Horst D. Deckert

Eine Woche Krieg oder: Von Kindern, die in Brunnen fallen (I)

(Foto:Schneidereit/privat)

Zwei Jahre Corona erweisen sich retrospektiv als Lehrstück, Feuertaufe und Intelligenztest. Der Befund, bisher nicht der omnipräsenten medialen Verführung, bestehend aus wahnhaften Falschmeldungen, abstrusen Theorien, Horrorszenarien, vagen Vermutungen und plumpen Lügen anheim gefallen zu sein, geht als kleines Zwischendiplom in die Wertung des laufenden Examina-Marathons ein. Mithin waren genau diejenigen gut beraten, die sich den gesunden Menschenverstand, analytisches Denken und vor allem eine lebensnotwendige Distanz zu diesem grotesken Veitstanz erhielten. Der pandemische Spuk ist zwar noch nicht vorbei – wurde aber vor sieben Tagen urplötzlich und ungeahnt durch ein weit realeres und bedrohlicheres Szenario vom Sockel gestoßen. Knallharte Realität setzt sich gerade durch. Plötzlich ist Krieg – und Krieg erdet. Das klingt zynisch, ich weiß.

Schlagartig scheint der Corona-Gaul totgeritten. Der aktuelle Krieg bietet den, angesichts der nun auch in den Mainstreammedien immer weniger zaghaft kommunizierten, offenkundig gefälschten Zahlen, getürkten Statistiken, erlogenen Horror-Szenarien, von kalter Angst heimgesuchten Polit-Drahtziehern eine ideale Fluchtgasse. Während man demnächst, so meine Prognose, Deutschlands pathologischen Oberpaniker Lauterbach bauernopfernd als Corona-Alleinverantwortlichen medial kreuzigen, vierteilen oder teeren und federn wird, bleibt eine zukünftige Anklage und Verurteilung der tausenden für die Corona-Lügenverbrechen Verantwortlichen vermutlich ein frommer Wunschtraum. Einzig das Zwangsimpfungsgesetz wird bis Mitte März noch schnell im medialen Abseits durchgepeitscht, das lässt man sich nicht nehmen. Rettender, ablenkender und sowieso zeitlich perfekter hätte jedenfalls für diese Menschenrechtsverletzer, die uns alle mit ihren Repressalien geknechtet und uns Freiheit und Grundrechte entzogen haben, dieser Krieg nicht eintreten können. Welch bitter-ironische Koinzidenz. Innerlich höre ich gerade hysterisches Gelächter und knallende Champagnerkorken aus Berlin.

Seit vergangenen Donnerstag, jener neuen Geschichtsbuch-Marke also, hört meine mentale, innerliche Alarmklingel jedenfalls nicht mehr auf zu läuten. Konzentration, zwischen-den-Zeilen-Lesen und innere Distanz sind gefragt, um Fakten von Fake, Beweise von Beschiss und Wahrheit von Wahn zu trennen. Ich bin gegenwärtig, schon aufgrund der unsäglichen Berichterstattung, nicht in der Lage, zur Kriegsthematik eine radikale Position zu entwickeln oder gar eine Front zu eröffnen. Dies gebe ich gleich zu Beginn kund – und erspare damit dem wie auch immer getriggerten und echauffierten Leser die nachfolgende Lektüre. Die Radikalen dürfen also ab hier, mangels Futter, nonchalant wegklicken.

Professionell erzeugte Übelkeit

Das Problem ist: Nicht einmal die Wahrheit klingt heute mehr ehrlich. Genauer als je zuvor bei einem solch hochkomplexen Thema warte ich seit Tagen ab, beobachte, höre zu, sauge Informationen auf, relativiere. Zusätzlich werfe ich meine eigenen, mageren Erfahrungen zum Thema Russland, in Form einer Kindheit im kommunistischen, deutschen Osten, mehr als einem halben Dutzend Moskau-Aufenthalten in den Achtziger- und Neunzigerjahren, sowie rezenten, intensiven Gesprächen mit einem guten Freund mit mehr als zwanzig Jahren Russland-Expertise mit in die Waagschale. Was sich daraus ergibt, will ich im Folgenden versuchen, zu skizzieren.

