Der Westen projiziert seine eigenen Negativ-Eigenschaften auf die übrige Welt.
von Gabriele Gysi
Moralische Überheblichkeit ist im Westen nichts Neues. Doch die Werte, mit denen sich der Westen so gerne schmückt, entpuppen sich zunehmend als unverbindliche Aushängeschilder. Die größer werdende Kluft zwischen moralischer Hochnäsigkeit gegenüber dem Rest der Welt und den immer deutlicher hervortretenden Unzulänglichkeiten im Westen selbst macht dieses selbstüberhöhende Gebaren immer unerträglicher und unglaubwürdiger. Gerade dann, wenn das entkernte Wertesystem der übrigen Welt immer aggressiver aufgezwungen wird. Die Schauspielerin und Regisseurin Gabriele Gysi hat diesem unterträglichen Zustand einen Text der Entrüstung gewidmet.
Wer sind wir?
Wir, die westliche Wertegemeinschaft, zusammengehalten durch alles Schöne, Gute, Wichtige und Richtige.
Wir schützen die Welt vor den Klimakatastrophen.
Wir kämpfen für Menschenrechte.
Wir setzen uns ein für die Weltgesundheit.
Wir bringen Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit in die Welt.
Wir wissen, was Meinungsfreiheit in der Welt zu bedeuten hat.
Wir setzen Geschlechtergerechtigkeit, Rassengleichheit, die Befreiung der Sexualität in der Welt durch.
Wir verbinden die Menschen weltweit digital im Netz.
Wir haben die technischen Mittel zur Verschmelzung von Mensch und Maschine als unendliche Geschichte des unendlichen Fortschritts, unser Transhumanismus führt endlich ins Glück.
Bedeutet wir auch gleich ich?
Natürlich, Ich ist ein Teil des Richtigen.
Nur unser Gefühl der Zugehörigkeit zum Richtigen macht aus dem Wir ein Ich.
Ein Ich, das recht hat, Rechte einfordert.
Gibt es irgendetwas, das wir nicht wissen?
Gibt es irgendetwas, das wir lernen sollten?
Haben wir irgendetwas vergessen?
Gibt es irgendetwas, das ich nicht weiß?
Gibt es irgendetwas, das ich lernen sollte?
Habe ich irgendetwas vergessen?
Es gibt nur die Grenzen, die wir ziehen, militärisch, ökonomisch, kulturell, weltweit.
Wir haben ein weltweites Finanzregime durchgesetzt.
Wir sanktionieren weltweit, wen oder was auch immer.
Wir führen Kriege zur Erziehung der Menschheit und wozu noch?
Zur Unterstützung der Macht des Guten!
Wir wissen um das Böse.
Wir erkennen das Böse.
Wir müssen der Hegemon, der Leader sein, denn wir haben die Apparate des Guten:
Die US-Amerikanische Armee mit der NATO als seiner Ostflanke,
Der US-Amerikanischen-NAVI, als Protektion des Guten im Pazifik.
Das WEF, der Inbegriff des Fortschritts eines beglückenden Transhumanismus.
Die Hightech-Börsen und die Plattformindustrie haben wir zur Regelung unseres Finanzregimes ermächtigt,
denn das Wir hat die Macht.
Also ist Ich mächtig!
Bin ich dieses Ich?
Um mich über das Ausmaß meiner Ohnmacht hinwegzutäuschen, bedarf es vieler medialer Gute-Nacht-Geschichten zur eigenen Güte.
Vor allem bedarf es des Bösen, von der afrikanischen Killerbiene, zum Virus, zum Russen.
Der Chinese wartet schon lauernd auf seine Rolle.
Gut, dass jeder wertewestliche Schüler weiß, wie China regiert werden muss.
Die Personalisierung unseres Geschichtsbildes, die Dämonisierung von Personen ist keine Politik, sondern Dummheit.
Sie erzählt über die Beschriebenen nichts und alles über uns.
Der Feind ist immer die eigene Frage als Gestalt!
Sind wir überhaupt in der Lage, Fragen an und über uns zu stellen?
Unser eigenes Handeln aus einer Distanz zu betrachten?
Erlaubt die permanente Emotionalisierung gegen die Bösen ein Nachdenken?
Unsere Hybris kennt keine Frage.
Was wir auf der Welt anrichten, ist uns nicht einmal ein Rätsel.
Die Politik wurde zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
Wir schaffen eine Welt, in der alles zum Krieg wird.
Wir erstaunen, wenn dieser Krieg uns erreicht.
Aber es gibt sie, die anderen. Sie sehen uns.
Sie erkennen unser Handeln.
Wir wissen nichts über sie.
Sie aber verstehen, was wir wollen:
Die Macht!
Vielleicht sollten wir aufhören, die Welt mit unserer Güte zu kolonialisieren.
Der Narzismus unserer wertewestlichen Welt überträgt sich in menschliches Leben auf allen Ebenen als Katastrophe.
Zum Artikel
Dieser Beitrag erschien zuerst im Rubikon-Magazin. Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.