Horst D. Deckert

Die Politik kann sich nicht hinter dem Bundesverfassungsgericht verstecken

Deutsche Corona-Justiz (Symbolbild/Collage)

Die 7-Tage-Inzidenz des RKI geht nun – eigentlich erfreulicherweise – seit 21 Tagen zurück; dies mag aus corona-epidemiologischer Sicht zwar keine „Entspannung“ bedeuten, doch die Zahlen sprechen jedenfalls nicht für eine erneute Verschärfung der Maßnahmen, um die Bewegungs- und Handlungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger erneut einzuschränken. Dennoch sind diese bereits beschlossene Sache – und sie betreffen inzwischen nicht mehr nur die Ungeimpften, sondern auch die „vollständig Geimpften”: Ihnen wird plötzlich ihr Impfschutz abgesprochen, und sie werden nun in den gleichen Topf wie die bisherigen Buhmänner geworfen.

Doch unverdrossen legen die Medien und ihre Politiker nach: Die Impfpflicht für täglich getestete Gesunde im Gesundheitsbetrieb ist bereits beschlossen, und die Impfpflicht für alle folgt als nächstes Etappenziel – was immer mehr Menschen auf die Straßen treibt. Den Montagspaziergängern schließen sich jetzt auch viele Gespritzte an – selbst auf die Gefahr hin, Bekanntschaft mit „Spritzen“ der anderen Art zu machen – nämlich Wasserwerfern.

Auch diese künftigen Maßnahmen werden mit der politischen Gefälligkeitsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. November 2021 legitimiert, in dem dieses den Beschluss der Merkel-Regierung zur sogenannten „Bundesnotbremse“ vom 22. April 2021 für gerechtfertigt erklärt hat. Als Arbeitsrechtler ist mir der Grundsatz geläufig „ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung” – und dasselbe gilt auch für den Blick in Urteil, in diesem Fall: in die Beschlussbegründung der Verfassungsrichter. Haben die Richter dem Gesetzgeber hier wirklich einen Freibrief oder Blankoscheck für alle Coronamaßnahmen erteilt? Deshalb wandte ich mich brieflich an das höchste Gericht.

Fragen an Karlsruhe

Ich schrieb nach Karlsruhe: „Sehr geehrte Damen und Herren Verfassungsrichter, mit großem Interesse las ich die Pressemitteilung zur Rechtmäßigkeit der ‚Bundesnotbremse‘ vom 22. April 2021. Die damaligen Maßnahmen des Gesetzgebers erfolgten aber eine Woche nach der Überschreitung des Zenits der PCR-Test-Positivzahlen, als diese bereits rückläufig waren. Das Gericht versäumte es meines Erachtens, darauf hinzuweisen, dass sich sein Beschluss nur auf den Erkenntnisstand jenes Datums bezog, und der konkrete Beschluss keine unmittelbare Rechtfertigung für Maßnahmen im Zeitpunkt anderer Coronaverläufe zulässt. Schon gar nicht für Zwangsimpfungen, die die Medien aus Ihrem Beschluss herauslesen wollen. Es wäre sachdienlich, wenn die Pressestelle eine Konkretisierung nachschiebt.

Die Antwort auf mein Schreiben traf diesen Montag ein:

Sehr geehrter Herr Künstle, in der bereits herausgegebenen Pressemitteilung heißt es: Der Gesetzgeber konnte wegen der tatsächlichen Lage bei Verabschiedung des Gesetzes an-nehmen, dass ‚….mit besonderer Dringlichkeit gehandelt‘ werden musste. In der Abwägung hat der Gesetzgeber für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen den mit den Kontaktbeschränkungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Daraus ergibt sich, dass das Gericht den Erkenntnisstand bei Verabschiedung des angefochte-nen Gesetzes in seiner Entscheidung im Blick hatte.

Erfinderische Auslegungen

Mit dieser Präzisierung ist meines Erachtens hinreichend klargestellt, dass sich die Gesetzgeber der Länder und des Bundes bei ihren weiterreichenden Maßnahmen bis hin zu einer Impfpflicht kaum auf das höchste Gericht berufen können – so wie dies irrigerweise von den Medien fehl- oder zweckinterpretiert wird. Diese journalistische Fehlinterpretation leistete dem Eindruck der „Rechtsbeugung” und der anschließenden Richterschelte Vorschub. Daran ist das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht unschuldig. Richter sind nömlich bemüht, dass ihnen das „Richten dürfen” nie ausgeht – indem sie so wenig wie möglich fallbezogen und nicht perspektivisch entscheiden.

Wieso hat der erste Senat in dem bewussten Beschluss nicht klar ausgeführt, dass sich dieser ausschließlich auf die damalige Situation und den Erkenntnisstand des Gesetzgebers vom April bezog, und dass und zum Zeitpunkt des Richterspruchs im November, also sieben Monate später, womöglich eine ganz andere Entscheidung gefällt worden wäre? Gerade im – auch juristischen – Präzedenzfall einer sogenannten Pandemie sollten die obersten Verfassungshüter des Landes eigentlich wissen, dass Möchtegernpolitiker, Parlamentarier und „privatgelehrte“ Hobby-Rechtsexperten recht erfinderisch sind in der Auslegung von unbestimmten Formulierungen – und Regelungslücken mindestens ebenso subjektiv ausfüllen wie Richter selbst.

