Prof. Dr. Michael Esfeld ist Wissenschaftsphilosoph und Dozent an der Universität Lausanne. Esfeld kritisierte im Dezember 2020 in einem offenen Brief die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, deren Mitglied er ist, nachdem diese eine Verschärfung des Lockdowns gefordert hatte. Er warf der Leopoldina politischen Missbrauch der Wissenschaft vor. «Darauf habe ich bis heute keine Antwort erhalten», sagt Esfeld.
Kürzlich erschien der Sammelband «Der Corona-Elefant», mit dem Fachleute aus verschiedenen Bereichen einen kritischen Beitrag zur Corona-Debatte leisten (wir berichteten). Professor Esfeld steuerte einen Text mit dem Titel «Die real existierende Postmoderne» bei.
Esfeld warnt vor den Gefahren der gegenwärtigen Politik, die er als «postmodern» bezeichnet. Damit meint er eine Abkehr von Rechtsstaatlichkeit und das Regieren mittels willkürlich austauschbarer Begründungen, die durch angebliche Wissenschaftlichkeit legitimiert werden. Symptomatisch sei etwa gewesen, als der schweizerische Bundespräsident Ignazio Cassis die Coronakrise «auf Knopfdruck» beendet habe. Corona-Transition traf den Wissenschaftsphilosophen in Lausanne für ein Interview.
Corona-Transition: Herr Esfeld, wie haben Sie die vergangenen zwei Jahre erlebt?
Michael Esfeld: Es war ein Schock. Es hat gedauert, bis ich mich öffentlich dazu geäussert habe. Ich dachte nie, dass so etwas kommen kann. Auch in meinem Umfeld hätte niemand Abriegelungen wie in China für möglich gehalten. Wir dachten: In Europa kann man so etwas nicht tun, weil wir, im Gegensatz zu China, die Menschenrechte respektieren. Dann dachte ich, es ist eine Panikreaktion, und nach ein paar Wochen werden wir wieder zu Recht und Gesetz zurückkehren. Es gab in Westeuropa in den vergangenen 70 Jahren relativ gut funktionierende liberale Demokratien ohne übergriffige Regierungen und ohne Regulierungs- und Überwachungswut.
Wenn man auf die epidemiologischen Parameter schaut, war das Coronavirus nicht schlimmer als die Hongkong-Grippe 1968-70. Da wäre keiner auf die Idee gekommen, Lockdowns zu verhängen, die Wirtschaft lahmzulegen und die sozialen Kontakte zu überwachen. Damals hätte im Westen vor dem Hintergrund der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 jeder gesagt, wir haben einen freiheitlichen Rechtsstaat und keine sozialistische Diktatur.
Wie erleben Sie die jetzige Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit vom Corona-Thema zum Ukraine-Konflikt?
Das passt zur Diagnose der real existierenden Postmoderne [die Esfeld im oben genannten Artikel beschrieb]. Man braucht immer ein moralisch aufgeladenes Narrativ mit einer Angstkomponente, um die soziale Kontrolle aufrechtzuerhalten. Das Postmoderne daran ist, dass es kein grosses Narrativ mit Idealen wie dem Kommunismus mit der klassenlosen Gesellschaft oder dem Nationalsozialismus mit der reinrassigen Gesellschaft ist, die ein absolutes Gut setzen.
Jetzt wird irgendetwas zum Anlass genommen, das zwar wirklich da ist und zweifellos eine Herausforderung ist, dann aber mit einem Framing belegt wird, dem dann alle in die gleiche Richtung folgen müssen und keine Fragen gestellt werden dürfen. Das Gefährliche dabei ist nun, von einem «kleinen» Narrativ ins nächste zu springen. In einem Krieg lässt sich wieder sagen: Die einen sind die Guten und die anderen die Bösen.
Ohne nachzudenken, werden Prinzipien ohne Debatte aufgegeben und die Rollen sind rasch und klar verteilt. Auch die Klimageschichte liegt immer in der Schublade. Dann hat man immer weitere Themen, Cancel Culture oder Woke-Themen, die Rassismus oder Minderheiten betreffen.
Worin besteht diese Problematik des «postmodernen» Regierens?
