Horst D. Deckert

Die Jugendgewalt in den Pariser Banlieues liegt bei nahezu 100 Prozent

Die Zustände in den Banlieues im Umland von Paris sind absolut erschreckend. Insbesondere in Seine-Saint-Denis konnte sich unter Jugendlichen eine Gewaltkultur ausbreiten, von der sich offenbar niemand mehr freihalten kann. Man muss bei den wenigen Berichten darüber zwar etwas zwischen den Zeilen lesen und die Zahlen selbst hochrechnen, jedoch sind sie an Eindeutigkeit kaum zu überbieten. Frankreich hat fertig, wobei wieder die Frage gestellt werden muss, warum man eine englische Zeitschrift lesen muss, um überhaupt darüber zu erfahren.

 

The Spectator: Die Bandenkriege von Paris

 

Letzten Monat wurde der 15-jährige Yuriy im 15. Arrondissement von Paris von einer Bande Jugendlicher bewusstlos geschlagen. Aus drei Gründen wurde der Fall zur landesweiten Schlagzeile: Die Szene wurde gefilmt; das Opfer war weiß; das 15. Arrondissement ist normalerweise nicht der Schauplatz derartiger Gewalttaten.

Nachdem die Aufnahmen der Tat die Runde machten, drückte das Establishment aus Politik, Prominenz und Medien ihre Empörung darüber aus. Der französische Fußballer Antoine Griezmann zum Beispiel twitterte seine Unterstützung für den Jugendichen, wie auch Innenminister Gerald Darmanin und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo.

Später wurde behauptet, dass mehr hinter dem Angriff steckte, als die Medien zunächst berichtet hatten. Laut Staatsanwaltschaft trug Yuriy beim Angriff einen Schraubenzieher bei sich, während er laut Gerüchten Mitglied einer rivalisierenden Gang gewesen sein soll.

In der selben Woche, als der Angriff auf Yuriy geschah, wurde auch ein 13-jähriger Junge schwer verprügelt und wurde beinahe von einem Auto überfahren. Glücklicherweise gelang der Fahrerin noch rechtzeitig eine Vollbremsung, als der Jugendliche vor ihr Fahrzeug fiel. Dieser Angriff jedoch schaffte es nicht in die Nachrichten. Er ereignete sich nur ein paar hundert Meter entfernt von einer staatlichen Schule in Seine-Saint-Denis, wo meine Ex-Frau als Lehrerin arbeitet. Die betroffenen Jungen waren alle in ihrer Klasse.

Ihre Haltung gegenüber Yuriys medialer und politischer Aufmerksamkeit lässt sich am besten als zynisch umschreiben. Wäre er Afrikaner gewesen oder hätte er in Seine-Saint-Denis gelebt, so ihre Feststellung, wäre der Angriff auf ihn wohl kaum in die Nachrichten gekommen und das unabhängig davon, ob es Filmaufnahmen gegeben hätte oder nicht.

 

Abgeschoben, abgekoppelt & abgehängt

 

Um noch mediale Aufmerksamkeit zu erregen, muss sich in Seine-Saint-Denis schon ein Mord ereignen, wie etwa jener an dem 13-jährigen Aboubakar, der 2018 bei einer Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Banden totgeprügelt wurde. Damals beklagte sich ein Mitglied des Gemeinderats: „Dieser Tod war vermeidbar, denn wir haben im Vorfeld die Behörden alarmiert und unsere Lage genau beschrieben. Briefe, Kundgebungen, noch mehr Briefe, alles war vergeblich… die Politik hat uns völlig abgekoppelt.“

Seine-Saint-Denis ist ein abgehängter und für die meisten Pariser fremder Vorort im Norden der Stadt. Läge mit dem Stade de France nicht das Nationalstadion in Seine-Saint-Denis, nur wenige Einwohner der Hauptstadt würden sich überhaupt jemals dorthin verirren.