Der neuen Ampelkoalition scheint zu dämmern, dass sie jetzt, nach Abtritt der alten Regierung, auch nicht mehr ohne weiteres auf den Großmut der Verfassungsrichter unter dem merkel-servilen Stephan Harbarth setzen kann. Das zeigt sich möglicherweise daran, dass die Impfpflicht für medizinische Einrichtungen nur bis zum 31.12.2022 befristet wurde – um die Richter prophylaktisch für diese nur temporäre Aussetzung des Grundgesetzes leichter erwärmen zu können? Diese punktuelle Aussetzung des Grundgesetzes wurde tatsächlich beschlossen und ist seit 12. Dezember in Kraft. Zur Erläuterung: Im jetzigen Artikelgesetz, in Artikel 1, ist die Impfpflicht in medizinischen Einrichtungen unter § 20a Infektionsschutzgesetz mit  geregelt; in Artikel 2 wird schon jetzt geregelt, dass dieser neue § 20a IfSG am 1.1.2023 außer Kraft gesetzt wird. Das bedeutet: Er ist tatsächlich bis 31.12.2022 befristet.

Unglaubliches Manöver

Hintergrund dieses unglaublichen Manövers kann nur das Eingeständnis des § 20a, Absatz 7 IfSG sein. Darin heißt es wörtlich: „Durch die Absätze 1 bis 5 wird das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes) eingeschränkt.” Eine Grundrechtseinschränkung bedarf jedoch einer Zweidrittelmehrheit des Bundestags; da diese nicht gegeben ist, kann § 20a IfSG somit nur grundrechtswidrig sein. Die Rechtsverdreher im Bundestag hoffen wohl, dass die Verfassungsrichter ein Auge zudrücken, wenn das Grundgesetz nur befristet außer Kraft gesetzt wird!?

Oder wurde die Impfpflicht etwa befristet, weil auch die Corona-Impfungen nur befristet wirken? Letzteres jedenfalls gilt mit einer Einschränkung: Bei denen, welche die Impfung nicht überleben, wirkt sie tatsächlich „unbefristet”, und es sind leider nicht wenige. Weil die Kabarettistin Lisa Fitz für Europa die Zahl 5.000 nannte, erhielt sie vom Südwestrundfunk als Folge eines öffentlichen Shitstorms Auftrittsverbot (ihre eigentliche „Falschmeldung“ bestand dabei möglicherweise darin, dass diese Zahl eher zu gering ist). Doch hier kennen die Medien keinen Spaß – obwohl sie selbst täglich Falschmeldungen verbreiten.

„Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht”, lautet ein altes Sprichwort. „Brechen“ ist jedoch auch ein Synonym für „sich übergeben”. Und speiübel muss in der Tat jedem zumute werden, der sich in die Materie vertieft: Am Vortag der „Bundesnotbremse“, am 21. April, meldete das RKI 12.153 neue Corona-Infizierte. Jetzt (bzw. gebotenerweise wegen Inkubationszeit 14 Tage zurückgerechnet) waren es laut RKI 13.000 neue Tagesfälle.

Neue Begründung des Ausnahmezustands

Ob also weniger als 1.000 Coronafälle mehr als im April den Verfassungsrichtern ausreichen werden, eine neue Notbremse und erneute Kontaktbeschränkungen bis hin zur erneut diskutierten Ausgangssperren durchzuwinken? Nach rechtsstaatlichen Kriterien jedenfalls kaum.

Es braucht also eine neue Begründung des Ausnahmezustands, auf denen die nächsten Grundgesetzsuspendierungen aufgebaut werden (und sei es nur, um den Verfassungsrichtern eine Brücke zu bauen, diese auch diesmal durchwinken zu können). Deshalb wird nun Omikron bemüht – obwohl im Herkunftsland dieser Mutation, Südafrika, die 7-Tage-Inzidenz weit unter der von Deutschland liegt. Aber kann dieses Virus bei uns wirklich „verheerender“ wirken als in Südafrika und anderen Ländern, wo es schon viele Wochen „wütet” (mit fast nur milden Verläufen)?

Natürlich ist zu berücksichtigen, dass auf der Südhalbkugel im Moment Sommer ist, während bei uns gerade „klimakatastrophale“ Kälte herrscht. Was anscheinend die Gehirnzellen beeinträchtigt: Die ARD-„Tagesschau” berichtet aus Großbritannien von mehr als 90.000 Neuinfektionen, unter denen 10.059 neue Omikron-Fälle seien – woraus man die Meldung bastelte, Omikron mache auf der Insel inzwischen „60 Prozent” des Infektionsgeschehens aus. Die Prozente vermehren sich bei den Staatsmedien noch schneller als die Viren.

 

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