Das Gefährliche an diesem Schema ist, dass man immer irgendetwas finden kann, ein partielles Übel, gegen das vorgegangen werden soll. Dieses Übel rückt man dann so in den Vordergrund, dass alle Kräfte auf es fokussiert werden, bis es sich abnützt. Mit diesem quasi permanenten Ausnahmezustand kann man den normalen rechtsstaatlichen Mechanismus und die Diskussion mit dem Austausch von Standpunkten aussetzen. Diese Ausnahmen könnten sich verfestigen und die politischen Massnahmen nicht zurückgefahren werden. Es fehlt eine kritische Diskussion darüber, um die Lehren zu ziehen.
Die liberale Demokratie beruht darauf, dass man die Grundrechte und den Rechtsstaat respektiert, aber den Menschen bezüglich Moral, Religion oder Ideologie keine gemeinsamen Vorstellungen aufzwingt. Die liberale Demokratie sollte sich nur um die Bedingungen kümmern, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
Wie sind wir in diesen Modus der Postmoderne geraten?
Es gibt zwei Tendenzen, die das ermöglicht haben könnten. Zum einen die zunehmende Anspruchshaltung, zum anderen der Wohlfahrtsstaat. Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte, nämlich Rechte der Abwehr gegen Eingriffe in die eigene Lebensgestaltung. Doch Ansprüche, zum Beispiel auf Gesundheitsversorgung, können so weit führen, dass Menschen glauben, einen Anspruch darauf zu haben, nicht angesteckt zu werden. Und weil unser Gesundheitssystem zu schwach sei, dessen Überlastung drohe, müsse man dann die Menschen zwingen, nicht krank zu werden. So eine Anspruchshaltung führt dazu, zu denken, dass ich nicht aufzupassen brauche und dass andere das für mich übernehmen müssen.
Dabei zeigen Daten, zum Beispiel aus den USA, eine Korrelation zwischen Ansteckung, Lebensweise und sozialer Stellung. Wenn man durch schlechte Ernährung sein Immunsystem ruiniert, kann man nicht andere dafür verantwortlich machen. Und soziale Missstände muss man anders angehen als durch die Coronapolitik, die ja gerade die sozial Schwachen am meisten belastet.
Die Anspruchshaltung hat auch mit der Geldpolitik zu tun, die durch die Aufhebung des Goldstandards – beginnend 1971 in den USA – möglich geworden ist. Man hat heute das Gefühl, dass man die Wirtschaft etwa durch Lockdowns lahmlegen und durch Geldschwemme am Laufen halten kann. Damit wird suggeriert, dass der Staat sich alles leisten kann und die Lebensaufgaben des Einzelnen abnehmen kann. Doch mit der Inflation, die jetzt kommt, wird langsam sichtbar, dass dieses System Grenzen hat. Die allgemeine Preisinflation ist allein durch das unbegrenzte Gelddrucken verursacht. Wiederum werden die sozial Schwachen durch die Inflation der Konsumentenpreise am meisten belastet.
Viele Menschen haben sich auch deshalb dem Narrativ gebeugt, weil wirtschaftliche Folgen durch staatliche Zahlungen gemildert wurden, sonstige Folgen offenbar noch zu wenig spürbar sind und Einschränkungen durch das Befolgen bestimmter Vorgaben, zum Beispiel das Impfen, umgangen werden konnten.
Wieso melden sich nicht mehr kritische Wissenschaftler zu Wort?
Bei vielen Wissenschaftlern gibt es eine Hemmschwelle, sich öffentlich zu äussern, weil sie das nicht primär antreibt. Davon gibt es nur wenige. Diese sind dabei oft, wie im Beispiel der Task Force, bestellt worden, um etwas Bestimmtes zu sagen. Dadurch, dass man sich gegen einen Trend äussert, setzt man sich wegen des moralischen Framings der Gefahr aus, sich Ärger einzuhandeln.
Wie war das bei Ihnen?
