrieden über deutsche Köpfe hinweg, denn Hitler, Goebbels und die vielen „Adölfchen“ predigten den Krieg bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Atemzug. Heute herrscht bei uns wieder die Vorstellung, den russischen Feind auf dem Schlachtfeld schlagen zu können – aber die Gegebenheiten damals und heute unterscheiden sich gewaltig, im wahrsten Sinne des Wortes.

Reminiszenzen an den Waffenstillstand

Damals hatte ein „Schlachtfeld“ die Größe der Reichweite von Haubitzen und Panzerkanonen, allenfalls die von Bombern. Unter den Bomben gab es damals unzählige Blindgänger – unter den heutigen Raketen kaum noch „Nieten”. Heute verfügen die potenziellen Kriegsparteien über Interkontinental-Raketen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit. Doch selbst bei einer Beschränkung auf Mittelstreckenraketen wäre das Schlachtfeld nicht mehr bloß die Ukraine, sondern ganz Westeuropa mit Deutschland als Zielscheibe. Die Waffenlieferungen laufen hauptsächlich über die NATO-Air-Base der USA im deutschen Ramstein – worüber auch sonst? Dort sind auch Atomwaffen gelagert – nur 125 Kilometer Luftlinie von meinem Heimatort entfernt.

Das Kriegsende damals wurde ermöglicht, indem über die Köpfe des Hitler-Regimes hinweg Lösungen gesucht wurden. Bei den „Verhandlungen“ im Hauptquartier der alliierten Streitkräfte (SHAEF) in Reims wurde am 7. Mai die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte vorbereitet, die Kapitulationsurkunde dem Abgesandten von Reichspräsident Karl Dönitz, Generaloberst Alfred Jodl, vorgelegt und von diesem unterzeichnet. Basta. Als Zeitpunkt für die Einstellung der Kampfhandlungen wurde der 8. Mai, 23:01 Uhr festgelegt. Doch deutsche Streitkräfte setzten ihre Kampfhandlungen gegen die Rote Armee fort. So siegestrunken wie Selenskyjs Soldaten inzwischen sind, würden diese wohl ebenfalls weiterkämpfen, Waffenstillstand hin, Friedensschluss her. Auch die letzten sieben Jahre scherten sie sich nicht um das Minsker Abkommen – was allerdings auch für die russischen Separatisten galt.

In der Ukraine gibt es bislang nur Verlierer

Bis jetzt gab es im Ukrainekrieg keinen Sieger, aber viele Verlierer. Und mit jedem Kriegstag werden es mehr. Es gibt inzwischen Appelle von Künstlern (und einem Künstle) zur Beendigung des Krieges, jedenfalls zum Verzicht auf weitere Waffenlieferungen und Aufrüstung. Dem wird von Respektspersonen wie Hendryk Broder entgegengehalten, wir hätten den Ukrainern überhaupt nichts zu empfehlen, sie dürften als unabhängiges Land tun und lassen, was sie wollen. Nicht ganz falsch, aber sind wir – als ebenfalls „unabhängiges“ Land? – nicht berechtigt zu erklären, wo unsere Grenzen sind? Dürfen wir den Ukrainern nicht sagen, sie sollen ihre Waffen selbst produzieren, anstatt zwei Drittel aller Beschäftigten Dienstleistungen erbringen zu lassen, die auch den Majdan-Geistern in Kiew zugute kommen.

Wir Deutsche tun Vieles für alle in der Welt. Aber wir sollten uns davor hüten, alles für ein Land zu tun, das nicht der Nabel der Welt ist. Und wir sind nicht der Bizeps dieser Welt. Denn es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass ein Land zum Auslöser eines Weltkrieges wurde, dessen Machthabern keine Schranken gesetzt wurden. Nicht an Selenskyjs Darstellung sollten wir die geschundene Ukraine messen, sondern am Handeln seines Präsidenten: Während Berlin Kohle, Öl und demnächst den Bezug auch von Gas beenden will, kassiert Kiew weiterhin Durchleitungsgebühren und bezieht selbst – anscheinend ohne jeden Skrupel – russische Energie.

