
Und zwar haben all diese Forderungen nicht etwa aus der kruden Sicht von Querdenkern, Verharmlosern oder covidiotischen Spinnern zu erfolgen. Sondern – und das ist das Entscheidende – der ureigenen Logik, den expliziten Zusagen und strategischen Maßnahmenbegründungen der deutschen Corona-Politik selbst wegen, die genau für den jetzt bereits eingetretenen Fall all dies versprochen haben. Deren letzter Strohhalm war seit sechs Wochen, in denen unsere europäischen Nachbarn (vor allem die nördlich Deutschlands gelegenen) nach und nach zur Normalität zurückkehrten und ihre „Freedom Days“ feierten, der vorwurfsvolle Verweis auf den angeblichen Rückstand Deutschlands bei der Impfkampagne dar.
Die „Ziellinie“ ist längst überschritten
Tenor: Weil in Dänemark nicht 60 oder 65, sondern 80 oder 85 Prozent geimpft seien, könne man dort guten Gewissens alles freigeben. Ergo müsse Deutschland, solange derartige Quoten nicht erreicht seien, weiter mit Freiheitsbeschränkungen leben, und vor allem natürlich die angeblichen Schuldigen an den zu geringen Zahlen, die unsolidarischen „Impfgegner“, noch stärker diskriminieren. Viele die so argumentierten, glaubten wohl fest daran, dass sie damit noch auf ewig ihr Corona-Regime legitimieren können und ihr liebgewonnener Notstand ewig währt – weil die Impf-Renitenten niemals geschlossen ins Licht übertreten oder „ein Einsehen“ haben würden, um die angebliche „Ziellinie“ zu erreichen.
Nun aber scheint diese Ziellinie mit einem Mal übersprungen (und erstrecht die immer wieder beschworene, obwohl nicht erreichbare „Herdenimmunität“). Aber nicht etwa, weil so viele Ungeimpfte plötzlich Lust auf Bratwurst bekamen oder sich durch erpresserischen Ausschluss beim Kneipen-, Kino- oder Stadionbesuch bekehren ließen. Sondern weil das RKI erneut mit offenbar grundfalschen, unseriösen Zahlen hantiert hat. Es ist dieses Jahr schon der zweite Riesenskandal, bei dem massive Freiheitsbeschränkungen auf Grundlage einer absurden Fake-Dasenbasis getroffen wurden; die erste war die erstunkene und erlogene angebliche Überlastungssituationen der Intensivstationen im Frühjahr. Freilich folgten aus dem damaligen Desaster weder Konsequenzen noch wurden Lehren gezogen; im Gegenteil: Die deutsche Coronapolitik – der gerade erst der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier bescheinigte, irrational, kopflos und in Teilen rechtswidrig gewesen zu sein – setzte sich fort – und mündete inzwischen nahtlos in eine Impf-Apartheid, die für die Gesellschaft destruktivere Auswirkungen haben wird als jeder Lockdown.
Mit dem jüngsten Eingeständnis jedenfalls, dass dem RKI nicht weiter zu trauen ist als sich einhändig ein Klavier werfen lässt, existiert nun keinerlei moralische Rechtfertigung und schon gar keine Rechtsgrundlage mehr, die epidemische Lage und alle auf ihrer pseudrechtstaatlichen Grundlage erlassenen Gesetze und Verordnungen auch nur einen Tag länger aufrechtzuerhalten. Tut es die Bundesregierung dennoch, so muss man hier, mit einiger Berechtigung, von vorsätzlich kriminellem Handeln reden. Dies ergibt sich – nochmals – zwingend aus der eigenen Logik und Argumentation der Politik selbst. Auch Funktionäre des öffentlichen Gesundheitswesen sehen dies so: Gerald Gaß etwa, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, gibt in der „Welt“ zu bedenken, dass erstens die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich impfen zu lassen, „höher als gedacht“ ist.
Untergrabung des Restvertrauens in politische Entscheidungen
Und zweitens seien die vom RKI und den Gesundheitsämtern definierten Meldeverfahren so unzureichend, dass sie einer Pandemie dieses geringfügigen Ausmaßes „unangemessen“ seien. Gass wörtlich: „Auf Grundlage offenbar falscher und unzureichender Daten werden für Millionen Menschen gravierende Entscheidungen getroffen und Grundrechte eingeschränkt.“ Wenn Wochen später festgestellt werden müsse, dass die Datengrundlage falsch war, „untergräbt dies massiv das Vertrauen in die Entscheidungen„. Er erwarte deshalb vom RKI, „umgehend Klarheit zu schaffen“ und „Daten offen zu kommunizieren“ – denn die Impfquote sei die wesentliche Grundlage für die Entscheidungen im Herbst und Winter.
Und auch Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der noch vor drei Wochen angefeindet wurde für seinen Ruf nach einem „Freedom Day“ Ende Oktober (und sogar noch unter Annahme der bisherigen, viel zu gering angesetzten Impfquote), wiederholte laut „dts“ angesichts der tatsächlichen Impfquote von rund 80 Prozent vollständig geimpfter Erwachsener plus der mehreren Millionen Deutsche zählenden Gruppe der Genesenen seine Forderung nach einem „konkreten politischen Fahrplan, wann mit dem Ende aller Beschränkungen zu rechnen ist„. Die Ungeduld wächst also auch hier massiv.
Und so muss nun auch Jens Spahn kleinlaut zugeben, dass die Impfkampagne „erfolgreicher als bisher gedacht“ war. Doch statt augenblicklich die richtigen Schlüsse zu ziehen, verscherbelt er sich sogleich ins Vage: Diese Erkenntnis „gibt uns zusätzliche Sicherheit für Herbst und Winter. Wir wollen nun mit Umsicht und Vorsicht Schritt für Schritt zurück in Freiheit und Normalität.“ Irrtum: Nicht nochmals „mit Umsicht und Vorsicht“, sondern SOFORT. „Umsicht und Vorsicht“ fallen unter Eigenverantwortung und Selbstbestimmung – und die sind Sache mündiger Bürger, keiner gesundheitspolitischer Zuchthauswärter oder paternalistischer Vormundschaftspolitiker.