Horst D. Deckert

Epochalkatastrophe Afghanistan: Sechs Lehren aus einer Niederlage, die vermutlich nicht gezogen werden

Die Truppen sind endlich raus aus Afghanistan, dem ewigen Friedhof der Großmächte. Die Taliban verloren keine Sekunde und machten sich zügig auf zur Eroberung des Landes, ganz so, als hätte es die zwei Jahrzehnte dauernde Präsenz der NATO dort nicht gegeben. Mehr noch, der Abzug lief in einer Weise amateurhaft ab, dass man die verantwortlichen Kommandeure und Politiker strafrechtlich dafür belangen sollte. Nicht zuletzt zeigt sich die momentane Entwicklung, wie das Herauszögern des Abzugs ganz offensichtlich aus fadenscheinigen Gründen geschah. Doch darum kümmert sich niemand mehr. Die Politik ist heilfroh über das Ende des chronischen Problems und die Medien sind schon lange weitergezogen. Daher ist es wichtig, sich anzusehen, was genau alles falsch gemacht wurde. Es war einiges.

1) Das Brechen des demografischen Rückgrats

Erster und wichtigster Fehler in Afghanistan war das Missachten der Bedeutung der Demografie. Denn gibt es in einer Gesellschaft zu viele Söhne, dann sind zu viele von ihnen entbehrlich. Dies gilt nicht nur für heutige Krisenregionen wie Afghanistan, Gaza oder Somalia, die allesamt islamisch geprägt sind, sondern muss als historische Konstante der menschlichen Existenz erachtet werden. So hieß es auch bei uns früher: „Der erste Sohn bekommt den Hof, den zweiten bekommt die Kirche und den dritten bekommt der Krieg.“ Genau so läuft es auch in Afghanistan.

Im Jahr 2000 kam die durchschnittliche Afghanin auf imposante 7,48 Kinder. Dieser Wert fiel in der Folge zwar auf heute noch 4,47 Kinder pro Frau, jedoch ist auch das noch viel zu hoch, um sich befriedend auf die Gesellschaft auswirken zu können. Schon die UdSSR scheiterte an diesem Problem, nachdem die Entwicklungshilfe nach dem Zweiten Weltkrieg zuallererst auf die Kindersterblichkeit gerichtet wurde und dort große Erfolge erzielen konnte. Dies, ohne dabei zu beachten, dass diese (zu vielen) Kinder eine angemessene Betreuung benötigen und im Erwachsenenalter auch einen Beruf mit Perspektive.

Die NATO hätte sofort nach ihrer Ankunft in Afghanistan ein Programm umsetzen müssen, in dessen Rahmen die 2-Kind-Ehe gefördert wird. Andere Länder, darunter auch das islamische Bangladesch zeigen, dass solche Programme zuverlässig funktionieren. Den zuständigen Politfiguren ist dieser Weg auch durchaus bekannt, wie dieser Artikel unter Beweis stellt, in dem der seit 2013 amtierende Entwicklungshilfeminister Gerd Müller das Geburtenkontrollprogramm von Bangladesch lobt.

Warum er selbiges nicht auch in Afghanistan umsetzen ließ, oder warum die existierenden Programme so zahnlos blieben, falls es welche gibt, bleibt sein Geheimnis. Als Gedankenspiel wäre es mit dem Entwicklungshilfebudget für Afghanistan von 331,7 Millionen Euro möglich gewesen, jeder einzelnen der 6,8 Millionen Afghaninnen zwischen 15 und 34 Jahren für eine signifikante Reduktion der Kinderzahl eine Einmalprämie von 973,53 Euro auszuzahlen. Das wäre eine Summe, die in Afghanistan in etwa dem 20-fachen des durchschnittlichen Jahreseinkommens entspricht, hätte also ein erhebliches Argument dargestellt. Es ist bezeichnend, dass keines der an der Besatzung beteiligten Länder auch nur den Hauch eines Anscheins an den Tag legte, um dem demografischen Problem systematisch zu entgegenzuwirken.

