Horst D. Deckert

Die „große Rede“ von Bundespräsident Steinmeier: Kriegserklärung nach innen und nach außen

Es gehört zu den Erwartungen an einen deutschen Bundespräsidenten, dass er wenigstens ein Mal in seiner Amtszeit so etwas wie eine „große Rede“ hält. Eine Rede, die sich über die Niederungen der Tagespolitik hinaus schwingt, den Kern des Selbstverständnisses des „Deutschen Volkes“ berührt und neue, grundlegende Orientierungen skizziert. Richard von Weizsäcker hat z.B. eine derartige Rede gehalten, als er am 8. Mai 1985 bei der Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag zum Ende des Zweiten Weltkriegs von einem „Tag der Befreiung“ sprach und damit das herrschende Narrativ von der Niederlage Deutschlands öffentlich zertrümmerte. Von Rainer Balcerowiak.

Auch die Rede, die Roman Herzog im April 1997 im Berliner Hotel Adlon hielt, in der er einen „Ruck durch Deutschland“ anmahnte und eine Beschleunigung der neoliberalen Deregulierung in allen Lebensbereichen einforderte, hatte durchaus eine gewisse historische Dimension, zumal die wenig später installierte erste „rot-grüne“ Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer ihre Politik genau an diesen Maximen ausrichtete.

Eine derartige „große Rede“ ist für die Bundespräsidenten die einzige Chance, sich einen einigermaßen wahrnehmbaren Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern. Denn ansonsten haben sie – anders als etwa die Staatsoberhäupter in den USA oder Frankreich – vor allem repräsentative und protokollarische Aufgaben zu erfüllen und sind ausdrücklich angehalten, sich aus der legislativen und exekutiven Tagespolitik herauszuhalten. Wem das Momentum einer „großen Rede“ nicht vergönnt war, der endet in der Überlieferung dann möglicherweise als peinliche Witzfigur (Heinrich Lübke), Elbling trinkender Volksliedinterpret (Walter Scheel), ewiger Wandervogel (Karl Carstens) , irrlichternder Möchtegern-Lebemann (Christian Wulff) oder penetranter Prediger (Joachim Gauck)

Frank-Walter Steinmeier hatte es in seiner ersten Amtszeit zwischen Februar 2017 und Februar 2022 nicht zu einer „großen Rede“ gebracht. Eher genügsam und manchmal tapsig fügte er sich in die Rolle als gütiger, manchmal dezent mahnender Bundesonkel, die ihm Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dieser Personalentscheidung zugedacht hatte. Doch seine zweite Amtszeit fällt in eine „Zeitenwende“, die allerdings nicht er, sondern der Merkel-Nachfolger Olaf Scholz bereits am 27. Februar in einer Regierungserklärung ausgerufen hatte. In deren Mittelpunkt stand ein 100 Milliarden Euro umfassendes Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr.

Der Pragmatiker Scholz widmete sich anschließend eher Waffenlieferungen an die Ukraine und allerlei „Entlastungsprogrammen“ bis hin zu einem „Doppel-Wumms“ zur Abfederung der desaströsen Folgen der Kriegspolitik für die Wirtschaft und große Teile der Bevölkerung. Und seine grünen Top-Ministerinnen und -Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck kündigten vollmundig an, Russland „ruinieren“ zu wollen, der Ukraine einen Freifahrtschein für die Eskalation des Krieges auszustellen und als deutschen Sonderweg uns selber den russischen Ölhahn zuzudrehen. Und natürlich die nagelneue Gas-Pipeline North Stream II nicht in Betrieb zu nehmen.

Den „Demokratiefeinden“ die Leviten gelesen

Das alles fanden die Regierenden in der Ukraine ziemlich klasse, auch wenn es noch mehr und vor allem schneller schwere Waffen geben sollte und Deutschland doch bitte ab sofort 500 Millionen Euro pro Monat extra überweisen möge, um u.a. die Auszahlung der Renten und der Bezüge der Staatsdiener sichern zu können. Aber unser Präsident hatte dort keine guten Karten. Galt er doch aus seiner Zeit als Außen- und Kanzleramtsminister als einer der langjährigen Protagonisten einer intensiven wirtschaftlichen Kooperation mit Russland und in ganz „dunklen Phasen“ auch einer europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands. Zeitweilig war Steinmeier in der Ukraine sogar eine persona non grata und erst nach mehrmaligen reumütigen Entschuldigungen und vielen schicken neuen Raketenwerfern und Panzerhaubitzen wurde dem Präsidenten dann vor wenigen Tagen doch noch von seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj in Kiew eine Audienz gewährt .

