Horst D. Deckert

Drei Länder, eine Krise, verschiedene Reaktionen

Die Berichte zur Lage sehen in Deutschland, Großbritannien und Frankreich ziemlich gleich aus: Steigende Energiepreise, eine bereits ziemlich heftig „trabende“ Inflation, massive Zunahme der Staatsschulden, sinkende Wechselkurse der Landeswährung. Überall stehen die Regierungen nach eigener Darstellung angesichts des Kriegs gegen Russland, den sie mitveranstalten und eskalieren, vor „harten Herausforderungen“. Ausgetragen wird das auf dem Rücken der Lohnabhängigen, denen die Regierungen deshalb allesamt „schwere Zeiten“ ansagen. Die deutsche Bevölkerung lässt sich das gefallen. In Frankreich wird gestreikt. Im Vereinigten Königreich kommt der Widerstand von der anderen Klasse. Ein Lehrstück über kleine Unterschiede. Von Renate Dillmann.

Deutschland: „Wir haken uns unter“

Deutschland scheint in dieser Situation gerade erneut das Kunststück hinzukriegen, Unzufriedenheit und Existenzängste der vom Lohn abhängigen Bevölkerungsmehrheit annähernd lautlos zu bewältigen. Wieder einmal schafft es die Regierung – eine durchaus beachtliche Leistung! – sich mit ihren Entlastungspaketen als überaus fürsorglicher Löser von Problemen darzustellen, mit deren Zustandekommen sie angeblich nichts zu tun hat.

Natürlich: Die deutsche Regierung hat gleich vierfach Glück. Erstens gibt es den Darth Vader „Putin“, auf den man mit ausgestrecktem Zeigefinger deuten und damit so tun kann, als lägen die Gründe der aktuellen Lage ganz außerhalb der eigenen Einflussmöglichkeiten und Nutzenerwägungen.

Zweitens assistiert gerade bei dieser Art von Volksverblödung wie stets die Mainstream-Presse. Dass die kontinuierliche Inanspruchnahme staatlicher Schulden zur Bewältigung der Finanzkrise und der Corona-Politik die Inflation schon lange vor dem Ukraine-Krieg in Gang gesetzt hatte; dass Inflation kein sachgesetzlich ablaufender Prozess wie etwa die Schneeschmelze ist, sondern Resultat der Preistreiberei diverser und gar nicht russischer, sondern extrem deutscher Kapitale (z.B. der Wohnungs- und Energieunternehmen) – das blendet sie sowieso schon mal aus. Aber auch die politischen Beschlüsse der Regierung zu Waffenlieferungen, Aufrüstungskosten und Wirtschaftskrieg (den man im Land der Meinungsfreiheit nicht einmal so nennen darf) und die dafür rasant wachsenden Staatsschulden sind derzeit eher kein Thema im nationalen Diskurs – dafür aber alle Sorten von Gerechtigkeitsfragen, die man daran in sehr sehr großen Überschriften aufmachen kann.

Drittens nimmt das deutsche Publikum praktische wie geistige Zumutungen klaglos hin. Die Aufforderung des Kanzlers funktioniert: „Wir“ haken uns lieber unter und stehen diese Sache, sprich: den Kampf gegen Putin „gemeinsam“ durch – auch wenn „diese Sache“ keineswegs gemeinsam beschlossen wurde und auch keineswegs alle trifft, schon gar nicht gleichermaßen. Mit den ökonomischen und sozialen Folgen des Wirtschaftskrieges haben die „Mitglieder der Gemeinschaft“ nach ihren Möglichkeiten und ihrer Stellung „solidarisch“ umzugehen. Das heißt praktisch: Kein Inflationsausgleich bei den Löhnen, stattdessen Einmalzahlungen, Abwälzung der höheren Energiekosten auf „die Verbraucher“ und staatliche Hilfen dabei, dass jeder „das Seine“ leisten und ertragen kann.

Und viertens hat die Regierung bei ihrer nationalen Linie auch noch das Glück, dass Linksopposition und Gewerkschaften ihr nicht in die Parade fahren, sondern ihr ganz im Gegenteil tatkräftig und sozialpartnerschaftlich zur Seite stehen, um eventuell doch aufkommende Forderungen und Proteste in staatskonstruktive Bahnen zu lenken und aus dem von allen Seiten lauthals befürchteten „Heißen Herbst“ ein bestenfalls laues Lüftchen bzw. besser: eine nationale Einheitsfront zu machen. Damit kann die Ampel-Koalition offenbar gut leben (im Unterschied zu vielen ihrer Bürger) – solange man, das ist nationaler Konsens, „die Rechten“ da raus hält.