2) Den Islam als Hebel verwenden

Zweites Großproblem für die fortgesetzte Misere in Afghanistan ist der Islam. In Abwesenheit einer zuverlässigen staatlichen Struktur wäre der Aufbau guter Beziehungen zu den Imamen des Landes zwingend gewesen. Sie wissen um die Menschen und ihre Sorgen, sie sind im ganzen Land vernetzt und genießen aufgrund ihres Status Zugang zu den Menschen und Fraktionen, wie sonst vermutlich niemand in dem Land.

Manche würden eventuell einwenden, dass mein obiger Vorschlag der Geburtenkontrolle seitens der Imame aus religiösen Gründen mit Widerstand begegnet worden wäre. Dem ist nicht so. Der Islam in all seinen Varianten ist beim Thema der Verhütung erheblich flexibler als das Christentum, was sich an den nur leicht geringeren Verhütungsraten gegenüber westlichen Ländern zeigt.

Die Imame des Landes hätten bei der Geburtenkontrolle genauso eine relevante Rolle spielen können, wie auch bei der Bildung oder dem ebenfalls erheblichen Problem der Verwandtenehen. Deren Kinder leiden weitaus öfters an geistigen oder körperlichen Krankheiten und sind eine permanente Belastung für jede Gesellschaft. Befindet sich diese Gesellschaft in einem Zustand wie die afghanische, dann können Verwandtenehen zum entscheidenden Verhängnis werden. Selbst für ein reiches Land wie Saudi Arabien ist das ein so großes Problem, weshalb die Regierung jungen Paaren kostenlose Gentests anbietet, mit denen sich feststellen lässt, ob genetische Probleme beim Nachwuchs zu erwarten sind. Ebenso sind die Beziehungen insbesondere der USA und Saudi Arabien eng genug, dass die dortige Regierung sicherlich derartiges Programm für Afghanistan finanziert hätte.

Allgemein wäre es herzlich einfach gewesen, die Imame des Landes für sich zu gewinnen und sie zu einem entscheidenden Faktor für den Sieg zu machen. Das Pochen auf eine starke theologische Einflussname (relativ betrachtet) zivilisierterer islamischer Autoritäten etwa aus Ägypten oder der Türkei anstelle von pakistanischen Hinterhofmoschee wäre zwingend gewesen. Beide Länder pflegen enge Beziehungen zur NATO und hätten mit Sicherheit eingespannt werden können, um eine junge Generation Imame in einer Weise auszubilden, die sie nicht anfällig für den gewalttätigen Dschihad werden lässt. Ebenso existiert eine massive wirtschaftliche und militärische Hebelwirkung gegenüber Pakistan, die mit Sicherheit ausreichend gewesen wäre, deren radikale Prediger von Afghanistan fernzuhalten.

Alles in allem hätte eine ausreichende Beziehungspflege zu den Imamen des Landes vermutlich weniger gekostet, als auch nur ein Luftangriff auf eine Talibanstellung. Das Versagen in dieser Hinsicht zeugt von einer kaum glaubwürdigen Unkenntnis in Anbetracht der jahrelangen Erfahrungen mit zahlreichen arabischen Ölstaaten, wie auch im Verlauf der Besatzung und lange davor in Afghanistan selbst.

3) Die Ethnisierung der Regionen

Afghanistan ist ähnlich wie Äthiopien oder Jugoslawien ein Vielvölkerstaat und damit ein dauerhaftes Problem für sich selbst. In guten Zeiten mag die Volkszugehörigkeit keine Rolle spielen und sogar „bereichernd“ wirken. In der Krise dagegen wird es umso leichter, die verschiedenen Fraktionen für den nächsten Bürgerkrieg aufzustellen. Es hätte von Beginn an zu den Zielen der NATO gehören müssen, eine langfristige stille Ethnisierung der Regionen zu fördern. Andernfalls ist eine Befriedung der Region unmöglich. Das stellt Jugoslawien eindrucksvoll unter Beweis.

Die meisten der Hauptethnien Afghanistans leben zwar heute schon größtenteils ethnisch durch die vielen Bergketten voneinander getrennt. Doch es gibt weiterhin zahlreiche Orte, die gemischt bewohnt werden, während in größeren Gebietseinheiten keine politische Stabilität erreicht werden kann, so lange es keine absolut dominante Ethnie gibt. Langfristige Stabilität tritt in einer Region immer erst dann ein, wenn die politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Interessennetzwerke in der Lage sind, ein marktbeherrschendes Monopol zu bilden.