Erst dann, wenn die Gewalt in die gehobenen Viertel von Paris vordringt, findet dies ein Echo in den überregionalen Nachrichten. Der Bürgermeister des eher ruhigen 15. Arrondissements, Philippe Goujon, sagte nach Yuriys Angriff: „Wie anderswo ist es ein Bandenphänomen. Neu aber ist, dass solche Taten immer gewalttätiger werden.“

 

Abstumpfung, Narzissmus & Identitätslosigkeit

 

Das ist fraglich. 2017 und 2018 wurden sechs Jugendliche bei Bandenkonflikten getötet, während der Soziologe Marwan Mohammed kürzlich meinte: „Es ist unmöglich zu bestätigen, ob es eine Zunahme der Gewalt oder einen Anstieg der Bandenmitgliedschaft gibt, weil uns die Mittel fehlen, um überhaupt ein soziales und geografisches Profil der Brandherde zu erstellen.“

Für den Jugendsoziologen Thomas Sauvadet werden die Banden von Paris des 21. Jahrhunderts – von denen dei Polizei schätzt, dass es im Großraum Paris insgesamt 46 Stück davon gibt und 15 direkt in der Hauptstadt agieren – von einem „kollektiven Narzissmus“ angetrieben, „mit dem die Bandenmitglieder ihr ganzes Elend kompensieren“.

Meine Ex-Frau stimmt dem zu. Sie erzählte mir, wie die Jugendlichen, die ihren Klassenkameraden umbringen wollten, allesamt verarmt, aggressiv und unartikuliert seien, unfähig, sich auf eine andere Weise als durch Gewalt auszudrücken. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen geben ihnen einen Nervenkitzel, während ihnen die Zugehörigkeit zu einer Bande eine Identität verschafft.

 

Bandenkriege heute ein Alltagsphänomen

 

Dies ist ein wachsendes Phänomen in Frankreich. Eine aktuelle Ausgabe des Figaro berichtet, dass es im Jahr 2020 in der französischen Metropole 357 Bandenkämpfe gab, ein Anstieg von 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wobei die Zeitung feststellt, dass die Zahl der aufgrund von Gewaltdelikten verhafteten Minderjährigen von 24.000 im Jahr 1996 auf 57.000 im Jahr 2018 in die Höhe geschnellt ist.

Marwan Mohammed macht die sozialen Medien für diesen starken Anstieg verantwortlich. „Mit einer Nachricht bei Snapchat können in einem Augenblick Dutzende Personen alarmiert und mobilisiert werden“, sagt er, und wenn dann die Schlägerei ausbricht, wird sie gefilmt und auf derselben Plattform übertragen.

Um der wachsenden Gewalt zu begegnen, wurden im April 2019 vier Polizeieinheiten gegründet, die sich speziell um die „Sicherheitsprobleme“ an den Pariser Schulen kümmern sollen. Das ist eine durchaus löbliche Initiative, jedoch eine, über die meine Ex-Frau meint, dass sie zum Scheitern verurteilt sei. Die von ihr unterrichteten Kinder verhalten sich untereinander immer gewalttätiger. Für sie besteht das Problem darin, dass es sich um eine Generation handelt, die nicht von den Eltern, sondern von ihrem Handy erzogen wurde. Sie verantworten sich nicht mehr vor ihren Eltern, sondern vor ihren Gruppen in den Sozialen Medien, wo sie auch nach Anerkennung suchen und das teils in krassester Form, indem sie etwa jemand Gleichaltriges vergewaltigen und die Tat dann im Internet teilen.

 

Ein paar Zahlenspiele dazu

 

Die genannten Zahlen sind ziemlich imposant. Neben den täglich ausgetragenen Schlachten fällt vor allem die Zahl der jugendlichen Gewalttäter ins Auge. Die Ile-de-France als der Großraum um Paris herum hat über 12 Millionen Einwohner. Insofern lassen sich die Werte kaum relativieren.

In der Region als ganzes liegt die Jahrgangsstärke in den jüngeren Generationen bei ungefähr 180.000 Personen. Geht man davon aus, dass fast ausschließlich männliche Jugendliche in die Bandengewalt abgleiten und die kritischen Jahre zwischen 12 und 18 Jahren liegen, dann ergibt sich daraus ein Potenzial von circa einer halben Million Jugendlichen.

Das bedeutet, dass jeder Zehnte Jugendliche nicht nur Teil dieser äußerst bedenklichen Entwicklung ist, sondern bereits Bekanntschaft mit der Polizei gemacht hat. Da man aber davon ausgehen muss, dass nur eine Minderheit aller gewalttätiger Bandenmitglieder überhaupt je geschnappt wird, lässt sich schließen, dass sich deutlich mehr als ein Zehntel der Pariser Jugend komplett aus dem zivilisatorischen Korsett verabschiedet haben muss.

 

Apokalypse Now! in Seine-Saint-Denis

 

Verengt man den Blick nun zusätzlich auf Seine-Saint-Denis und lässt die noch heilen Bereiche in Paris und dem Umland außen vor, dann zeigt sich noch ein viel dramatischeres Bild.