Das läuft in anderen europäischen Staaten gerade nicht so geschmeidig. England und Frankreich bieten da gerade zwei interessante Beispiele.

Großbritannien: Finanzkapital erzwingt neue Regierung(slinie)

„Die Macht der Märkte“ titelt die FAZ (22.10.22) und unter dem Titel „Parkettnotizen“ war in den VDI-Nachrichten zu lesen:

„Die Kapitalmärkte zwingen Liz Truss zum Einlenken. Großbritanniens Regierung kassiert die geplante Steuerreform wieder ein. Die Bonität des Landes hätte unter der enormen Neuverschuldung zu sehr gelitten.“

Inzwischen ist die Premierministerin von der Herrschaft über das Vereinigte Königreich und einen der größten Finanzplätze der Welt bekanntlich zurückgetreten. Der Grund: Liz Truss wollte nationales Wachstum in neoliberaler Logik durch drastische Steuersenkung durchsetzen und den steuerlichen Ausfall für den Fiskus mit zusätzlichen Staatsanleihen kompensieren. Im Prinzip bewährt und erfolgreich. Das haben „die Kapitalmärkte“ ihr in dieser Lage allerdings nicht durchgehen lassen.

Die vereinigten Finanzanleger befürchteten gravierende ökonomische Folgen: Abwertung des britischen Pfunds, Ruinierung der Pensionsfonds, Verlust der Bonität für britische Staatsanleihen usw. Um das zu verhindern, haben sie einfach ihre ökonomische Macht ins Spiel gebracht und damit politischen Druck erzeugt – mit Erfolg: die Steuerpläne wurden zurückgenommen; der Finanzminister und die Premierministerin sind zurückgetreten.

Bemerkenswert daran sind die folgenden Punkte: Eine kapitalfreundliche Entscheidung der Regierung wurde zurückgewiesen – und zwar von den Kapitalmärkten. Die Kreditgeber und Profiteure der Kapitalvermehrung zweifelten offenbar daran, dass weitere Steuerentlastungen ihrem Bereicherungsinteresse dienlich sind. Und sie bezweifelten die Vertrauenswürdigkeit neuer britischer Staatsschulden, die unter dem Vorzeichen einer hohen Inflation und künftiger Leitzinserhöhungen wenig rentabel erscheinen. Ihr Zweifel an den Devisen- und Rentenmärkten, nicht der Einspruch der Opposition, nicht die Wut der Arbeiterklasse, fegte zunächst die Steuerpläne, dann den zuständigen Minister und schließlich die Premierministerin weg.

Darin liegt auch ein Lehrstück in Sachen Demokratie: Liz Truss wurde weder gewählt noch abgewählt. Ihre brutale Kriegspolitik interessiert im Königreich anscheinend kaum jemand (außer Ex-Labour-Chef Corbyn). Die Briten haben auch nicht auf der Straße rebelliert gegen die Frau und ihre Pläne. Über die Herrschaftsausübung von Frau Truss wird eben auf dem „Börsenparkett“ entschieden. Dort fragt man sich, ob die weitere Fortsetzung des Neoliberalismus zur Kriegswirtschaft passt.

Fazit: Nicht Wahlen, Proteste, Streiks, sondern das anerkannt eigennützige Urteil der Finanzkapitalisten, inwiefern politische Beschlüsse ihrer Bereicherung dienen, entscheiden über die Politik. Die hat sich also damit zu legitimieren und sich daran zu bewähren, inwiefern ihr Handeln dieser Klasse dient.

Frankreich: Gewerkschaft kämpft gegen Verschlechterung der Lebensverhältnisse

„Streiks in Frankreich weiten sich aus. Die Protestwelle in Frankreich reißt nicht ab. Nach wochenlangen Streiks an den Raffinerien dehnen sich die Protestveranstaltungen nun auch auf weitere Branchen aus. Die seit etwa drei Wochen andauernden Streiks an französischen Raffinerien haben sich am Dienstag auf die Eisenbahn, den Pariser Nahverkehr und weitere Branchen ausgeweitet. Auch Gymnasien, Berufsschulen, ein Atomkraftwerk und ein Elektrizitätswerk waren betroffen. Die Streikenden fordern etwa höhere Gehälter angesichts der Inflation.“ (Die Welt, 18.10.22)

In der Folge werden Raffinerien, Treibstofflager und Eisenbahnen sowie ein Dutzend Atomkraftwerke bestreikt, was zu erheblichen Problemen für alle möglichen Teilbereiche des kapitalistischen Produzierens und Vermarktens führt – unter anderem sind ein Viertel bis ein Drittel der Tankstellen ohne Treibstoff, es bilden sich riesige Schlangen.