Man hört und liest ja gerade die verrücktesten Dinge. Russland will umgehend die freien Medien, explizit Facebook, im eigenen Land teilweise einschränken, um “Falschinformationen” zu verhindern (ok, derlei Maßnahmen sind uns kritischen Facebook-Schreibern in deutschen, “demokratischen” Gefilden nur allzu vertraut); die komplette Abschaltung der Plattform ist wohl nur noch eine Frage von Tagen. Telegram wird sicher schon in Kürze das gleiche Schicksal ereilen. Apropos soziale Medien: Jemand schrieb treffend, dass Donald Trump wahrscheinlich noch heute auf Twitter wäre, hätte er nur die Ukraine überfallen. Klingt irgendwie schlüssig – denn Wladimir Putin besitzt schließlich weiterhin seinen Twitter-Account – mit stolzen 1,2 Millionen Followern.

Wie ist er denn, der Stand? Da, wie inzwischen eigentlich jedes Kind weiß, das erste Opfer des Krieges stets die Wahrheit ist, läuft erwartungsgemäß die Propagandamaschine auf beiden Seiten der Frontlinie auf Hochtouren. Nach Angaben der Ukrainer hat die russische Armee bereits mehrere Tausend Tote zu beklagen, während das russische Kriegsministerium noch bis vorgestern behauptete, es sei kein einziger Soldat gefallen. In den deutschen Öffentlich-Rechtlichen laufen derweil 4 und 7 Jahre alte, völlig artfremde Videos und Bilder von zerbombten, brennenden und zerstören Häusern, welche rotzfrech als “aktuelle” Kriegsdokumente präsentiert werden – was dann auch kleinlaut eingestanden werden muss. Die nackte Wahrheit ist nicht furchtbar genug – da muss schon aufgepeppt und nachempört werden. Es ist zum Brechen.

Zerebrales Potpourri

Wem die professionell erzeugte Übelkeit noch nicht reicht, der kann sein allgemeines Unwohlsein noch potenzieren, indem er sich dieser Tage in die Untiefen der Social Media begibt. Wenn man dachte, die Mega-Trigger Migrations-Chaos, Klima-Religion und zuletzt Corona-Kult (als DER Spaltpilz schlechthin) seien, was die altbekannte “divide et impera”-Taktik angeht, nicht mehr zu toppen, hat sich mächtig geschnitten. Nicht nur, dass sich überraschend viele der zertifizierten Facebook-Virologen quasi über Nacht zu Ukraine-Experten umgeschult haben. Es wird nun auch (liegt es an Pulverdampf und Krieg?) verbal noch weit schärfer geschossen als je zuvor. Das zerebrale Potpourri ist verblüffend: Von Bibelzitaten der Gläubigen, die wie eh und je betend auf Hilfe von “oben” warten (als ob “Götter” je Kriege verhindert hätten) bis hin zu den ganz Rauhbeinigen, die Russland umgehend mit Atomraketen “einebnen” wollen, liest man alles. Die “Entfreundungs”-Infektion ist allerdings der Gipfel – und weit virulenter als Corona. Kleine Auswahl gefällig? Hier etwas Dum-Dum-Munition für Dummies:

  • “Ist noch jemand in meiner Liste, der den russischen Angriff rechtfertigt?”
  • “Ich habe das noch nie getan, weder bei Migrationsthematik, noch bei Klima oder Corona, aber jetzt ist es soweit: Ich bitte höflich all jene, die Putins Angriffskrieg gutheißen, sich aus meiner Freundesliste zu entfernen!”
  • “Alle Putinversteher können hier verschwinden!”
  • “Wer nicht begreift, daß Putin nur einen Befreiungsschlag führt, möge sich aus meiner Freundesliste verabschieden!”
  • “Alle NATO-Trolle mögen von meiner Freundesliste verschwinden!”
  • “Wer die Faschisten in der Ukraine unterstützt und nicht erkennt, daß Putin der Befreier ist, darf hier gern verschwinden!”

