Horst D. Deckert

Die Verlierer, die Gewinner, die Beobachter und die Opfer

Nach sechs Wochen Krieg ist dies eine gefährliche Übung. Aber es ist notwendig, sich kühl und unvoreingenommen ein Gesamtbild zu verschaffen. Dies ist ein Versuch. Umso schwieriger, als wir mit Informationen und Bildern aus allen Quellen überflutet werden. Manche davon sind manipuliert, beide Seiten setzen sie als Waffe auf dem Schlachtfeld der Meinungen und der Macht ein.

Nie zuvor wurde ein solcher Konflikt so gezeigt – von oben, von Satelliten festgehalten; von unten, durch die Handys und Kameras der Sondergesandten gefilmt. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir deswegen besser wüssten, was in den Köpfen der Machthaber vor sich geht.

Wer sind die Opfer? Die in Trümmer gelegte Ukraine. Zerstörte Städte rund um Kiew, im Donbass und im Süden am Meer. Nebst den getöteten Soldaten auf beiden Seiten zählten die Vereinten Nationen vom 24. Februar bis zum 28. März 2900 tote Zivilisten. Mit Hinblick auf die Entdeckungen der letzten Tage und die andauernden Operationen sind es wahrscheinlich viele mehr. Mehr als zehn Millionen Menschen wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen – innerhalb des Landes, nach Polen und in die Nachbarländer, einschliesslich Russland.

Und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Keine historische Erklärung – auch wenn man darüber Bescheid wissen sollte – kann die kriminelle Schuld von Wladimir Putin mildern, der diesen Krieg wollte, die Vorbehalte in seinem Umfeld ignorierte und sich weigerte, den heutigen Realitäten ins Auge zu sehen.

Doch die Dämonisierung Putins kann blind machen. Putin hat wahrscheinlich nicht befohlen, wahllos Zivilisten zu erschiessen. Wahrscheinlicher ist, dass die jungen Soldaten, die Butscha einen Monat lang besetzt hielten, von Anfang an verunsichert waren, beim Abzug in Panik gerieten und beim Gedanken an ihre toten Kameraden nach Rache dürsteten, «durchdrehten», in die Häuser eindrangen und wahllos Unschuldige töteten.

Die örtlichen Kommandeure liessen das geschehen. Es könnte auch sein, dass die ukrainischen Milizionäre, die zur «Säuberung» der von den «Kollaborateuren» zurückeroberten Gebiete geschickt wurden, zusätzliche Leichen zur Schau stellten, um einen weltweiten Schock auszulösen, der dann auch folgte. Einfach zur Erinnerung: Im Krieg gibt es zwar Verantwortliche, aber nicht nur Schurken auf der einen und gute, makellose Helden auf der anderen Seite.

Für die gemarterte Ukraine kommt das Drama der Massenauswanderung hinzu. Zwar werden viele Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren. Aber viele werden versuchen, in Westeuropa zu bleiben, weil sie befürchten, bei ihrer Rückkehr ein verwüstetes Land vorzufinden, das schon vor dem Krieg ein elendes Schicksal für die Armen bereithielt. Diese Nation, die plötzlich um ihr Überleben kämpft, wird in jeder Hinsicht ausgeblutet.

Wer sind die Verlierer? In erster Linie Russland. Egal, wie der Krieg ausgeht. Auf politisch-psychologischer Ebene hat die Regierung bereits verloren. Während sie vorgab, die Ukraine zu «befreien», hat sie nicht eine einzige starke pro-russische ukrainische Figur gefunden, die ihr im Fernsehen und in den sozialen Netzwerken «dankte». Kein einziger «Pétain» war zu sehen! Nicht einmal – wie in Prag – ein Husak, der 1969 zum Handlanger Moskaus wurde! Nicht einmal ein kleiner Führer der separatistischen Republiken. Selbst, wenn man sich auf Russia Today umsieht – man findet niemanden.



Auf militärischer Ebene ist die Summe der Verluste an Menschen und Material bereits hoch.
Es gibt noch viele Reserven, aber der Verlauf der Operationen gibt den russischen Generälen Anlass zur Sorge. Die türkischen Drohnen, über die ihr Feind verfügt, sind offensichtlich äusserst effektiv. Weitere Verteidigungssysteme treffen in grosser Zahl aus dem Westen ein. In den Kommunikations- und Kommandosystemen treten unerwartete Lücken auf.

Die westlichen Hacker scheinen schlauer zu sein als ihre Kollegen von der anderen Seite, die auch bei uns uns so gefürchtet sind. Russland verfügt über hochmoderne Hyperschallraketen, mit denen es die USA treffen könnte, und über eine beträchtliche Anzahl von Atombomben, deren Einsatz jedoch Selbstmord wäre. Auf dem Feld, in herkömmlichen Operationen, lässt sich die vermeintliche Überlegenheit Russlands kaum beweisen. Das ist das Mindeste, was man sagen kann.