Die Kämpfe der Gewerkschaften, vor allem der CGT, drehen sich um die Punkte:

  1. Echter Inflationsausgleich für die Beschäftigten (ein Angebot von TotalEnergies von 7% und 6.000 € Jahresprämie wurde von der CGT als ungenügend abgelehnt).
  2. Rücknahme der Rentenreform, die das Renteneintrittsalter auf 65 hochsetzt. Stattdessen eine Rückkehr zur Rente mit 60 (!) (eine Forderung, über die die deutsche Presse meist extrem unscharf berichtet – offensichtlich, um ihr Publikum, dem gerade eine Erhöhung des Renteneintritts-Alters auf 69 (!) Jahre als Sachzwang einer „sicheren Rente“ in Aussicht gestellt wird, nicht zu verwirren).
  3. Keine Kriminalisierung der Streiks bzw. der Streikenden in der Energieversorgung und der Logistik.

Über eine Kritik der französischen Kriegsbeteiligung ist nichts bekannt.

Die Streiks vor allem der Gewerkschaft CGT treffen dabei durchaus auf breite Sympathie in der Bevölkerung – auch die der negativ betroffenen Pendler, wie selbst die Tagesschau berichtet: „Ein paar Meter weiter schaut Sabrine hin und her zwischen den Anzeigen am Gleis und ihrem Handy. Obwohl ihr die Zugausfälle das Leben schwermachen, nimmt sie es den streikenden Lokführern nicht übel: ,Ich kann das verstehen in Bezug auf die Gehälter.‘ Evelyne, eine weitere Passantin, ist auf dem Weg zu einem Seminar. Sie unterstützt die Streiks: ,Es ist immer die einfache Bevölkerung, die die Konsequenzen ausbaden muss. Aber es gibt gute Gründe für die Streiks. Und es ist vielleicht Zeit, dass Frankreich aufwacht.‘“ Unterstützt werden die Forderungen auch durch Proteste der Berufsschüler und Gymnasiasten.

Bemerkenswert an den anhaltenden Streiks (wie bereits an den Aktionen der Gelbwesten 2018) ist einerseits, was eine Gewerkschaft anrichten kann, die im Vergleich mit deutschen Gewerkschaften ziemlich mitgliederschwach ist (die CGT hat unter 700.000 Mitglieder, Stand 2017) und sich laut Friedrich-Ebert-Stiftung in einer bereits Jahrzehnte anhaltenden Krise befindet,. Falls deutsche Lohnabhängige also – allen bereits abgehandelten Tendenzen zum Trotz – auf abweichende Ideen kämen: Hier könnten sie sich in Sachen Organizing bzw. geschicktem Aufbau von Streikmacht bedienen!

Andererseits wird allerdings auch deutlich, wie kaltschnäuzig der Protest von unten von der Macron-Regierung zurückgewiesen wird. Der Präsident verlangt seinem Volk seit Beginn des Ukraine-Kriegs eine „Beschränkung des Konsums“ ab und fordert aktuell ein Ende der Blockaden. Um sich durchzusetzen, hat er mit Zwangsrekrutierungen nicht nur gedroht, sondern sie laut einem Bericht der Jungen Welt vom 14.10.2022 auch bereits umgesetzt:

Drei Arbeiter von einer Raffinerie bei Dünkirchen wurden zwangsrekrutiert, um ab 14 Uhr ihre Arbeit für zwölf Stunden wieder aufzunehmen. Nach Angaben der CGT erschien die Polizei bei den Beschäftigten zu Hause und benachrichtigte sie über ihre von der Präfektur unterzeichnete Zwangsrekrutierung. Als Reaktion auf dieses Vorgehen rief CGT-Generalsekretär Philippe Martinez zum Generalstreik auf.
Macron und seine Premierministerin Élisabeth Borne forderten bereits seit Montag das Ende der »Blockade«, die vor allem in Paris und Umgebung sowie in den nördlichen Departements und der Hafenstadt Marseille im Süden zu Problemen bei der Benzinversorgung führt. Das französische Gesetz zur Funktion der Gebietskörperschaften erlaubt Regierungen die Zwangsrekrutierung eines Teils der streikenden Beschäftigten eines privaten Betriebs, ,wenn dieser für die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Bevölkerung wichtig ist und der Ausstand die öffentliche Ordnung gefährdet‘.“

Die Macht der französischen Lohnabhängigen ist insofern – bei allem Einsatz, den sie an den Tag legen – nicht mit dem lautlosen Tritt des Zinsfußes auf dem britischen „Parkett“ zu vergleichen. Ohne Rechtsbruch – etwa bei den Blockaden – ist sie „auf der Straße“ nicht einmal in Frankreich zu entfalten, wo der politische Generalstreik als Einflussnahme auf die Politik immerhin rechtlich anerkannt ist.

