Nach einer aktuellen Studie gilt jeder dritte Studierende in Deutschland als arm, unter den Empfängern von Bundesausbildungsförderung sind es fast 45 Prozent. Gemessen daran ist die am Donnerstag vom Bundestag beschlossene 27. BAföG-Reform wieder nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nicht einmal die durch den Ukraine-Krieg befeuerte Inflation wird ausgeglichen, ganz zu schweigen von den etlichen Nullrunden früherer Jahre. Auch die strukturelle Erneuerung des Systems wurde nicht angepackt, die soll erst in einem zweiten Schritt folgen – Ausgang ungewiss. Die von der Koalition beschworene „Trendumkehr“ gerät bei all dem zur hohlen Phrase und das Studium für viele zur Schuldenfalle. Von Ralf Wurzbacher.
Als der Paritätische Wohlfahrtsverband Mitte Mai eine sozialpolitische Bombe hochgehen ließ, schaltete das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf taubstumm. War was gewesen? Aber hallo! Wie die paritätische Forschungsstelle anhand einer repräsentativen Umfrage ermittelt hatte, lebte zum Erhebungszeitraum 2019 fast jeder dritte Studierende in Deutschland in Armut. 30,3 Prozent der rund 2,9 Millionen Hochschüler – relativ fast doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung – fristeten demnach ein Dasein unterhalb der Armutsgrenze, die damals für Alleinstehende bei einem Monatseinkommen von 1.266 Euro lag. Die Betroffenen schlugen sich dagegen mit im Schnitt 802 Euro durch.
Besonders schwer haben es junge Menschen mit eigener Bleibe. Von ihnen führten 40 Prozent ein Leben „mithin unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums“ von seinerzeit 771 Euro, konstatierten die Autoren. Einem Viertel davon standen sogar weniger als 600 Euro zur Verfügung. Dabei dürfte sich die Lage heute – drei Jahre später – noch zugespitzt haben. Es bestehe „das Risiko einer Untererfassung“ des tatsächlichen Ausmaßes der Misere, heißt es in der Analyse. Die ohnehin schon „dramatischen Befunde“ spiegelten nicht die „drastischen Einschnitte“ wider, die mit Beginn und während der Corona-Krise eingetreten seien.
Während zweier monatelanger Lockdowns waren Hunderttausende Studentenjobs, für viele die wichtigste Einnahmequelle, weggebrochen. Die von der großen Koalition aufgelegte „Überbrückungshilfe“ brachte nur sehr begrenzt Linderung. Die ersten Zuschüsse kamen nicht nur reichlich verspätet, sie fielen mit maximal 500 Euro pro Monat auch recht kümmerlich aus. Und wegen erheblicher bürokratischer Fallstricke konnten zahllose eigentlich Bedürftige keine Ansprüche geltend machen. Dadurch waren viele genötigt, auf das vorübergehend zinsfrei gestellte Studiendarlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zurückzugreifen. Der Staatsbank bescherte dies Kundschaft im Überfluss (40.000 Neuabschlüsse mehr als 2019) und den Kunden die Aussicht auf eine Zukunft in der Schuldenfalle.
Fröhliches Studentenleben war einmal
Auf alle Fälle hat die Pandemie tiefe Spuren in der Studierendenschaft hinterlassen, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Und mit dem Ukraine-Krieg sind die Herausforderungen wieder größer geworden. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, befand in einer Medienmitteilung anlässlich der Veröffentlichung: „Die altbackenen Klischees des fröhlichen Studentenlebens bei wenig Geld, aber viel Freizeit, sind absolut überholt und haben mit der Lebenswirklichkeit und dem Studiendruck heutzutage nichts mehr zu tun.“ Das Versprechen von Fortschritt, Chancengleichheit und gleichen Möglichkeiten für alle junge Menschen sei nicht viel wert, „wenn es nicht gelingt, Studierende wirksam vor Armut zu schützen und ihnen den Rücken für eine Ausbildung, frei von existenzieller Not, zu stärken“.