Auf den Fan-Kommentar „Die fantastische Ansammlung von geistig vollkommen derangierten Putin-Arschkriechern ist überall” schreibt gar ein landesweit bekannter Rechtsanwalt auf seiner Facebook-Seite (der sich ansonsten vehement und erfolgreich gegen Sperrungen und Löschwahn auf den Sozialen Plattformen einsetzt und bisher eigentlich durch überdurchschnittliche Eloquenz sowie Intelligenz auffiel) dies: „Weil sie aus den Trollfabriken los gehetzt werden wie die Orks”.

Ändere Dein Profilbild! Zeige Flagge für die Ukraine! Sammelt Unterschriften! Liked Anti-Putin-Seiten! Stellt die Heizung aus! Gemeinsam gegen russisches Gas! Frieren gegen Putin!

Wow – so viel Haltung, so viel Mut allerorten – und so viele Helden!

Nun ist sie also nun doch gekommen, die offenbar ultimative, finale Spaltung, die sich niemand, der Corona miterlebt und -kommentiert hat, sich je derart potenziert hätte ausmalen können.

Fanpost für die falschen Vorbildautoren

Welches unfaßbares Bashing seit einer Woche unseren besten Autoren, explizit hier in den alternativen Medien von Teilen ihrer “aufgeklärten” Fangemeinde entgegenschlägt, macht schlichtweg sprach- und fassungslos. Jene Leser, die über Jahre tausende ihrer exzellenten Artikel inbrünstig lasen, teilten und verbreiteten und die Verfasser bis in den Heldenstatus erhöhten, schreiben nun Sätze wie “Ich habe den entsorgt!”, “Der wurde von mir dauerhaft entfernt!”; “Der hat Follower gesammelt, um jetzt seinen Putinhass zu verbreiten!”; “Der Reitschuster ist auch ein falscher Fuffziger!”; “Mit Geld wird jeder zum Wendehals”; “Hab gestern Reitschuster und Tichy deabonniert”; “Matissek hab ich heute auch entsorgt – das war jetzt überfällig”; “Hab Tichy und Reitschuster geblockt, denen hat man ins Gehirn gesch…”.

Ich hätte noch ein Dutzend dieser Blüten auf Lager, aber ich erspare es dem Leser. Verbal- und Geistesentgleisungen von angeblich wachen, aufgeklärten, toleranten Zeitgenossen – und viele davon in meiner Freundesliste. Absolut schockierend, unsagbar traurig, maximal lehrreich.

Muss ich wirklich kurz erinnern? Boris Reitschuster blickt auf eine 20-jährige Russland-Erfahrung zurück, war davon allein 16 Jahre lang Leiter der Moskauer „Focus”-Zentrale, wo er wegen seiner investigativen Arbeit, auch über Russlands Putin-Regime, Morddrohungen erhielt. Als Autor zweier viel beachteter Bücher über den russischen Präsidenten gilt er im In- und Ausland als eine der fundiertesten Instanzen in Sachen Putin. Wenn ich mich also über Russland informieren möchte, höre ich beispielsweise einem Herrn Reitschuster allein schon deshalb weitaus genauer zu, als irgend einem neu aufgeploppten Facebook-Russlandexperten mit dem Smiley-umsäumten Fünfzeiler über dem markigen Putin-Zitat.

