Horst D. Deckert

„Die Moskauer Gespräche waren für Xi Jinping wichtiger als für Putin“

China hat seine strategische Wahl getroffen

„Jetzt erleben wir Veränderungen, die es seit 100 Jahren nicht mehr gegeben hat und diese treiben wir gemeinsam voran!“

(Xi Jinping zu Wladimir Putin anlässlich seiner Verabschiedung in Moskau)

Von JURY TAWROWSKY | Der chinesische Präsident Xi Jinping brachte die Ergebnisse der Gespräche mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin in Moskau zum Abschluss seines Aufenthalts mit der oben erwähnten Aussage auf den Punkt. In den viereinhalb Stunden vertraulicher Gespräche unter vier Augen und weiteren dreieinhalb Stunden im Beisein der engsten Vertrauten ging es eindeutig um mehr als nur Tagesgeschäft. Ein Vorgeschmack wurde der Welt in Form einer politischen Erklärung sowie wirtschaftlichen Vereinbarung schon geliefert. Die weiteren, doch noch signifikanteren Ergebnisse des Gipfels werden sich jedoch erst später zeigen.

 

Es scheint, dass die Moskauer Gespräche für Xi Jinping wichtiger waren als für den russischen Präsidenten. Russland ist in die ukrainische Angelegenheit verwickelt und nimmt die Beziehungen zu Peking durch dieses Prisma verstärkt wahr. Es trifft sich, dass China im Pazifik einen Teil der strategischen Macht des Westens bindet und damit das Potenzial für einen Angriff auf Russland reduziert. Es ist gut, dass China Energieressourcen, die unter die Sanktionen stehen, aufnimmt und die Versorgung mit notwendigen Gütern sicherstellt. Moskau bleibt wenig Spielraum über diesen Horizont hinauszugehen.

 

Xi Jinping befindet sich hingegen in einer qualitativ anderen Situation. Er ist nicht in die Taiwan-Falle der Amerikaner getappt und hat keine „Sonder-Operation“ ausgelöst, doch auf die Provokationen Washingtons asymmetrisch reagiert und eine Blockade der rebellischen Insel durchgespielt.

 

China beendete den seit drei Jahren dauernden Großeinsatz gegen CoV und hat mit der Wiederbelebung seiner Wirtschaft begonnen. Vor allem aber fand der chinesische Staatschef die volle Zustimmung des Volkskongresses für sein Handeln über die letzten zehn Jahren unter der Parole des Aufbruchs in eine „Neue Ära“ und erhielt freie Hand diese Politik über die nächsten – zwölf Jahre bis 2035 – fortzusetzen.

 

Chinas „Langer Marsch“ 1934 – 35 um der Einkreisung des Kuomintang zu entgehen

Quelle: Map of the Long March 1934–1935-en.svg: Rowanwindwhistlerderivative: Furfur, CC BY-SA 4.0 <creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0&gt;, via Wikimedia Commons

 

In Anlehnung an den politischen Stil Chinas ist diese Wegstrecke unter der Bezeichnung „Neue Kampagne“ belegt. Man muss kein echter Sinologe sein, um einen Bezug zum „Langen Marsch“, den die Kommunisten unter Mao Zedong 1934–35 vollbrachten, festzuzustellen: Vor fünf Jahren wurde auf dem XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas beschlossen, „die ursprünglichen Ideale nicht zu vergessen“.  Seither ist die sozialistische Komponente in der Politik und im Alltag Chinas wieder stärker hervorgetreten. Am Kongress im Jahr 2022 wurde angekündigt, dass der pro-westliche Kurs Deng Xiaopings, den die Partei und das Land seit 1978 verfolgte, zu überarbeiten sei. Der Slogan „tzu wo ge ming“ –„Revolution von innen“ –  bedeutet keine ostentative Schmälerung jenes „Architekten der Reformen“, sondern eine wirkliche Veränderung Erbes Deng Xiaopings. In der Tat hat Xi Jinping nicht auf einen Parteikonsens gewartet, doch von den ersten Tagen seiner Herrschaft an eine „nach innen gerichtete Revolution“ eingeleitet.