Im Dezember 2020 war ich der Meinung, dass sich die Leopoldina zunehmend politisch instrumentalisieren liess. Es war nicht meine Absicht, in die Öffentlichkeit zu gehen, sondern ich wollte Unterstützung von anderen Wissenschaftlern sammeln. Mein Brief an den Präsidenten blieb unbeantwortet. Eine Diskussion gibt es nur im Rahmen eines vorher festgelegten Meinungsspektrums.
Noch schlimmer als Wissenschaft auf Bestellung ist Ethik auf Bestellung: Ethiker, die moralische Anweisungen erteilen über Solidarität, oder man solle sich für andere impfen lassen. Diese Ethiker tun das auf Basis von Fake News und fernab ihrer Sachkenntnis, denn die Wirksamkeit der Impfung hat sich kaum bestätigt, vor allem was den Fremdschutz vor Übertragung des Virus angeht.
Was sagt das über den Zustand der Wissenschaften aus?
Besonders die Geistes- und Sozialwissenschaften stehen unter einem höheren Legitimationsdruck als die Naturwissenschaften, im Sinne von: was leisten die überhaupt für die Gesellschaft, nutzen die etwas? Jetzt war die Gelegenheit dazu da, dies zu beweisen. Ich vermute, dass viele aus diesem Druck heraus auf den Zug aufgesprungen sind. Dabei ist es ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass es das gleiche Schema ist wie bei den Ideologen im Kommunismus oder Faschismus.
Gewisse Machtansprüche hat es in den Wissenschaften immer gegeben. Also dass manche Wissenschaftler glauben, aufgrund ihres Wissens der Gesellschaft normative Vorgaben machen zu können. Bei der Schweinegrippe konnten solche Leute noch gestoppt werden. Und es fällt auf, dass Gesundheitspolitiker, die die damalige Situation erlebt haben, wie Wolfgang Wodarg, jetzt gemahnt haben. Auch Pierre-Yves Maillard, der damals in der Regierung der Waadt für Gesundheitspolitik zuständig war, hat sich in der Corona-Krise differenziert geäussert.
Die Universitäten als Institutionen der Wissenschaften betrieben in den vergangenen zwei Jahren an vorderster Front die Ausgrenzung, obwohl sie immer Inklusion und Diversität predigen. Wie geht das auf?
Daran sieht man, dass das nur eine oberflächliche Ideologie war. Für Unternehmen ist es ein Geschäftsslogan. Und für den Rest ist es ein Machtinstrument, weil man gewisse Leute ausgrenzen kann und bestimmen kann, was gesagt werden darf. Habermas würde es die Diskurshoheit nennen. Inklusion ist eine Ideologie, solange derjenige, der Inklusion fordert, selber bestimmt, wer aufgenommen wird und wer nicht. Diese Ideologie ist nun während der Coronapolitik in sich zusammengebrochen, weil klar diskriminiert wurde. Das hat offenbar niemanden gestört.
Und die Diversität der Standpunkte hat auch kaum jemanden interessiert. Bei der Leopoldina hat man mir geantwortet, die Arbeitsgruppe für die Corona-Stellungnahmen sei divers zusammengesetzt gewesen, nach Geschlechtern und Fächern. Das Problem war, dass nur Leute reingesetzt wurden, die alle dasselbe sagen. Wenn es alles nur weisse Männer gewesen wären, die sich über verschiedene Standpunkte mit Argumenten streiten, wäre es diverser gewesen.
Auf der politischen Ebene sah man ein ähnliches Phänomen im linken Spektrum …
Die Linke hat traditionell weniger Scheu vor Regulierung als Bürgerliche. Man meint, etwas dadurch gerechter zu machen. Bei einem Virus würde ich sagen, dass Menschen ihr Verhalten selbst anpassen und der jeweiligen Situation angemessen aufeinander Rücksicht nehmen. Ich glaube nicht, dass es eine höhere Instanz gibt, die eine bessere Moral vorschreiben kann. Diese Regulierungsidee kann blind machen für Konsequenzen. Zum Beispiel hat die global verursachte Armut im Zuge der Massnahmen mehr Tote gefordert als das Virus.
Bislang war die Pharmaindustrie für die Linke das Übelste. Plötzlich ist sie die Menschheitsretterin. Da braucht man nur die Staaten zu überzeugen, dass überall Gefahren drohen, damit grosse Geldmengen fliessen. Darauf kann der Einzelne nicht direkt Einfluss nehmen wie bei der Auswahl eines Autos.
