Horst D. Deckert

Die Aufkündigung der Moderne durch die Pandemiepolitik 2.0.

(Auszugsweise:)

Ob der Lockdown fortgesetzt wird, entscheidet sich nach Lage der Dinge nicht nach Maßstäben des Verfassungsrechts. Nachdem im Herbst 2020 sogar in Regierungserklärungen über „Verhältnismäßigkeit“ und „Angemessenheit“ gesprochen wurde, besteht inzwischen kein Anhaltspunkt mehr, dass Entscheidungen der Exekutive – wie auch immer sie in den nächsten Wochen und Monaten lauten – aus rechtlichen Gründen begrenzt werden könnten. Vor allem mit dem Wunderwort der „Vorsorge“ hat man sich neue Beinfreiheit verschafft. Wie kam es dazu? Und warum ist das ein Fehler?

I. Staatsrechtswissenschaft in der Krise

Die Corona-Debatte in Deutschland begnügt sich in Sachen Verfassungsrecht im Wesentlichen mit der Formel: Leben schlägt Freiheit. Diese merkwürdige Verkürzung hat zunächst einmal mit dem Zustand der Verfassungsrechtslehre zu tun. Sie konnte ebenso wie die (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit mit der Pandemie bisher nicht besonders viel anfangen. Der praktische Effekt ihres Tuns – etwa durch Einflussnahme auf bessere Gesetze, daran zu messende Verordnungen, effizientere Verwaltungsführung – hält sich in engen Grenzen, und daher hat die Politik schnell gelernt, dass in Sachen COVID-19 auf die üblichen Unterscheidungen der Rechtslehre nicht viel zu geben ist. …

Wäre stattdessen die Lehre von der Verfassung eine Grundwissenschaft im lebendigen Verfassungsstaat – an der Spitze aller Beratungsvorgänge, unverzichtbar für ein nachhaltiges Krisenmanagement – müsste sie zu den inneren Zusammenhängen von Freiheit und Schutz, von Eingriff und Leistung, sogar von Leben und Tod vordringen, unabhängig von der kleinen Münze gerichtlicher Verfahren.

II. „Vorsorge“: So-oder-so-Lockdown

Niemand erwartet ernsthaft, dass in absehbarer Zeit eine spürbare, allgemein wirksame Lockerung von Pandemiemaßnahmen ansteht. Neben einer allgemeinen Zermürbung liegt das auch daran, wie als Teil des „Erwartungsmanagements“ auf vielen Kanälen kommuniziert wird, dass man bei Verboten bleiben müsste, egal wie die Lage sich konkret entwickelt: Hohe Zahlen seien schlimm, niedrige aber letztlich auch nicht gut, weil sie angesichts „britischer Mutanten“ falsche Sicherheit mit sich brächten.

III. Das Leben der Anderen

Der Faktor Zeit wird politisch bisher auch deshalb unterschätzt, weil das Verfassungsrecht keine hinreichend präzisen Modelle steigender Grundrechtsbelastung zuliefert. Es herrscht die Vorstellung, dass jedenfalls rechtlich gesehen ein einmal vorhandener Eingriff sich in seiner Wirkung nicht steigert. Inzwischen beobachtet man zwar mit Unbehagen, dass Anspannung und Not zunehmen, und die Bundesregierung reagiert darauf mit einer erneuten Verständnis-Offensive. Aber eine echte Einsicht, dass sich tatsächlich die Grundrechtseingriffe mit jedem Tag vertiefen, also dynamisch und nicht statisch zu betrachten sind, ist damit nicht verbunden. Es fehlt an Tabellen und Sprachbildern für die sich auftürmenden Grundrechtsschäden.

IV. Leben und Sterben mit Corona

Das Dilemma, das durch die Unerreichbarkeit staatlicher Vorsorgeversprechen erzeugt wird, führt letztlich zum Verhältnis von Leben und Tod als Grundkategorien des Verfassungsstaats: Wenn jeder Todesfall „an, mit und wegen Corona“ als Versagen der Politik, als ethisches Versagen einer solidarischen Gesellschaft betrachtet wird, darf die Verbotspolitik prinzipiell niemals enden. Selbst bei höchster Impfstoffwirkung und selbst bei Impfpflicht und selbst bei Therapien wird es auf unabsehbare Zeit weiter Todesfälle „im Zusammenhang mit Corona“ geben – eben weil der Tod die eine große Sache ist, die die ganze Menschheit noch immer verbindet.


Prof. Dr. Hinnerk Wißmann ist Professor für Öffentliches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Der Text ist in voller Länge auf verfassungsblog.de verfügbar

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