Vom Adressaten, der Bundesregierung, kam dazu nicht einmal ein Mucks. Dabei war Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) just in den Tagen, in denen die Studie erschien, auf der größten Baustelle zugange, die es in puncto Studienfinanzierung gibt. Sie selbst hatte ihr Amt mit dem Versprechen angetreten, das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) einer Rundumerneuerung zu unterziehen, die Gefördertenzahlen erheblich auszuweiten und das System auch strukturell fit für die Zukunft zu machen. Noch am 12. Mai hatte sie bei der ersten Lesung im Bundestag zu der von ihr eingebrachten 27. BAföG-Novelle diesen schönen Satz gesprochen: „Das BAföG muss sich dem Leben anpassen, nicht umgekehrt.“ Faktisch läuft es aber genau „umgekehrt“, wie spätestens mit der Studie des Paritätischen klargeworden sein müsste: Nach deren Ergebnissen gelten nahezu 45 Prozent aller BAföG-Bezieher als arm, während dies auf Hochschüler ohne öffentliche Zuwendungen „nur“ zu knapp 29 Prozent zutrifft. Hätte es für die Ministerin noch eines Anstoßes bedurft, den ganz großen Wurf mit ihrer BAföG-Reform zu landen, hier war er.
Kleckern satt Klotzen
Es kam anders. Am Donnerstag hat das höchste deutsche Parlament das neue Regelwerk mit der Mehrheit der Regierungskoalition sowie den Stimmen der Linksfraktion verabschiedet, womit es zum kommenden Wintersemester 2022/23 in Kraft treten kann. Die Maßnahmen bleiben einmal mehr weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Mit einem Aufschlag bei den Bedarfssätzen um 5,75 Prozent werden nicht einmal die Teuerungsraten bei Energie und Lebensmitteln kompensiert, die speziell seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine durch die Decke gehen. Im Mai betrug die Inflation – verglichen mit dem Vorjahresmonat – 7,9 Prozent und ein Ende der Preisrallye ist nicht in Sicht. Das vermeintliche Plus wird bei den Betroffenen faktisch mit einem dicken Minus ins Kontor schlagen. Zumal es die Zulage erst im Herbst geben wird und dann für mindestens zwei Jahre kein Nachschlag zu erwarten wäre.
Ursprünglich sollten die Leistungen um lediglich fünf Prozent angehoben werden. Erst auf den letzten Drücker – wohl ein symbolisches Zugeständnis an die Kritiker – rang sich am Mittwoch der Bildungsausschuss in seiner Beschlussempfehlung zu einem Bonus von einem dreiviertel Prozentpünktchen durch. Damit erreicht der BAföG-Höchstsatz (Grundbedarf, Wohnpauschale, Zuschlag für Kranken- und Pflegeversicherung) 934 Euro, was immer noch weit unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Eigentlich sollte eine BAföG-Reform, die den Namen verdient, mindestens die Entwicklung bei Löhnen und Preisen seit der vorangegangen Reform aufholen und besser noch für die Zukunft vorbauen. Tatsächlich hechelt das BAföG der Realität im Gefolge etlicher Nullrunden und mehrerer halbherziger Reformen aber schon seit einer halben Ewigkeit hinterher und mit jedem Jahr wird der Abstand größer.
Wollte die Regierung das Versäumte wirklich nachholen, müsste sie vielleicht da landen, wohin etwa die Gewerkschaft Erziehung und Wissenshaft (GEW) hinstrebt: „Unser Ziel ist ein BAföG-Höchstsatz mindestens in Höhe des steuerlichen Existenzminimums von 1.200 Euro“, äußerte sich der stellvertretende Verbandsvorsitzende Andreas Keller am Mittwoch. Nicht ganz so hoch hinaus will der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der sich für eine pauschale Erhöhung um 150 Euro ausspricht. Dagegen wird der Grundbedarf gemäß Bundestagsbeschluss um bloß knapp 25 Euro auf 452 Euro steigen.