Den russischen Truppen dürfte es dennoch gelingen, den Donbass und einen Grossteil der südlichen Küsten unter Kontrolle zu bringen. Putin braucht diesen Teilsieg, um am 9. Mai den Sieg von 1945 feiern zu können und an der Macht zu bleiben. Aber zu welchem Preis? Mit welchen Folgen? Schliesslich ist Russland auch zu Hause ein Verlierer, da Zehntausende von gut ausgebildeten Männern und Frauen, die ihre Zukunftsaussichten im Westen als besser einschätzen, über die Türkei und Finnland abwandern. Hier blutet die Intelligenz. Ein Glück, denkt sich Putin vielleicht, denn das sind einige potenzielle Gegner weniger. In ein, zwei oder fünf Jahren werden seine Nachfolger ihn zur Rechenschaft ziehen.

Russland ist ein Verlierer, ja, aber nicht auf der ganzen Linie und nicht dort, wo man es vermutet. Sanktionen, wie man sie in Kuba (seit 60 Jahren!), im Iran und in Syrien kennt, reichen nicht aus, um die betreffenden Regimes zu stürzen. Dies gilt umso mehr, als es Russland nicht an Energie- und Nahrungsmittelreserven mangelt und es mit einem grossen Teil der Welt ungehindert Handel treibt.

Die Massnahmen des Westens verursachen Unannehmlichkeiten und Knappheit, werden aber eine Nation, die in ihrer Geschichte bewiesen hat, wie gut sie die schlimmsten Prüfungen bestehen kann, nicht im Herzen treffen. Wenn es morgen im Kreml zu einem Führungs- und Kurswechsel kommt, wird sich dieser hinter den Kulissen vollziehen.

Der andere Verlierer, auch wenn er es sich selbst nicht eingesteht, ist die Europäische Union. Ihre Wirtschaft leidet bereits in vielerlei Hinsicht und wird noch mehr leiden. Für die Verbraucher ist das an ihren Energierechnungen ersichtlich. Warten wir erst das Gasembargo ab, das vom Europäischen Parlament (513 zu 19 Stimmen) gefordert und derzeit von Deutschland und Italien blockiert wird. Wenn es beschlossen wird, werden sich viele Solidaritäten abkühlen. Auch in der Schweiz.

Doch der Schaden geht weit darüber hinaus, wenn man an die Zukunft denkt. Wenn der russische Markt, die Investitionsmöglichkeiten und der Austausch aller Art mit diesem riesigen Gebiet wegfallen, wird der alte Kontinent verstümmelt. Sowohl wirtschaftlich als auch kulturell. Die EU feiert im Zuge der Krise ihre gestärkte Einheit. Aber das ist nur Fassade!

Ein Beweis dafür ist Macrons Aufschrei aufgrund der «skandalösen» Äusserungen des polnischen Premierministers. Dieser warf ihm vor, dass er den Kontakt zu Putin aufrechterhält und darauf hofft, Frieden durch Verhandlungen zu erzielen. Die Verhandlungen schienen sich bis vor kurzem auf der Zielgeraden zu bewegen. Nun wurden sie abgebrochen. Russland bedauert es. Nicht aber die Ukraine; Zelenskij erwähnt es gar nicht mehr, ruft aber seine Verbündeten immer wieder zu einem stärkeren militärischen Engagement auf.

Es ist eine politische Niederlage der Europäer, die auf einen schnellen Ausgang des Konflikts durch Verhandlungen gesetzt haben und immer noch setzen. Sie waren es, die bereits 2015 das Minsker Abkommen mit allen Streitparteien ermöglichten, das von den Ukrainern und den Separatisten im Donbass leider mit Füssen getreten wurde. Die Amerikaner hatten daran keinen Anteil. Heute sind es die USA, die aufgrund ihres grossen Einflusses in Kiew gegenüber Russland de facto den Krieg anführen.

Die USA sind die grossen Gewinner des Krieges. Und haben kein Interesse daran, dass er zu früh endet. Sie haben die NATO gestärkt, in der sie, egal was man sagt, alle Fäden in der Hand halten. Sie haben dem Traum von einem Europa, das durch die Verständigung mit Russland gestärkt wird, für lange Zeit ein Ende gesetzt – eine Vision, die zugegebenermassen von den Europäern selbst in Frage gestellt wurde, später auch von Putin, der anfangs daran glauben wollte und sich dann mit der bekannten Heftigkeit davon abwandte.

Die Vorteile für die Amerikaner liegen auf der Hand. Bestellungen für Waffen und Flugzeuge in der Höhe von Hunderten von Milliarden gehen ein. Gerade jetzt, wo sich die Lobby um das Ende des Krieges in Afghanistan sorgte. Und dann eröffnet sich auch noch der gewaltige Markt für verflüssigtes Erdgas, das in Europa verkauft wird, um einen Teil der russischen Lieferungen zu ersetzen.