Normalerweise müsste ein Aufschrei erfolgen, wenn eine Industrie einen Impfstoff entwickeln kann und die Regierungen eine garantierte Menge auch noch haftungsbefreit abnehmen. Die Gewinne fliessen in private Taschen und alle Risiken sind auf den Staat und damit auf den Steuerzahler abgewälzt. Es gleicht eher Staatskapitalismus, wo sich bestimmte Leute auf Kosten anderer bereichern können.
Zum Schluss: Wie kommen wir da wieder raus?
Man sollte sich auf Kant besinnen: über die Aufklärung. Wenn sich die Leute entmündigen lassen, kann man nichts machen. Das geht nur von unten, dass man aufwacht. Es braucht jedenfalls eine Reflexion über den Ausnahmezustand. Es kann nicht sein, dass eine Regierung einfach den Ausnahmezustand erklären kann. Das muss ganz eng definiert werden. Wenn der normale verfassungsmässige Betrieb abläuft, kann so etwas nicht einfach geschehen. Dann muss es Gesetze geben, ein Korrektiv, wenn die Regierung übergriffig wird.
Die staatliche Medienfinanzierung halte ich für falsch [Esfeld verweist auf den Fall Walder bei Ringier]. Auch die Wissenschaft muss von Einflussmöglichkeiten von Politik und Staat separiert werden. Die Verhinderung einer Monopolfinanzierung kann den Pluralismus in Medien und Wissenschaften sicherstellen.
Dann die Anspruchshaltung. Wenn ich einen Anspruch erhebe, muss dieser von jemandem finanziert werden. Darüber muss man sich im Klaren sein. Wenn man gegenüber der Gemeinschaft einen Anspruch geltend machen will, muss jemand dafür aufkommen. Man setzt also seine Interessen auf Kosten anderer durch.
Beim Virus war das so, dass Leute, die beanspruchen, dass sich der Virus nicht verbreitet, dafür waren, Kontakte zu reduzieren, womit anderen geschadet wurde, zum Beispiel den Kindern durch Schulschliessungen. Dasselbe gilt bei der Geldpolitik. Wenn etwas finanziell entschädigt werden soll, muss das jemand bezahlen. Wenn dafür Schulden aufgeladen werden, muss es in Zukunft jemand bezahlen.
Inwiefern wird Sie das Thema Corona noch begleiten?
Für mich als Wissenschaftsphilosoph ist klar, dass das nicht einfach so durchgehen darf, also dass die Wissenschaft der Gesellschaft Vorgaben macht und Politik sich nicht mehr durch den demokratischen Entscheidungsprozess legitimiert. Das ist totalitär, weil rechtsstaatliche Kontrolle fehlt. Die Vorstellung, dass Wissenschaft eine quasi religiöse Instanz ist, die moralisch-normative Vorgaben macht, muss wieder verschwinden.
*******
Weitere Artikel zu Michael Esfeld bei Corona-Transition:
- Hier eine Übersicht
- #wissenschaftstehtauf: Wissenschaftler fordern offene Debatte in der Corona-Politik
- Im Gespräch mit Investigativjournalist Dirk Pohlmann
- Im Gespräch mit Autor Gunnar Kaiser
- Das Paper «Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde» des Liberalen Instituts
- Online-Konferenz, Forum für eine offene Gesellschaft
Mehr zum Thema Corona von Michael Esfeld:
- SRF-Sendung «Echo der Zeit» vom 28. August 2021: «Das Covid-Zertifikat bedroht die offene Gesellschaft»
- Artikel «Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde» beim Club der klaren Worte
- 42. Sitzung im Corona Ausschuss
- NZZ: Corona, Lockdown, Vernunft und Politik: Was genau lehrt uns die Wissenschaft?
Buch-Hinweis:
Christoph Lütge, Michael Esfeld: Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen. Riva, München 2021. ISBN 978-3-7423-1909-8, 128 Seiten. 10,00 €.
Weitere Infos und Bestellung beim Verlag.