 

Der „Chinesische Traum“, den Xi Jinping Ende 2012 ausrief, bestand aus mehreren Konzepten, die jedoch wie Zahnräder eines einzigen Mechanismus ineinandergreifen: Die „Neue Normalität“ lenkte die Wirtschaft weg von der Priorität auf fremde Märkte, hin zur Stärkung des heimischen Marktes. Die sogenannte „Jagd auf Tiger und Fliegen“ zielte darauf ab, korrupte Verhältnisse unterschiedlicher Dimension aus den Produktions- und Lieferketten des Landes zu entfernen und dem Anwachsen sozialer Spannungen wirksam entgegenzuwirken.

 

Die verminderte Abhängigkeit von ausländischen Märkten führte zu einer größeren Unabhängigkeit in der Außenpolitik und zum „Heraustreten aus dem Schatten“, woran sich das Reich der Mitte auf Geheiß von Deng Xiaoping 30 Jahre lang orientiert hatte. Die „Belt and Road Initiative“ oder Neune Seidenstraße soll stabile Überlandrouten nach dem Westen sicherstellen, um im Fall einer Blockade der Seewege, über die heute noch rund 80 % der Handelsgüter transportiert werden, über eine verlässliche und alternative „Lebensader“ für China zu verfügen.

 

Die Rolle Russlands beschränkt sich nicht nur auf seine Schlüsselposition an der Neuen Seidenstraße. Russland, welches wieder an Stärke gewinnt, hat wichtige Militärtechnologien beibehalten und zugleich Beispiel für eine unabhängige Politik gegeben, die einer Großmacht würdig ist. Selbst die Größe der russischen Wirtschaft, die nicht mit der Chinas vergleichbar ist, wurde durch Moskaus strategisches Potential und Erfahrung ausgeglichen, was Peking zunächst noch zu fehlen schien.

 

Jetzt, zu Beginn der „Neuen Kampagne“, setzt Xi Jinping nicht nur Meilensteine auf neuen Wegen zur „Großen Wiedergeburt der chinesischen Nation“. Er lässt auch die ursprünglichen Ideale der Kommunistischen Partei wiederaufleben, indem er auf Handlungen von Mao Zedong und seiner Mitstreiter, einschließlich die seines Vaters Xi Zhongxun, neu zurückgreift: Zu den Errungenschaften des ersten Steuermannes der chinesischen Kommunisten zählt Xi Jinping das Zustandekommen des historischen Bündnisses mit Moskau unter Mao Zedong:

 

Die Verhandlungen zwischen Josef Stalin und Mao Zedong im Januar/Februar 1950 ermöglichten es, die höchste Stufe der Beziehungen zwischen Moskau und Peking zu erreichen – ein militärisch-politisches Bündnis, das bis heute unübertroffen blieb.

 

Das von den beiden Führern am 14. Februar 1950 im Kreml unterzeichnete Dokument trägt den Namen „Vertrag über Freundschaft, Bündnis und gegenseitigen Beistand zwischen der UdSSR und der VR China“. Stalin und Mao begründeten damit nicht nur den Zusammenschluss zweier sozialistischer Staaten nach internationaler Rechtsform, sondern bestätigten auch die Tradition der militärisch-politischen Interaktion zwischen den beiden benachbarten eurasischen Mächten. Der Vertrag wurde für 30 Jahre abgeschlossen, war aber nur etwa zehn Jahre lang gültig. Aber selbst diese Zeit war so fruchtbar, dass Historiker von der „Ära der sowjetisch-chinesischen Freundschaft“ sprechen.

 

Xi Jingping und Wladimir Putin zu ihrem gemeinsamen Auftritt in Moskau

Quelle: Kremlin.ru

 

Vielleicht bricht nun vor unseren Augen eine neue Ära an. Kein Wunder, dass Xi Jinping erklärte, dass China seine strategische Entscheidung endgültig zugunsten Russlands getroffen habe. Nicht umsonst hat Xi Jinping praktisch die gesamte neue Partei‑, Staats- und Militärelite zur „Gefechtsabstimmung“ mit den russischen Kollegen nach Moskau mitgebracht. Xi Jinping schlug Putin sogar vor, an die Errungenschaften von Stalin und Mao Zedong anzuknüpfen und durch Bündelung der Möglichkeiten nicht  nur die Sicherheit beider Länder sicherzustellen, sondern auch zur Vermeidung eines globalen Konflikt beizutragen.