Nach der Übernahme des Landes hätte daher systematisch damit begonnen werden müssen, für die einzelnen Ethnien starke Regionalhauptstädte zu bauen. Am besten wäre dies mit Hilfe sprachlich getrennter Hochschulen gelungen, da dies die wenigen Talente aus der Provinz angezogen hätte, die sich schließlich langfristig an den jeweiligen Hauptort binden und nicht etwa Kabul oder eine andere Regionalhauptstadt mit dem falschen ethnischen Profil. Kleinen Dörfern mit einer von der dominanten Ethnie abweichenden Identität wäre es erheblich einfacher gefallen, im Laufe der Zeit den Talenten aus der Familie nachzufolgen und sich im Gebiet der eigenen Ethnie niederzulassen. Es wäre gerechtfertigt gewesen, diesen Prozess finanziell zu fördern, so dass die Familien und Dörfer sich am neuen Ort ein gemeinsames Stück Land hätten kaufen können, um rasch neue Wurzeln schlagen zu können.

Mit diesem Ethnisierungsprozess hätte auch die Herausbildung staatlich anerkannter regionaler Milizen einhergehen müssen und zwar mit genau einer Miliz pro Region. Kabul, das in diesem Szenario zwar deutlich weniger Macht erhalten hätte, wäre dennoch kaum unter Druck geraten, da sich die streng nach Territorium getrennten Milizen keine Stammesfehden mehr hätten leisten müssen. Separatismus wäre frühestens langfristig ein Problem geworden. Aber auch hier hätte sich die NATO mit der Schweiz an einem existierenden Beispiel orientieren und den Kantonen Afghanistans eine weitgehende innere Autonomie einräumen können.

Die Existenz derartig heimatverbundenen Milizmacht würde die Abwehr gegen die Taliban heute wesentlich erleichtern, da die Milizen um ihre Heimat und ihre Rechte kämpfen würden und nicht Teil einer anonymen Söldnerarmee wären, deren Lohn kaum mehr wert ist als die nächste Kalaschnikow. Es gibt jedoch nichts, das in substanzieller Weise in diese Richtung umgesetzt wurde und so obliegt es heute wieder den örtlichen Warlords, die Taliban in Schach zu halten. Sollten sie den Islamistensturm tatsächlich überleben, wird es danach nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sie sich im zentralasiatischen Machtvakuum wieder gegenseitig an die Gurgel gehen.

4) Ein arbeitsteiliges Wirtschaftssystem

Die Gesamtwirtschaftsleistung Afghanistans liegt bei 19 Milliarden Dollar und soll laut optimistischen Prognosen in den kommenden Jahren weiter steigen. Das ist sehr unwahrscheinlich nach dem Abzug der NATO Truppen, da mit ihnen auch zahllose angeschlossene Dienstleistungstätigkeiten verschwinden werden. Alleine die USA haben für die Besatzung jährlich 10 Milliarden Dollar auf den Tisch gelegt. Hinzu kommen die Budgets von Großbritannien, Deutschland, Italien und weiteren Ländern, die dort eine große Zahl Truppen eingesetzt hatten, und deren Budgets sich in der Summe vermutlich noch einmal auf den selben Betrag belaufen hatten.

Überdies kommen die Entwicklungshilfeaktivitäten hinzu, die nur durch den massiven militärischen Schutz betrieben werden konnten und inzwischen wohl wieder abgebaut sind. Alles in allem haben die Besatzungsländer in Afghanistan zusammen im Jahr an die 30 Milliarden Dollar ausgegeben, entsprechend 150% des afghanischen BIP. Vielleicht war es auch mehr. Selbst wenn das meiste Geld in den Kasernen blieb oder ohne Umweg über das Finanzministerium in Kabul direkt an ausländische Unternehmen floss, lässt sich annehmen, dass 5-10% dieser Summe dennoch ihren Weg in die afghanische Wirtschaft fand. Der abrupte Entzug dieses Geldes wird die afghanische Wirtschaft noch einmal fundamental ruinieren, da sich jenseits der direkten Kriegsdienstleistungen kaum etwas an der afghanischen Wirtschaft entwickeln konnte.