Mit dem Ukraine-Konflikt spaltet sich nicht nur die Opposition sondern die gesamte Gesellschaft also nun ein weiteres Mal – und die Regisseure der New World Order sitzen live als Zuschauer im Designersessel, futtern Popcorn zum Champagner und klatschen sich auf die Schenkel vor Lachen, während hier, in diesem infantilen, globalen Sandkasten, inzwischen auch noch die letzten vermeintlich Vernünftigen komplett den Verstand verlieren. Welch eine triste Freak-Show…

Während sich auf Social Media immerhin nur entfreundet wird, sprengt da draußen derweil die Haltungsrealität jegliche Fantasie (oder sollte ich Schreckensvisionen sagen?). Hierzu auch ein paar Beispiele gefällig?

Die gute, alte Hexenjagd

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter hat am Dienstag allen Ernstes den russischen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker, Valery Gergiev, wegen des „barbarischen Akts des russischen Machthabers Putin” entlassen. Laut den Worten Reiters hätte sich der Dirigent “eindeutig gegen den russischen Angriffskrieg positionieren müssen”. Auch die Star-Sopranistin Anna Netrebko verlor nun (man vermag es tatsächlich nicht zu glauben) bei der Bayerischen Staatsoper ihren Vertrag “wegen fehlender ausreichender Distanzierung zum Putin-Krieg”. Auch Musik ist offenbar Politik – okay, das war mir nicht klar.

Das International Olympische Komitee (IOC) will nun russische und weißrussische Sportler (bei „Bild“ heißen sie seit Montag übrigens nur noch abfällig “Russen-Sportler”) ausschließen. Ein politisch korrektes Wirtshaus in Deutschland will Menschen mit russischem Pass stante pede Zutritt und Bewirtung verwehren, andere ziehen bereits nach. Ein unglaublich mutiger Kieler Edeka-Markt verbietet Herrn Putin ab sofort den Einkauf in seiner Lebensmittelfiliale. Ein Berliner Taxifahrer wirft russische Fahrgäste aus seinem Auto. Ein Bäckerladen (neudeutsch “Back-Shop”) tauft seine “Russische Zupfschnitte” per schwülstig-gratismutigem Rundschreiben in eine korrekte “Zupfschnitte” um. Ein tapferer Gastronom schreibt auf Facebook, gesäumt von einem Dutzend Ukraine-Fähnchen: “Wir müssen in ganz Europa sofort ein Einreiseverbot für russische Staatsbürger verhängen und bestehende Visa stornieren. In den Restaurants und im Hotel Schlegel Gastronomie werden keine russischen Touristen mehr aufgenommen.” Darunter 53 Likes. Keine Dislikes.

Mit anderen Worten: Russe sein ist heute das neue “Ungeimpft”. Ja, wir sind gut im “Zeichen setzen”. Diese mit Abstand heldenhafteste Tugend unserer Zeit gilt bei uns offenbar einhellig als die todbringendste Allzweckwaffe gegen jegliches Böse.

Russe sein ist das neue Ungeimpft

Stellt Bahlsen nun die Produktion von Russischbrot-Keksen ein? Kippen wir ab morgen russischen Wodka und Kaviar in die Gullies, so wie die Amerikaner mit französischem Wein verfuhren, nach der Kampfbeteiligungsabsage Frankreichs während des Golfkrieges? Werden jetzt “Kalinka” und “Katjuscha” aus den Liederbüchern und Borschtsch nebst Pelmini aus den Kochbüchern getilgt? Werden nun Tolstois, Dostojewskis, Tschechows und Puschkins Werke öffentlich verbrannt? Erhalten der Donkosaken-Chor und „Pussy Riot” nun Einreiseverbot bei uns? Werden kommende Woche endlich die russischen Kosmonauten per Bodenanweisungsbefehl aus der ISS-Luftschleuse ins Weltall-Vakuum geschubst, weil sie sich nicht in einer ihrer wenigen Arbeitspausen gegenüber ihren amerikanischen und europäischen Astronautenkollegen klar gegen Putins Krieg positioniert haben? Auf der seriösen Astronomie-Info-Seite von “Sterne und Weltraum” lese ich gerade allen Ernstes: “Rein technisch könnte es möglich sein, den westlichen Teil der ISS abzukoppeln. Es wäre aber weder einfach noch gefahrlos. Auch würde es nicht reichen, bloß ein paar Bolzen zu lösen, um sich in der internationalen Raumfahrt wirklich zu trennen.” Ich kann, als leidenschaftlicher Raumfahrt-Begeisterter, schlichtweg nicht fassen, was ich da lese – oder ich will es nicht wahr haben. Bitte sagt mir, dass ich nur träume.