Dazu kommt die schwere Technologie der Schiffe und der LNG-Häfen, die ebenfalls aus den USA stammt. Es ist bedrückend, dass die Europäer in ihrer frenetischen Erregung über die Schrecken des Krieges nicht laut und deutlich zugeben, dass ihre kurz- und langfristigen Interessen nicht die gleichen sind wie die der USA.

Präsident Biden – dessen Sohn die Ukraine so sehr liebte, weil ihm eine zwielichtige Gesellschaft ein kokettes Gefälligkeitseinkommen zahlte – hat allen Grund zur Freude. Er kann seine internen Schwierigkeiten vergessen machen, indem er sich als Champion der «freien Welt» aufspielt.

Vergessen auch die Niederlage in Afghanistan. Vergessen, dass der durch grobe Lügen ausgelöste Irakkrieg zwischen 2003 und 2011 etwa 200’000 (Grössenordnung) zivile Todesopfer gefordert hat. Es stimmt, dass Carla del Ponte, die selbsternannte Priesterin der weltweiten moralischen Ordnung, George W. Bush nie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt hat.

Der derzeitige Erfolg der US-Politik scheint sich zu bestätigen. Der Krieg wird noch länger dauern, zum Nachteil der unglücklichen Ukrainer und der Europäer. Aber auch die längerfristigen Zukunftsaussichten für die USA sind nicht ungetrübt. Grosse Teile der Welt spielen ihnen nicht in die Hände. Selbst das von ihnen umworbene Indien wendet sich eher Moskau zu.

Der Westen täte gut daran, zu analysieren, was bei den Beobachtern des Konflikts vor sich geht. Allen voran natürlich China, das sich in der Sackgasse seiner Null-Covid-Entscheidung verheddert hat, aber dennoch gut dasteht und sich über mögliche Sanktionen wegen seiner massvollen Unterstützung Russlands nur lustig macht.

In Afrika lacht man hämisch: «Ihr habt euch kaum um die Opfer der Konflikte bei uns gekümmert, an denen ihr beteiligt seid, also, was interessieren uns eure europäischen Dramen …?» Ähnlich klingt es in Lateinamerika, wo man sich an die nordamerikanische Unterstützung für die schlimmsten Diktaturen erinnert, die ebenfalls Tausende und Abertausende von Opfern gefordert haben.

Mexikos Präsident beispielsweise legt zwar Wert darauf, Putin, Xi, Biden und allen anderen die Hand schütteln zu können. Aber ein Teil des Parlaments hat zehn Tage nach der russischen Offensive in der Ukraine eine «Freundschaftsgruppe Mexiko – Russland» gegründet. Die Meinungen auf dem Subkontinent sind nach wie vor sehr gespalten, aber man kann nicht sagen, dass das Land den grossen Nachbarn im Norden entschieden unterstützt.

Die um die Jahrhundertwende entstandene Allianz der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) ist wieder im Gespräch. Ihre Konturen bleiben unklar, ihre internen Divergenzen sind zahlreich, aber diese Gruppe von Ländern, die dem Tandem USA-EU ablehnend bis zurückhaltend gegenüberstehen, ist schwergewichtig: 41% der Weltbevölkerung. Nicht mitgerechnet sind die Afrikaner und Lateinamerikaner, die zwar nicht formell zur Gruppe gehören, ihr aber mehr oder weniger zugeneigt sind.

Ganz zu schweigen von der arabischen Welt, die sich mit Israel versöhnt hat, und den Golfmonarchien, die die USA plötzlich kaltstellen. Einige dieser Länder haben Russland bei den Vereinten Nationen nicht verurteilt. Andere haben es getan, pflegen aber gleichzeitig weiterhin beste Beziehungen zu Russland – und stehen nicht auf der Liste der «feindlichen Länder», die der Kreml erstellt hat. Merke: all diese weltweiten Beobachter wenden die von den USA und Europa lautstark geforderten Sanktionen nicht an.

Dem Westen ist es in den letzten Jahren nicht gelungen, einen Weg der Verständigung mit Russland zu finden, und die Schuld liegt nicht ausschliesslich bei Russland – somit hat er sich selbst geschwächt. Er hat viele alte Risse aufbrechen lassen. Sein demokratisches Ideal, das er selbst so oft mit Füssen getreten hat, ist weltweit, und in seinem Inneren selbst, gefährdeter denn je. Düstere Aussichten.

Zum Originalartikel (auf Französisch)

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Jacques Pilet zählt zu den profiliertesten Journalisten der Westschweiz. Er war Berater beim Schweizer Medienkonzern Ringier, war bei Télévision suisse romande tätig, gründete das Nachrichtenmagazin L’Hebdo und ist Beirat bei Cicero.

Dieser Artikel wurde uns von unseren Freunden bei Bon pour la tête zur Verfügung gestellt, dem führenden alternativen Medium der französischsprachigen Schweiz. Von Journalisten für wache Menschen.

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