Respekt vor dem größeren Hund

Was bedeutete das Kriegsende am 8. Mai 1945? „Seit 1985 wurde in der Bundesrepublik verstärkt darüber diskutiert, wofür der 8. Mai 1945 steht: für die totale militärische Niederlage Deutschlands oder für seine Befreiung vom Nationalsozialismus. Während in der Nachkriegszeit der Aspekt der Niederlage im Vordergrund stand, hat der Aspekt der Befreiung zunehmend an Gewicht gewonnen. Historisch haben die Alliierten allerdings nicht gegen das Deutsche Reich Krieg geführt, um es zu befreien, sondern um es militärisch zu besiegen. Be-freit im Wortsinn durch alliierte Truppen wurden Hunderttausende aus politischen, rassischen, religiösen u. a. Gründen Gefangene in den Zuchthäusern, Konzentrations- und Vernichtungslagern…” Das schreibt Wikipedia zum Tag der Befreiung.

Wir sollten uns aktuell darauf beschränken, der Ukraine (und seiner russischen Bevölkerung) den physischen Frieden zurückzubringen. Maximalziele wie die „Verteidigung der Werte der NATO-Länder“ in und durch die Ukraine sind die gleichen Phrasen wie die „Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch”. Nur lebenden Menschen nützen „Freiheit und Demokratie“ etwas, Tote haben nichts davon. Genauso illusorisch ist es zu glauben, im Fall eines Sieges über Russland könnten wir diesem – mit oder ohne Putin – unser multikulturelles Weltbild mit unserem Glauben an zahllose Geschlechter und der grenzenlosen Offenheit für alle Völker der Welt überstülpen. Oder Moskau glauben machen zu machen, dass nur Parlamente von der Größe des Deutschen Bundestages „demokratisch” seien. Und wir sollten – wie im normalen Leben – akzeptieren, dass wir vor einem großen Hund mehr Respekt haben sollten als vor einem kleinen Kläffer. Auch empfiehlt es sich zu bedenken, dass ein großer, in die Enge getriebener Hund zur Bestie werden kann, wenn er es mit Wölfen zu tun bekommt.

Neutralität statt Westbindung

Übrigens: Gegen wen sich unsere Waffen richten, haben wir nicht in der Hand. In der Ukraine sind ehemalige Waffen der Nationalen Volksarmee DDR, dieses Teils eines vor 30 Jahren zerfallenen Warschauer Paktes, im Einsatz gegen dessen größten Nachfolgestaat Russland! Wer garantiert uns denn, dass sich die heute der Ukraine überlassenen (oder  angekündigten Waffen in beispielsweise zehn Jahren nicht gegen uns Lieferanten oder auch Polen richten werden? Oft kommt es anders als gedacht – wie uns die Geschichte zuhauf lehrt. Auch NATO-Mitglieder können sich zum Gegenteil von „Verteidigern” entwickeln, was man beispielsweise an der Türkei sieht: Sie bedroht Griechenland und überfällt regelmäßig südliche Nachbarn (übrigens auch aktuell wieder im Schatten des Ukrainekrieges).

Jetzt müssten die Waffen schweigen – und nicht noch mehr werden. Als nächstes gälte es das Minsker Abkommen (Minsk II) in Erinnerung zu rufen, zu aktualisieren und umzusetzen. Eigentlich müssten Frankreich, Deutschland und Russland dieses konsequent überwachen – ohne die USA! Nur so können sich die beiden heute gegnerischen Völker der Ukraine und Russlands demokratisch weiterentwickeln – so, wie auch wir Deutsche es nach einem weitaus verheerenderen Krieg getan haben. Der uns diktierte Waffenstillstand ermöglichte nach dem Krieg erst unseren relativen Wohlstand und eine Demokratie; und das, obwohl wir noch immer keinen formalen Friedensvertrag und die Siegermächte noch immer gewisse Vetorechte haben.

Der Ukraine wäre mit einem neutralen Status mehr geholfen, als wenn sie weiterer Wolf im westlichen Rudel würde. Denn letztlich bestimmt die Leitwölfin das Schicksal des Rudels. In der NATO ist dies ein großes Land mit einem betagten und bisweilen verwirrten Präsidenten, der den Ton angibt und bestimmt, welcher Gang eingelegt wird – und sei es der Untergang.

 

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