Der Medienkrieg läuft, wie erwartet, mittlerweile auf Hochtouren. Gefühls- und Haltungsjournalismus haben die Lufthoheit über das Ukraine-Problem noch weit vor den russischen Flugzeugen übernommen. Selensky ist der Held, Putin der Teufel. Selbst der senile Biden macht plötzlich wieder eine gute Figur. Wie schnell Vergessen und Verdrängung einsetzt, erleben wir gerade als ultimatives Lehrstück.

Ich merke, wie ich Distanz suche zu den Putin-Verharmlosern, die in allem Bösen auf dieser Welt immer nur Amerika sehen – und letztlich doch nur auf die andere Seite der Propaganda-Fratze hereinfallen, wie ihre vermeintlichen Antagonisten.

Distanz suche ich allerdings auch zu den lautstark trompetenden, gratismutigen Opfern der Staatspropaganda, jenem Herdenvolk, das sich bereitwillig vor den Karren unserer opportunistischen, wendehälsigen, rückgratlosen Politiker und Führer spannen lässt, während es deren vorgefertigte Fließband-Parolen blökt, deren gefälschten Bildern und Berichten glaubt und in den bequemen Mantel der korrekten Haltung schlüpft, den ihm die bezahlte Medienindustrie mit ihrem ebenso gefälschten Lächeln hinhält. Ich suche Distanz zur Lüge, wo immer es nur geht. Denn zu spärlich sind wahre Informationen. Viel zu groß daher ist mein Misstrauen.

Ein wenig Horizonterweiterung

Einem General a.D. der Bundeswehr hätte ich womöglich vor 20 Jahren aus irgend einer persönlichen Abneigung heraus keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Heute ertappe ich mich, wie ich auch hier genauer hinhöre:

“In Putins Ukraine-Ansprache war das erste Mal die Rede davon, daß Präsident Putin der Ukraine das Souveränitätsrecht abspricht. Er sagt also, sie haben im Grunde kein Lebensrecht. Das wäre so, als würden sie einem Nachbarn die Menschenrechte absprechen. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann spricht Präsident Putin von Entnazifizierung und Entwaffnung. Er will also Tabula rasa machen. (…) Präsident Putin strengt doch sehr die Geschichte an, in dem er sagt, er muß jetzt einmarschieren. Üblicherweise sagt man, ich muß einmarschieren, weil ich angegriffen wurde. Aber er hat die Frechheit zu sagen, er müsse einmarschieren, um einen ‘Genozid’ zu vermeiden. Als würden dort pausenlos irgendwelche russischen Bürger umgebracht werden, wie damals in der Nazizeit. Er greift zu diesem Vokabular, um die Nationalisten hinter sich zu bringen. Also zu einer Fake-Story. Damit ist er nach unserer Redensart ein Kriegsverbrecher.” Soweit der General a.D. Hans-Lothar Domröse in einem aktuellen Interview.

Wenn Wladimir Putin also behauptet, die Ukraine von heute sei eine Erfindung der Bolschewiken und Lenins und gehöre selbstverständlich seit jeher zu Russland (viele seiner hiesigen Freunde finden diese Aussage völlig in Ordnung), dann hieße dies im gleichen Duktus, zu Deutschland gehören – in den Grenzen von 1400 – Holland, Brabant, Burgund, Provence, Toskana, Mailand, Mähren, Luxemburg und Pommern! Oder gleich zurück ins Jahr 962, zur Kaiserkrönung des Deutschen Otto I. – und auf ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation, was ganz Südfrankreich und weite Teile Italiens einschließt.