Historischer Niedergang
Den historischen Niedergang des BAföG haben die NachDenkSeiten hier bereits vor einem Jahr nachgezeichnet. Anlass war ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das ausgerechnet im 50. BAföG-Jubiläumsjahr den Fall einer Klägerin zur Prüfung an das Bundesverfassungsgerichts überwiesen hatte. Nach dem Entscheid der Richter erfolgt die Festsetzung des Grundbedarfs intransparent und wider den Grundsatz eines chancengleichen Zugangs zu den Hochschulen unabhängig von den Besitzverhältnissen der Eltern. Schließt sich Karlsruhe dieser Position an, dann wäre mit allen BAföG-Novellen der zurückliegenden mindestens zwei Jahrzehnte gegen das Grundgesetz verstoßen worden – einschließlich der jüngsten.
Aktuell beziehen noch höchstens elf Prozent aller Studierenden BAföG-Zuwendungen. Das ist einerseits Folge der Entkopplung der Elternfreibeträge von der Lohnentwicklung, wodurch immer mehr eigentlich Bedürftige aus der Förderung gepurzelt sind. Noch größere Verluste begründen sich durch den „freiwilligen“ Rückzug aus der Sozialleistung. Weil die Bezüge in aller Regel nicht annähernd zum Lebensunterhalt reichen und oft nur ein „Zubrot“ neben der Erwerbsarbeit sind, jobben viele lieber ein paar Stunden mehr pro Woche und sparen sich so den leidigen Antragsstress sowie eine Zukunft mit Schulden. Dabei bleibt freilich weniger Zeit zum Studieren und der Studienerfolg auf der Strecke. Echte Abhilfe verspricht hier neben deutlich höheren Leistungen vor allem die Rückumstellung auf ein Vollförderung ohne hälftigen Darlehnsanteil, wie dies Studierendenvertreter, Gewerkschaften und die Partei Die Linke fordern.
Stark-Watzinger setzt dagegen ziemlich einseitig auf die Karte Freibeträge. Diese werden für Eltern in einem wuchtig anmutenden Schritt um 20,75 Prozent angehoben (ursprünglich 20 Prozent), was der FDP-Frau allerhand Lob auch von Seiten ihrer Kritiker einbrachte. Die GEW wies allerdings unter der Woche darauf hin, dass das BMBF selbst nur mit einem bescheidenen Aufwuchs bei den Gefördertenzahlen rechnet. Demnach könnte der Anteil der BAföG-Begünstigten unter allen Studierenden um gerade einmal 1,8 Prozentpunkte zulegen, also auf ein Niveau von vielleicht 13 Prozent. Die verheißene „Trendumkehr“, wie sie schon ihre Amtsvorgängerinnen Johanna Wanka und Anja Karliczek (beide CDU) beschworen hatten, wünschte man sich ein wenig kraftvoller. Wenn die Ausbildungsförderung wieder in der Breite wirken solle, müssten die Freibeträge um 50 Prozent aufgestockt werden, meint jedenfalls die GEW.
Vermögensgrenzen, Mietzuschuss: lebensfremd
Ebenfalls für Aufsehen hatte die Ministerin mit der geplanten Erhöhung der Vermögensfreibeträge für Studierende auf 45.000 Euro gesorgt. Aktuell liegt die Grenze, bis zu der Angespartes nicht aufs BAföG angerechnet wird, bei 8.200 Euro. Allerdings hätte die Regelung zu Missbrauch einladen können. Unter anderem das Deutsche Studentenwerk (DSW) hatte im Anhörungsverfahren auf Szenarien verwiesen, bei denen sich Eltern durch Vermögensübertragung auf ihre Kinder aus der Unterhaltspflicht stehlen könnten. Dem Risiko begegnete der Bildungsausschuss kurz vor Toresschluss mit einer Änderung dergestalt, dass beim Schonvermögen eine Altersgrenze eingezogen wird: Unter 30jährige dürfen höchstens 15.000 Euro besitzen, für jene über 30 Jahren bleibt die Schwelle bei 45.000 Euro bestehen. Aber: Welcher Normalstudent hat schon Tausende Euro auf der hohen Kante liegen? Das Kalkül, mit der Neubestimmung junge Menschen in relevanter Größenordnung fürs BAföG zu gewinnen, erscheint daher recht lebensfremd.