Bei den üblichen Stellen bemerkt leider kaum jemand dieses epochale Versagen. Der wirtschaftlicher Sachverstand, der einen dazu befähigen könnte, diesen geradezu irrwitzigen Missstand zu bemerken, wurde dort leider schon vor langer Zeit getilgt. Generell fehlt es der Entwicklungshilfe an Experten für Rohstoffe, Handel, Bankdienstleistungen, Infrastruktur oder Energie als dem, was eine Wirtschaft zum laufen bringt. Für Genderseminare als einem Hauptdienstleistung der Entwicklungshilfe gilt das eher nicht, um es freundlich auszudrücken, wobei das letztlich auch für Mädchenschulen gilt, da deren Bildung in einer Gesellschaft wie der afghanischen nach einem Jahrzehnt bestenfalls zu einer besseren Haushaltsbuchführung führt (und Streit mit der Schwiegermutter).

Die von Inkompetenz und irrationalem, ideologischem Aktivismus geprägte Naivität ist so groß, dass sie sogar das absolut grundlegende vernachlässigt haben, was es benötigt, um ein Land aus seinen Lumpen herauszuholen. Erkennen lässt sich diese Lücke an der Liste mit Afghanistans Kraftwerken, von denen sich die Hälfte noch „in Planung“ oder im Bau befinden. Man beachte auch die Kapazitäten bei den Windgeneratoren, einem weiteren Steckenpferd der Entwicklungshilfe, die noch in KW bemessen werden, so klein wie sie sind. Auf um die 640 MW installierte Leistung bin ich gekommen – für ganz Afghanistan – von denen ungefähr die Hälfte noch vor dem Einmarsch der Sowjets ans Netz gegangen sind, während ein weiteres Kraftwerk mit 40 MW während der sowjetischen Besatzung gebaut wurde. In der Zeit seit dem Einmarsch der NATO wiederum gingen gerade einmal drei weitere Kraftwerke in nennenswerter Größenordnug ans Netz.

Für ein Land, das beim Einmarsch vor 20 Jahren um die 20 Millionen Einwohner hatte und heute knapp 40 Millionen ist dieser Wert nicht nur blamabel, sondern zeugt von einem ultimativen Versagen durch die Besatzungsmächte. Polen mit einer vergleichbar großen Bevölkerung betreibt Kraftwerkskapazitäten in der Größenordnung von 33.000 MW.

Jeder weiß, wie stark die Wirtschaftsleistung von der zur Verfügung stehenden Energie abhängt. Das hätten auch die Besatzungsmächte und ihre Entwicklungshilfeapparate wissen müssen, über die man sich nebenbei wundern muss, woher insbesondere die energiehungrigen Amerikaner ihren Strom herbekamen. Mindestens in den zehn größten Städten des Landes hätte unmittelbar nach dem Einmarsch mit dem Bau großer Kraftwerke begonnen werden müssen. Dabei wäre es vor allem in Norden des Landes im Besatzungsgebiet der Bundeswehr einfach gewesen, da die zentralasiatischen Gasföderländer direkt nebenan liegen. Geld für den Kraftwerksbau wäre mit Blick auf die Besatzungskosten mehr als genug vorhanden gewesen.

Mit Hilfe mindestens einer großen Pipeline hätte Afghanistan nebenbei auch zum Transitland werden können, um das energiearme Pakistan mit Erdgas zu versorgen. Da es seit den 1990er Jahren konkrete Pläne für eine derartige Pipeline gibt, die Besatzungsmächte jedoch trotz der offenbaren Dringlichkeit nicht einmal in 20 Jahren deren Fertigstellung sicherstellen konnten, bleibt als Fazit kaum ein anderes Motiv übrig als kriminelle Unterlassung seitens der Verantwortlichen auf der Besatzerseite.