Wie aberwitzig ein derartiger Geschichtsrevisionismus anmutet, muss an dieser Stelle (hoffentlich) nicht erörtert werden. Unbestritten dagegen ist: Wenn man sich verargumentierend nur weit genug retrograd in der Historie bewegt, lässt sich letztendlich jegliche politische Handlung der Gegenwart und Zukunft punktgenau legitimieren.

Kulissen, Helden und Pannen

Heute ist es die Ukraine; aber wie steht’s in Zukunft mit dem Baltikum? Gerade die Letten, Esten und Litauer beschäftigt diese Frage – die für sie eher eine dringende Sorge ist – verständlicherweise momentan sehr. Es sind schließlich ehemalige Sowjetrepubliken und gehören damit, nach Putins Verständnis, ebenfalls zum Zarenreich/Sowjetunion. Wie die „Kronen-Zeitung” berichtet, droht Russland inzwischen sogar bereits Finnland bei NATO-Annäherung mit “schwerwiegenden militärischen und politischen Auswirkungen”. Dies erklärte das russische Außenministerium bereits am vergangenen Freitag. Wenn Finnland angesichts derlei unverhohlener Drohungen nun tatsächlich und erstrecht über eine NATO-Mitgliedschaft nachdenkt, dann ist dies, meiner Ansicht nach, durchaus nachvollziehbar. Fakt ist: Was territorial und strategisch dem Westen nützt, kann für Russland nur von Nachteil sein – so verhält es sich allerdings auch umgekehrt. Leider ein argumentatives Patt.

Es ist ein Medienkrieg, wie gesagt. Ich vertraue unserer Berichterstattung, wie bereits angemerkt, nicht die Bohne. Doch machen wir uns nichts vor: Explizit russische Kommunikation besteht seit jeher aus Verleugnung, Wahrheitsverdrehung, Geheimhaltung, plumper Lüge und gnadenloser Fälschung. Gewiss: Kein politisches System ist frei davon. Russland (aka: die ehemalige Sowjetunion) hat diese Unsitte jedoch bis zur traurigen Perfektion getrieben. Im Osten sozialisiert und, wie schon gesagt, mit dieser Propaganda aufgewachsen, weiß ich ein ganzes Stück weit, wovon ich hier rede. Der landläufig bekannte Begriff der “Potemkin’schen Dörfer”, also der Vorspiegelung falscher Tatsachen, Installation von Attrappen und Kulissen sowie das Vortäuschen von vermeintlichen Erfolgen mittels verschleiernder Terminologie und grotesker Verdrehung von Begriffen und Fakten, entspringt nicht von ungefähr russischem Wesen und Historie.

Dass der Westen hier “qualitativ” ordentlich aufholt, zeigt sich allerdings in seiner verzerrenden Ukraine-Präsentation. Dass der Putsch in der Ukraine einschließlich des Maidan-Chaos in 2014 maßgeblich von den USA finanziert wurde – geschenkt. Dass lupenreine Nazis als “Asow-Brigaden” in militärischen, ukrainischen Verbänden eingebunden sind, die nicht einmal einen Hehl aus ihrer kruden Weltanschauung machen – egal. Dass auch in der “friedlichen” Ukraine Kriegsverbrecher, Mörder, mafiöse Oligarchen zu Ämtern und Ehren gelangen – reden wir lieber nicht drüber. Dass Behörden, Beamte, ja die gesamte ukrainische Justiz seit Jahren im Sumpf der Korruption versinken – wen kümmert’s.

Gestählter Whataboutism

Wer diese pikanten Details nicht wahrhaben will, verschließt leider genauso die Augen vor der Realität wie die vielen Putin-Verharmloser, die mit gestähltem Whataboutism stets das gewohnte Dauermantra zücken: “Die USA sind da aber nicht einen Deut besser. Auch die versuchen nur, ihren Arsch zu retten!” Nein, sind sie nicht. Ja, versuchen sie. Das weiß ich auch. Aber darum geht’s gerade nicht.