Und natürlich steht die freie Presse auch in Frankreich mehrheitlich ganz wie von selbst auf Seiten der Regierung, fragt sich besorgt, wie der Präsident die Proteste in den Griff kriegt und tut ihr Bestes, eventuelle Ausschreitungen in den Vordergrund ihrer Berichterstattung zu rücken, um die Bewegung zu kriminalisieren und sympathisierende „brave Bürger“ abzuschrecken.

Schon 2016 berichtete das Handelsblatt in ähnlicher Situation: „Die den Kommunisten nahestehende Arbeitnehmerorganisation (die CGT, RD) verhinderte auch die Auslieferung vieler Zeitungen. Ihr Vorsitzender Philippe Martinez hatte verlangt, die Medien müssten eine ausführliche Stellungnahme von ihm veröffentlichen, sonst würden sie nicht erscheinen. Offenbar verwechselte er Frankreich mit Venezuela. Als die Presse sich weigerte, seiner Erpressung zu folgen, blockierten CGT-Anhänger die Druckereien.“

In der Tat: Wo käme denn da die Meinungs- und Pressefreiheit in den europäischen Demokratien hin, wenn Unzufriedene, linke Gewerkschaften oder irgendwelche Aktivisten ihre „ausführlichen Stellungnahmen“ publizieren könnten?

Lehrstück über den kleinen Unterschied

Anders als in Deutschland lassen sich die Franzosen manchen Angriff auf ihre Lebensverhältnisse nicht bieten. Das bewundern viele Deutsche an ihren westlichen Nachbarn und beschweren sich – ein Fall von mittelschwerer Schizophrenie – über ihre eigene Untertanen-Mentalität. Ohne es beim nächsten Mal anders zu machen…
Insofern eine stetige Wiederauflage und Steigerung der beliebten Lebenslüge der deutschen Lohnabhängigen, dass sich die erzwungene Unterordnung unter das Krisen- und Kriegsprogramm der Regierung letztlich irgendwie doch rechnet (jedenfalls mehr als das französische Gegenprogramm: Widerstand lohnt sich nicht! als die deutsche Lehre aus der Weltgeschichte).

Wenn in Frankreich die lohnabhängig Beschäftigten mit schöner Regelmäßigkeit gegen die staatlich verordneten Verschlechterungen ihrer Arbeits- und Sozialversicherungsbedingungen mobil machen, zeigt das allerdings auch die Grenzen, auf die für ihre Interessen kämpfende Arbeiter treffen – ob das nun Gewerkschaften oder Gelbwesten sind.

Sie können mit Streik, Generalstreik und Randale einiges an Verschlechterungen verhindern; sie können die Regierung im Einzelfall sogar zur Rücknahme ganzer Gesetzesvorhaben zwingen. Was sie aber – jedenfalls solange sie sich im Rahmen dieser Wirtschaftsordnung bewegen (wollen) – nicht erreichen können, ist: den Willen und die Mittel von Kapital und Staat außer Kraft zu setzen, die dank der „Sachgesetze“ der Standortkonkurrenz dafür sorgen, dass sich die vom Lohn Abhängigen immer und immer wieder derselben Frage ausgesetzt sehen: Ob ihr Verdienst und ihre soziale Absicherung nicht unverträglich mit den Erfordernissen des Marktes sind. Weshalb sie sich immer und immer wieder gegen diese Angriffe wehren müssen.

Da hat es das protestierende Finanzkapital in England einfacher. Seine Interessen an mehr money sind nicht Kosten für die Kapitalvermehrung (wie die Löhne der Arbeiterklasse), sondern ihr Zweck. Sein partikulares Interesse an steigenden Renditen und der dafür nötigen Stabilität von Finanzplatz und Währung fällt auf’s Schönste mit dem britischen Allgemeinwohl zusammen: dem Wachstum des Standorts. Kein Wunder also, dass die Bedenken der Banker die Regierungspartei beeindrucken; kein Wunder auch, dass sie dafür nicht zu den plumpen Mitteln des Straßenkampfs greifen müssen…

Titelbild: Ron Ellis/shutterstock.com

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