Vergleichbar vernachlässigt wie die Energieversorgung wurde auch der Aufbau eines brauchbaren Bankensystems, mit dessen Hilfe der Wirtschaftskreislauf in Gang gebracht hätte werden können. Mindestens ein Sparbuch inklusive Fremdwährungen hätte jedem Afghanen zur Verfügung gestellt werden müssen. Das hätte die Vermögensbildung deutlich begünstigt in einem Land, in dem in des Portfolio eine Ziege gehört, die nach wenigen Jahren schon abgeschrieben werden muss. Nebenbei wäre auch das statistisch erfasste BIP gestiegen, da kaum anzunehmen ist, dass Afghanen tatsächlich mit unter 5 KKP-Dollar pro Tag zurechtkommen müssen. Wahrscheinlicher sind umfassende Schwarzmärkte ohne Kontakt zu Stellen für eine statistische Messbarkeit.

Doch das interessierte die Besatzungsmächte allesnicht. In wirtschaftlicher Hinsicht haben sie umfassend versagt. Sie haben den Menschen keinen Strom gebracht, mit dem einmaschinengetriebenes Kleingewerbe hätte entstehen können. Sie haben den Menschen keine Bankdienstleistungen gebracht, was sie weiter in der Armut hielt und gleichzeitig haben sie der Fremdfinanzierung für Betriebsmittel einen Riegel vorgeschoben. Von den 1.000 Euro pro Frau und Spirale ganz zu schweigen, mit denen sie nach dem ersten Kind ihr Geschäft hätten eröffnen können.

Schließlich ist auch immer nur über die sagenhaften Rohstoffvorkommen Afghanistans berichtet worden, nie aber über den Beginn ihrer Exploration. Mehr als ein Faseln von wegen „nachhaltiger Rohstoffförderung“ brachte die GIZ in ihren 20 Jahren Geld verbrennen nicht zustande. Vermutlich störten sie sich auch einfach nur an der Vorstellung, dass der Catepillar nicht mit Wunschdenken befeuert wird, sondern mit bösem Diesel. Das Ergebnis dieser Vogel-Strauß-Attitüde erleben wir zur Stunde mit der Exploration des gesamten Landes durch die Taliban.

5) Das Schaffen von Festungen

Was mich an all den Geschichten von der Besatzung Afghanistans allerdings am meisten verwunderte, war die Unfähigkeit, die chronischen Probleme mit den Überfällen und vor allem den Selbstmordattentaten in den Griff zu bekommen. Anscheinend hatten vor allem die Franzosen Probleme damit, was 2012 zu deren frühzeitigen Abzug geführt hat, nachdem sie in ihren Kasernen zu viele Tote zu beklagen hatten. Solcherlei Probleme lassen sich relativ simpel vermeiden, indem man ganz einfach die Familien der Soldaten kennenlernt und sie in die Vergütungsstruktur des Soldaten mit einbezieht. Denn selbst wenn es sich bei diesem um einen Schläfer handeln sollte, steigen mit dem Wissen über die Nachteile für seine Familie die Skrupel, während mit der Zeit vielleicht sogar eine Loyalität zu den Besatzern entsteht.

Die Inkompetenz in diesem kleinen Detail ist für mich ein weiteres untrügliches Zeichen für die planetengroße Inkompetenz der militärischen und politischen Verantwortlichen für den Afghanistaneinsatz. Bei der Bundeswehr soll es anscheinend sogar so gewesen sein, dass die deutschen Besatzer den Einheimischen den Bau von Straßen versprachen, wenn diese sich wohlverhalten würden. Ganz so, als ob man jemand auf diese Weise von sich überzeugen kann, nachdem man krachend in das Land eingefallen ist. Es zeugt von einer Reinheit an dümmlicher Arroganz seitens der Führungsebene, die am Ende völlig zurecht zu dieser krachenden Niederlage führte.

Neben dem gegenseitigen Vorteilsfaktor als Basis zur Vertrauensbildung fehlte im größeren Bild auch die Schaffung einer rein physischen Sicherheitsinfrastruktur in dem Land. Afghanistan ist bergig, während die Täler als Pfade zwischen den Regionen dienen. An diesen Talausgängen und auch an der Grenze wäre es notwendig gewesen, in etwa 50 festungsartige Passagen zu bauen, an denen niemand vorbei kommt. Gleichzeitig hätten die Bergkämme mit einer physischen Überwachungsinfrastruktur ausgestattet werden müssen, so dass jeder afghanische Analphabet merkt, dass er gerade eine Grenze erreicht hat.