 

Mit, „Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser entgegen,“ wird Heraklit zitiert: So ähnelt auch die heutige Situation auf den ersten Blick überhaupt nicht der in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts: Der ältere und der jüngere Bruder haben die Plätze getauscht. Mittlerweile ist die chinesische Wirtschaft zehnmal größer als die russische und so o auch die chinesische Bevölkerung im Vergleich zur russischen. Ein Yuan entspricht rund dem 10-fachen Wert eines Rubels. Aber das Gefälle der wirtschaftlichen und militärischen Macht in der Ära der sowjetisch-chinesischen Freundschaft beeinträchtigte nicht den gegenseitigen Respekt unter den politischen Führern beider Seiten. Gleiches galt für die „Gefechtsabstimmung“ der sowjetischen und chinesischen Soldaten am Himmel über Korea und für die aufrichtige Sympathie zwischen Studenten, Arbeitern und Wissenschaftlern beider Länder. Darüber hinaus hat Russland wichtige militärische Technologien beibehalten und damit ein Beispiel für unabhängige Politik gesetzt, die einer Großmacht würdig ist. China hat gerade erst begonnen, in dieser Richtung global aktiv zu werden, und kann aus den strategischen Erfahrungen Russlands wichtige Lehren ziehen.

 

Wie lange kann die neue Ära der russisch-chinesischen Beziehungen dauern? Das kürzlich unterzeichnete Wirtschaftsabkommen endet 2030. Im Jahr 2032 findet der XXII. Kongress der KPCh statt, den Xi Jinping noch zu leiten beabsichtigt. Er wünschte Wladimir Putin den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2024 und Erfolg bei der Führung Russlands über die gesamte gesetzlich vorgesehene sechsjährige Amtsdauer. Natürlich hängt die Zukunft der Beziehungen zwischen den beiden Großmächten in hohem Maße vom Schicksal ihrer Führer und von ihrem persönlichen Verhältnis ab. Aber die Hauptrolle spielen die nationalen Interessen. In absehbarer Zukunft werden die Entwicklungen Russlands und Chinas parallel verlaufen. Die Vereinigten Staaten und NATO werden sich dem stellen müssen.

 

Heute sind Russland und China eine globale metaphysische Yang-Kraft, eine Kraft der positiven Anfänge, des Lichts, des Guten und des Friedens. Die Vereinigten Staaten und der Westen sind die Kraft des „Yin“, die Kraft des negativen Prinzips, der Dunkelheit, des Bösen und des Krieges. Putin und Xi Jinping haben eine Synergie innerhalb der Yang-Macht hergestellt. Sie haben einen Konsens auf der Ebene der höheren politischen Mathematik erzielt. Doch, es besteht die Gefahr, dass auf der Ebene der politischen Arithmetik Clangruppen, Großbanken und globale Monopole diese Entscheidungen konterkarieren und unterlaufen. Das ist schon öfters passiert.

 

Wir müssen die pro-westliche Haltung eines beträchtlichen Teils der russischen und chinesischen Eliten in Betracht ziehen. Während die Kommunistische Partei Chinas sich auf eine Konfrontation mit dem Westen vorbereitet, verstärkt sie ihre Kontrolle über Banken, Wissenschaft, Militär und Medien. Auch Russland muss Passivität und verdeckten Widerstand überwinden und im Sinne der strategischen Koordinierung der Oberbefehlshaber beider Staaten auch die Gefechtsabstimmung der Streitkräfte und des militärisch-industriellen Komplexes sowie die politische Koordinierung der Parteien und öffentlichen Organisationen und die wirtschaftliche Koordinierung nicht nur der Staatsmonopole, sondern auch der mittleren und kleinen Unternehmen, künftig sicherstellen.

 

Der Erfolg der russisch-chinesischen Zusammenarbeit wird die Herausforderungen unserer Zeitenwende maßgeblich beeinflussen und letztlich entscheiden.

Übersetzung aus dem Russischem: UNSER MITTELEUROPA

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