In einem exakt ein Jahr alten Artikel der „Süddeutschen Zeitung” vom 25. Februar 2021 findet sich übrigens ein erhellender Text mit dem Titel: “Korrupt wie eh und je” zur Person Wolodymyr Selenskij, dem heutigen, gefeierten Sympathieträger und Helden der Ukraine. Darin heißt es: “Selenskij führt das postsowjetische Herrschaftssystem fort und akzeptiert Korruption und Rechtlosigkeit im Austausch dafür, dass er und sein Apparat weitgehend die Kontrolle behalten. (…) Jetzt will sich der Präsident auch das halbwegs unabhängige Anti-Korruptions-Büro Nabu unterstellen, weil es zu Recht gegen mehrere Mitarbeiter Selenskijs ermittelt. Würden in der Ukraine nicht Milliarden geklaut, bräuchte das Land keine Kreditmilliarden aus dem Westen.

Mensch, das ist doch schon ein Jahr her. Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Hier steht er, der Erlöser Selenskij – der ruhmreiche Gegner von Kriegsverbrecher Putin! Wisst ihr, was all das ist? Freundlich gesagt: Infofutter für Teletubbies – und es beleidigt den Verstand jedes einigermaßen intelligenten Menschen. Sorry – aber bitte verarscht uns nicht!

Putin hat sich verzockt – und der Westen setzt auf Regime-Change

Was dagegen vermutlich stimmt: Putin hat sich mit seinen anachronistischen Zarenreich-Attitüden verzockt – oder ist in die Falle getappt, je nachdem, wie man das sieht. Der Westen nutzt das – und forciert nun mit aller Vehemenz und Intensität einen Regime-Change. Dieser Krieg, mit dem sich das größte Land der Erde irreversibel vom gesamten Rest der Welt isoliert hat, könnte diesmal womöglich tatsächlich das Ende der russischen Föderation bedeuten. Putins Animositäten hinsichtlich der westlichen Sphäre waren und sind, aus seiner Sicht, gewiss nachvollziehbar. Eine Rechtfertigung für den Einmarsch in die Ukraine, bei dem er nur verlieren kann, sind sie deshalb noch lange nicht. Geschehen ist es trotzdem.

Ich weiß nicht, ob ich die Lage hier zu pessimistisch sehe, aber womöglich sollte unser aller Sorge darin bestehen, dass ein in die Enge getriebener Herrscher und Despot, sich seines eigenen finalen und unabwendbaren Untergangs gewahr, bald schon irrationale und für die gesamte Welt verheerende Entscheidungen trifft. Er wäre nicht der erste Machthaber, der, im freien Fall befindlich, alles um sich herum ins Chaos reißt. Ich hoffe inständig, ich liege mit meinen Ängsten falsch.

Am Rande: Den Putin-Verteidigern möchte ich an dieser Stelle eine nicht allzu kleine Bombe ans Herz legen. Hierbei handelt es sich um einen vom russischen Propagandaministerium vorgefertigten Text, der durch eine Panne bei einem russischen Staatsmedium kurzzeitig verfrüht ins Netz gelangte. Hierin wird in unverhüllt propagandistischen Tönen ein Sieg Russlands über die Ukraine proklamiert. Er gibt zudem einen umfassenden Einblick in die ideologischen Motive des Kremls. Es hat nicht den Anschein, dass es sich hierbei um westliche Kriegspropaganda handelt – denn über den Internetdienst “Wayback Machine” ist der Artikel noch abrufbar (siehe hier).

 

Teil II dieses Artikels folgt morgen.


Auf Ansage schreiben unterschiedliche Autoren mit ganz unterschiedlichen Meinungen zum Russland-Ukraine-Konflikt. Die Ansichten des jeweiligen Verfassers geben daher nur dessen persönliche Meinung wieder, nicht die der Redaktion.

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