Idealerweise wären die abgelegenen Regionen fernab der Kontrolle gänzlich unpassierbar gemacht worden, so dass jeder Afghane dazu gezwungen gewesen wäre, sich bei Reisen durch das Land durch mindestens eines dieser Tore zu begeben. Dies hätte den Schmuggel von Sprengstoff und die Bewegungsfreiheit von Terroristen empfindlich eingeschränkt, während aus dem Iran und aus Pakistan kein Nachschub an Sprengstoffen und Trägern mehr hätte in das Land gebracht werden können.

Die Maßnahme wäre mit Sicherheit unangenehm gewesen und hätte der Besatzung gegenüber den Einheimischen eine intensive physische Relevanz gegeben, die im negativen Fall zu Protesten und einem Gefühl des Eingesperrtseins geführt hätte. Im positiven Fall dagegen wäre das allgemeine Sicherheitsgefühl auch bei den Einheimischen stark angestiegen. Bedenkt man die Armut Afghanistans mit einem Anteil an Landbevölkerung von über 80%, dann wäre davon sehr wahrscheinlich nur eine sehr kleine Minderheit der Menschen von den festen Kontrollpunkten betroffen gewesen. Diese Maßnahme hätte den Terroristen mit Sicherheit mehr weh getan als der normalen Bevölkerung. Aber man wollte lieber niemandem weh tun und dafür teure Bomben abwerfen, und jetzt schmerzt eben alles.

6) Ein langfristig angelegter Rückzugsplan

Das schwierigste aller Manöver ist bekanntlich der Rückzug. Im militärischen ist das ein Klassiker, der seinen Weg scheinbar noch nicht in die Politik gefunden hat. Trotz dieser Leckage auf der Brücke hätte die militärische Führung von Beginn an Abzugspläne entwickeln und diese für den Fall der Fälle aktuell halten müssen. Bei dieser Aufgabe handelt es sich spätestens seit Clausewitz um eine militärische Kernaufgabe, die in Anbetracht der Umstände des finalen Abzugs offenbar in einer inakzeptablen Weise vernachlässigt wurde. Vor allem die Führung des US-Militär in Afghanistan trägt hierbei eine Schuld, da deren Führungselite ganz offensichtlich rein gar nichts aus dem Abzug aus Vietnam gelernt hat.

Derartige Rückzugspläne hätten dazu auch Teilabzugspläne umfassen müssen, wenn beispielsweise eine Region so sehr unter Druck gerät, dass ein Rückzug in eine sicherere Position vorteilhaft wird. Mit der Existenz solcher Pläne und dem Aufbau entsprechender Kapazitäten vor Ort hätte die afghanische Regierung heute sehr wahrscheinlich eine bessere Chance, sich zumindest in einem Teil des Landes langfristig zu halten.

Der Blick auf die Karte zeigt dabei, dass sich insbesondere der Besatzungsbereich der Bundeswehr perfekt geeignet hätte für einen kontrollierten Rückzug vor einem übermächtigen Feind. Es kommt nicht von ungefähr, dass es auch eine „Nordallianz“ war, die vor dem Einmarsch der NATO den Taliban standhalten konnte, und die wohl auch in den kommenden Jahren als einzige in der Lage sein werden, ein Stück des Landes frei von der Eroberung durch die Islamisten zu halten.

Als bedeutender Standortvorteil des Nordens um die Region Kunduz kommt hinzu, dass Tadschikistan und Turkmenistan direkt nebenan liegen. Im Vergleich zu den Alternativen sind beide sehr ruhig und verfügen über relativ besonnene politische Führungseliten. Ein Freies Afghanistan mit der Hauptstadt Kunduz könnte dort durchaus auf Partner treffen, die an der Befriedung und Entwicklung des Rückzugsgebiets interessiert wären.