Das alles bietet natürlich ein optimales Umfeld für eine „große Rede“. Zumal viele Deutsche, vor allem in Ostdeutschland, diese Politik nicht gut finden und jetzt sogar mit eindeutig „rechten“ und demokratiefeindlichen Forderungen wie nach dem Ende der Wirtschaftssanktionen und Initiativen für die Beendigung des Krieges auf die Straße gehen. Außerdem wollen die auch wissen, wie sie ihre Heizkosten und immer teurer werdenden Lebensmittel bezahlen sollen oder ihre berufliche Existenz sichern können.

Denen hat Steinmeier am Freitag in seiner „Rede zur Lage der Nation“ gründlich die Leviten gelesen. Wäre der Präsident etwas lockerer, als er nun mal ist, hätte er sie unter das Motto „Schluss mit lustig“ stellen können. Der Krieg in der Ukraine sei ein „Epochenbruch“. Er habe „auch uns in Deutschland in eine andere Zeit, in eine überwunden geglaubte Unsicherheit gestürzt: Eine Zeit, gezeichnet von Krieg, Gewalt und Flucht, von Sorge vor der Ausweitung des Krieges zum Flächenbrand in Europa. Eine Zeit schwerer wirtschaftlicher Verwerfungen, Energiekrise und explodierender Preise. Eine Zeit, in der unser Erfolgsmodell der weltweiten vernetzten Volkswirtschaft unter Druck geraten ist. Eine Zeit, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt, das Vertrauen in Demokratie (…) Schaden genommen hat“.

Vorbei seien die „Jahre der Friedensdividende, von der wir Deutsche in der Mitte des vereinten Europas reichlich profitiert haben. (…) Freiheit und Demokratie schienen überall auf dem Vormarsch, Handel und Wohlstand in alle Richtungen möglich“. Und Deutschland habe immer nach Regeln gespielt, doch dann kam Putin und habe „nicht nur Regeln gebrochen und das Spiel beendet. Nein, er hat das ganze Schachbrett umgeworfen!“

Beschwörung der „Volksgemeinschaft“ gegen Russland

Nach dieser – sagen wir mal – recht limitierten Analyse des Ukraine-Konfliktes und der deutschen Rolle dabei kommt der „Blut, Schweiß & Tränen“-Teil der Rede. Es werde „raue“ bzw. „harte“ Jahre geben und „wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung und auch die Kraft zur Selbstbeschränkung“, „Widerstandsgeist und Widerstandskraft“, eine entsprechend ausgestattete Bundeswehr und eine „Gesellschaft, die ihr den Rücken stärkt“. Frieden mit Russland könne man knicken, denn „im Angesicht des Bösen reicht guter Wille nicht aus“. Die Sanktionen seien alternativlos und die Bürger sollten gefälligst nicht jammern, denn „Energie mag teurer werden, aber Freiheit ist unbezahlbar“. Und diese Krise verlange halt, „dass wir wieder lernen, uns zu bescheiden“. Wer ist eigentlich „wir“ und um welche „Freiheit“ geht es, mag man da fragen, darf man aber nicht, weil man sonst wieder bei den Rechten, den Demokratiefeinden und den Putin-Trollen gelandet wäre.

Womit Steinmeier schließlich nach einem kurzen Klima-Schlenker bei der wehrhaften Demokratie landet, die schließlich auch zur bedrohten „kritischen Infrastruktur“ gehöre, „die wir besser schützen müssen“. Dazu brauche es „widerstandskräftige Bürgerinnen und Bürger“, die zwischen der Kritik an politischen Entscheidungen „und dem Generalangriff auf unser politisches System unterscheiden“, um dem „Gift des Populismus“ etwas entgegenzusetzen.

Es folgt noch ein Werbeblock für ein soziales Pflichtjahr und ein bisschen Volksgemeinschafts-Gedöns („Reich und Arm, Jung und Alt, Stadt und Land: Verbindungen stärken, über Generationen und Lebenswelten hinweg – darum geht es mir jetzt“), und dann war der Spuk vorbei.

Jedenfalls hat die Rede an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig gelassen. Steinmeier meint das ernst, die Bundesregierung meint das auch ernst, und die ganz große Koalition der alternativlosen Mitte aus CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP, großen Teilen der Linken und einschlägigen staatstragenden Verbänden und Institutionen meint das ebenfalls ernst. Wir sollen uns im doppelten bis dreifachen Sinne warm anziehen und ansonsten die Schnauze halten, schließlich geht es um einen „Epochenbruch“, was ja noch wesentlich dramatischer als „Zeitenwende“ klingt.

Es war tatsächlich eine „große Rede“ des Bundespräsidenten. Eine unverhohlene Kriegserklärung an alle, die sich der „westlichen Wertegemeinschaft“ entgegenstellen. Und auch an jene Teile der eigenen Bevölkerung, die sich der „Alternativlosigkeit“ dieser Politik verweigern. Eine Rede, die einer kraftvollen, wirkmächtigen Antwort bedarf. Um die gilt es jetzt zu ringen, und zwar schnell.

Titelbild: photocosmos1/shutterstock.com

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