Dasselbe gilt für die Nachbesserung beim Mietzuschlag für auf eigene Rechnung wohnende Studierende. Dieser steigt von 325 auf 360 Euro. Heutzutage werden in traditionellen Studierenden- und Großstädten für eine Unterkunft häufig 500 Euro und mehr aufgerufen. In München sind es für ein WG-Zimmer mitunter 700 Euro. Bei einem BAföG-Höchstsatz von 934 Euro bleibt davon kaum etwas übrig. Tatsächlich gibt es auch Standorte, an denen 360 Euro den Bedarf übersteigen, das jedoch ist die große Ausnahme. Im Bundesmittel werden 414 Euro pro Monat fällig und mit jedem Jahr wird das Wohnen teurer. Unter anderem der DGB schlug deshalb bei einer Expertenanhörung eine regionale Staffelung der Wohnpauschale gemäß den Bedingungen der örtlichen Wohnungsmärkte vor, drang damit aber nicht zur Regierung durch.
Aber nicht alles an deren Novelle ist schlecht. Es wird höhere Zuschläge für die Kranken- und Pflegeversicherung geben, mehr Geld für die Kinderbetreuung Studierender, eine Erhöhung der Altersgrenzen von 30 Jahren bei BAföG-Beginn auf 45 Jahre. Der letzte Punkt ist es jedoch schon so ziemlich der einzige, der sich unter struktureller Erneuerung verbuchen lässt. Es fehlen Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Studium, Familie und gegebenenfalls Beruf, indem man das BAföG etwa für Teilzeitstudierende öffnet, sowie eine Abkehr vom Kriterium der Regelstudienzeit. Sobald man ein Semester zu lange studiert, endet die Förderung. Lediglich rund ein Drittel der Studierenden erfüllt heute noch diese Vorgabe.
Stark-Watzinger will nachlegen
Vor allem mangelt es am Willen, das System finanziell auf stabile Beine zu stellen. Solange den Anspruchsberechtigten nicht deutlich verbesserte Bezüge winken, werden viele ihre Ansprüche auch weiterhin nicht wahrnehmen. Dazu braucht es insbesondere Verlässlichkeit, also regelmäßige Anpassungen der Leistungen an die Lebenswirklichkeit. Selbst die Koalitionsfraktionen haben im Bildungsausschuss per Entschließungsantrag an das BMBF appelliert, Freibeträge und Bedarfssätze an die Preis- und Lohnentwicklung zu koppeln. Gemieden wird allerdings der Begriff „Automatismus“, um den auch die Ressortchefin einen Bogen macht. Das höre sich immer so schön an, sagte sie im April in einem Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Jan-Martin Wiarda, „hat aber auch den Nachteil, dass wir dann nicht mehr auf besondere Entwicklungen reagieren und auch mal mehr machen können, wenn es nötig ist“.
Mal mehr machen? In die 2000er-Jahre fallen bisher allein zwei Sechs-Jahres-Phasen, in denen die Fördersummen komplett eingefroren waren – von 2002 bis 2008 und zwischen 2010 und 2016. Auch sonst gab es nie „mal mehr“ als das Bitternötigste, sondern in schlechter Regelmäßigkeit viel zu wenig. Immerhin soll die nächste Reform schon in Arbeit sein. Sie wolle weitere grundlegende Veränderungen „in einem zweiten Schritt“ noch innerhalb der laufenden Legislaturperiode anpacken, hatte Stark-Watzinger im Frühjahr verkündet. Dazu gehöre auch, das BAföG elternunabhängiger zu machen, indem die von der Ampelkoalition in Aussicht gestellte „Kindergrundsicherung direkt an die Studierenden“ ausbezahlt werde.
Und dann sprach die Ministerin noch von einem „regelmäßigen Prozess“, einem „sinnvollen Rhythmus“ und davon, dass künftig nicht mehr „nach Kassenlage“ entschieden werde. Was das bedeutet, muss die Zukunft zeigen angesichts ihrer taufrischen Reform, die wie üblich „nach Kassenlage“ gestrickt und schon am Tag ihres Beschlusses hoffnungslos überholt ist. Treffend hat das Werk die GEW betitelt: Reförmchen.
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