Nicht zuletzt hätten sämtliche Afghanen auf der Flucht ein nahegelegenes Ziel, das sie ansteuern könnten. Drittländer mit afghanischer Asylbevölkerung könnten bei der Fortifizierung der Region helfen und dafür die Asylanten dorthin zurückschaffen. Alleine der deutsche Teil des afghanischen Asylvolks hat einen Wert von mehreren hundert Millionen Euro pro Jahr. Dieses Geld fehlt heute in Afghanistan, was auch für die Jungmänner gilt, die ihre Frauen im Krieg zurückließen. Mit der erwartbar hohen Bevölkerungsdichte, die aus diesem Rückführungsprozess resultieren würde, wäre eine rapide Entwicklung des Freien Afghanistan fast unumgänglich.

Fazit: Multiples Versagen mit dringendem Verdacht auf Absicht

Schaut man sich die von den Besatzern in Afghanistan begangenen politischen und militärischen Dummheiten an, dann muss man sich fragen, ob es sich bei den Verantwortlichen allesamt um Dorfdeppen handelt und zwar jene der ganz besonders speziellen Sorte. Schaut man sich die von den Besatzern in Afghanistan ignorierten Enwicklungsmöglichkeiten an, dann muss man sich fragen, ob es sich bei den Verantwortlichen allesamt taubstummblinde Analphabeten handelt. Schaut man sich die von den Besatzern in Afghanistan sträflich missachteten Zwänge der afghanischen Umstände an, dann muss man sich fragen, ob es sich bei den Verantwortlichen allesamt um entflohene Psychiatrieinsassen handelt.

Man muss schon sehr gut sein im Falsch handeln, um so lange, so nachhaltig und mit so viel Geld und Macht falsch handeln zu können. In Anbetracht des epochalen Totalvesagens unserer Funktionselite, wie sie in Afghanistan zum Vorschein kam, fällt es mir sehr schwer, den politisch und militärisch Verantwortlichen etwas anderes vorzuwerfen, als die geplante Absicht, aus Afghanistan genau das zu machen, was es vor 20 Jahren, vor 30 Jahren und vor 40 Jahren schon war.

Das schlimme daran ist, dass es nicht nur die USA und deren politische und militärische Führung sind, die sich dort zum ultimativen Affen gemacht haben. Es geht um ganze Legionen hochbezahlter Funktionäre mit und ohne Uniform und das aus aller Welt. DerISAF-Einsatz war ein Großprojekt und es waren zahlreiche wohlhabende Länder dabei. Ganz vorne mit mindestens 1.000 gleichzeitig eingesetzten Soldaten beteiligt waren die USA, Großbritannien, Deutschland, Italien, Frankreich, Polen, Rumänien, die Türkei, Georgien, Australien und Spanien. Also das Who-is-Who der NATO plus ein einige weitere, die sich ein paar Punkte verdienen wollten.

Bei all diesen Ländern hat die gesamte militärische Führung versagt, deren Entwicklungshilfe hat versagt und deren Politik hat versagt. Rechnerisch wären das in etwa zehn Personen aus dem Generalstab und dazu das Verteidigungsministerium, das Außenministerium und die Geheimdienstpitzen – und zwar über den Verlauf von zwei vollen politischen Generationen. Das wären: 11 Länder x 10 Militärs x 3 Politiker x 2 Generationen = 660 hochbezahlte Leute mit mehr Macht als Verantwortung – und ja, ich weiß, diese Zahl ist sehr wahrscheinlich eine schamlose Untertreibung. Vermutlich waren es zehn Mal so viele.

Das allerschlimmste am Afghanistaneinsatz aber ist, dass die Sache jetzt nicht vorbei ist, wie es damals in Vietnam der Fall war, im Gegenteil. Die Migrationswaffe ist geladen und entsichert und es bleibt überdies auch abzuwarten, ob die Taliban wirklich gelernt haben aus den Problemen, die sich aus der Internationalisierung ihres Dschihad ergaben. Letztlich weiß niemand, oder ob sie nach einer Generation die interne Kontrolle verlieren und sich eine noch einmal erheblich aggressivere Variante ihrer kulturellen Krebsart sprengt. Das gute ist, dass wir mit Glück bis dahin so weit abgestürzt sein, dass der internationale Dschihadismus sein Interesse verliert und sich anderen Zielen zuwenden wird.

Quelle Titelbild

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