Das Banlieue im Norden von Paris hat offiziell 1,6 Millionen Einwohner, wobei darüber hinaus mehrere Hunderttausend illegale Migranten leben sollen, so dass sich die Gesamtzahl der Einwohner sehr wahrscheinlich auf circa 2 Millionen Personen beläuft. In Ableitung daraus ergibt sich für die Jahrgangsstärke des Vororts ein Wert von ungefähr 30-50.000 Personen. Das resultiert in einem Gesamtpotenzial für männliche Jugendliche im kritischen Alter in Höhe von 90-150.000 Köpfen.

Es ist vermutlich nicht unrealistisch oder eher konservativ, wenn man davon ausgeht, dass die Hälfte der Bandenkriege des Pariser Großraums in Seine-Saint-Denis stattfinden. Daraus folgt, dass jeder Zweite gewalttätige Jugendliche, der von der Polizei aufgegriffen wird, von dort stammt. Im Jahr 2020 wären das etwa 28.000 Personen gewesen. Im Ergebnis erhalten wir daraus eine Bandbreite von 19-31 Prozent für den Anteil an nachweislich gewalttätigen Jugendlichen in Seine-Saint-Denis.

Zählt man zu diesen erneut all jene hinzu, die zwar ebenso gewalttätig sind, aber noch nicht von der Polizei erwischt wurden, dann lässt sich der Anteil an Jugendlichen bei 60-90 Prozent verorten, die in eine geschlossene Kultur der Gewalt abgeglitten sind.

 

Robustes “Nation Building” absehbar

 

Präsident Macron meinte vor einiger Zeit über seine mögliche Kandidatur für eine zweite Amtszeit: „Vielleicht werde ich nicht kandidieren können, vielleicht werde ich im letzten Jahr, in den letzten Monaten, Dinge tun müssen, die aufgrund der Umstände so schwer sein werden, dass sie es mir unmöglich machen, eine Kandidatur zu übernehmen. Ich schließe nichts aus.“

Viele haben spekuliert, was damit gemeint sein könnte. Mit dem Islam, der Eurokratie und den politischen Prioritätsprojekten Klimawandel, Corona und Great Reset gäbe es einiges, das passen würde. Mit dem Wissen um die Zustände in Frankreichs abgehängten Banlieues – Paris ist bei weitem nicht der einzige Problemherd, siehe etwa dieser aktuelle Bericht über die Zustände im Kaff Montbeliard – dann ist klar, wo das wirkliche Problem liegt.

Der Islam ist vermutlich nur noch ein kleiner, wenngleich wohl konstituierender Teil des größeren Problems. Augenscheinlich sind die Probleme inzwischen weit darüber hinausgewachsen. In den Gedanken von Frankreichs Funktionseliten spielen Klima, Corona und Great Reset vermutlich nur noch die Rolle von Ablenkungsmanövern für die Mittelschicht.

Denn wenn sich eine derartige Gewaltkultur erst einmal festgesetzt hat, dann sind soziologische Lösungsansätze, Anhebungen von Budgets und gut gemeinte Stuhlkreise nur noch Pflaster für jene, die sie auflegen. Darunter brennt es so lange weiter, bis entweder der Wundbrand um sich greift und der Tod eintritt, oder bis endlich jemand die Knochensäge ansetzt.

In Wirklichkeit sieht es also ganz danach aus, als gäbe keine andere Möglichkeit mehr, als das ganz harte Durchgreifen und sich Macron darüber völlig im klaren ist.

Wenn es so weit ist, dann wird Sache so laufen müssen wie in den anderen Krisenherden auf der Welt wie etwa in Afghanistan oder im Maghreb, wo die französische Armee hoffentlich ihre Lektionen gelernt hat. Und wie auch dort wird es länger dauern, bis wieder eine gewisse Normalität eintreten kann. Denn erst muss jene Generation weg sein, die das Anwenden von Gewalt als einziges Alltagswerkzeug kennt, während gleichzeitig eine neue Generation herangewachsen muss, die völlig frei davon ist. Erst dann kann überhaupt erwogen werden, die örtliche Bevölkerung sich wieder selbst zu überlassen.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie das Stade de France bald schon woanders hin verlegen werden, damit sich auch wirklich niemand mehr dorthin verirrt. Im alten Stadion können sie dann eine Kaserne oder auch ein Gefängnis einrichten. Sie werden jede Zelle davon brauchen.

Quelle Titelbild

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