„Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf. (…) ist der gesamte Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären.“ Dieser Satz über die US-amerikanische Globaldominanz während der Hochphase der unipolaren Weltordnung, der „Pax Americana“, findet sich in dem Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“. Autor war der einflussreiche US-Sicherheitsberater sowie Außen- und Geopolitiker Z. Brzezinski. An dem Verständnis der US-Eliten von Europa und insbesondere Deutschland als „amerikanischer (tributpflichtiger) Vasall“ hat sich bis heute nichts geändert. Von Alexander Neu.
Das Elaborat Brzezinskis gilt in der Politikwissenschaft als ein wegweisendes Werk geopolitischer Schriften und knüpft in der Substanz an die Heartlandtheorie des britischen Geographen H. J. Mackinder an, wonach der eurasische Kontinent der Schlüssel zur Weltherrschaft bedeute. Für Z. Brzezinski ist „Eurasien (..) somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Herrschaft abspielen wird“. Meiner Wahrnehmung nach kennen zwar einige in der deutschen Öffentlichkeit den Begriff des „Eurasischen Schachbretts“, assoziieren vielleicht auch den Autor des Buches damit. Was aber die wenigsten wohl wissen, ist die doppelte Kaltschnäuzigkeit, mit der Z. Brzezinski einerseits Machtpolitik und US-Dominanz beschreibt. Und andererseits, welche Rolle er den Verbündeten der USA zugedenkt: „Vasallen und tributpflichtige Staaten“.
Die – sagen wir mal mindestens unhöfliche – Beschreibung der Verbündeten dürfte wohl einer der Gründe dafür gewesen sein, dass in der deutschen Debatte, sei es in den Medien, sei es in der Politik oder gar der Politikwissenschaft, das Werk gemessen an seiner realpolitischen Bedeutung nicht den diskursiven Stellenwert erhielt, den es hätte erhalten müssen. Das darf niemanden überraschen. Denn, welche politischen und medialen Eliten hören schon gerne, dass sie eigentlich nur „Vasallen und tributpflichtige Staaten“ seien. Und diesen niederen, ja quasi halbkolonialen, Status in den Beziehungen zu den USA müsste man der eigenen Öffentlichkeit auch noch irgendwie sinnbringend vermitteln, was allerdings mit dem in Europa viel beschworenen Narrativ der transatlantischen Wertegemeinschaft kontrastieren würde.
Im Kontext des Krieges Russlands gegen die Ukraine, der zugleich auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und wohl auch mindestens Chinas auf der einen und dem Globalen Westen auf der anderen Seite ist, ist in Deutschland zunehmend auch der Begriff „Vasallenverhältnis“ gegenüber den USA zu vernehmen. Nicht unbedingt in unseren Mainstreammedien. Auch nicht im politischen Berlin. Schaut man sich indessen die Äußerungen in der Öffentlichkeit an (beispielsweise in den Kommentarspalten der Medien und in den Sozialen Medien), so ist dieser Begriff im Umlauf.
Nicht zuletzt die gemeinsame Pressekonferenz des Bundeskanzlers O. Scholz und des US-Präsidenten J. Biden am 7. Februar 2022 war hier nicht wenigen ein Aha-Erlebnis. Um einer Ungenauigkeit zu entgehen, zitiere ich den Wortwechsel zwischen J. Biden und einem Journalisten (Quelle Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 7. Februar 2022 in Washington:
„Frage: Herr Präsident (…): Sie sind gegen Nord Stream 2. (…) Haben Sie die Zusicherung von Bundeskanzler Scholz bekommen, dass Deutschland dieses Projekt stoppen wird, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert? (…)
Biden: Wenn Russland (…) die Grenze zur Ukraine überquert, wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben.
Zusatzfrage: Aber wie genau machen Sie das? Das Projekt ist unter der Kontrolle Deutschlands?
Biden: Ich verspreche Ihnen: Das werden wir schaffen“.
Damit wurde das asymmetrische Partnerschaftsverhältnis vor der Weltöffentlichkeit mehr als deutlich. Nicht nur, dass die für alle sichtbare Sprach- und Reaktionslosigkeit von O. Scholz auf diese Dreistigkeit der Weltöffentlichkeit gezeigt hat, wer Koch und wer Kellner ist, sondern auch, mit welch öffentlicher Arroganz der Koch den Kellner brüskiert. Als sieben Monate später beide Nord-Stream-Pipelines gesprengt und somit ein Anschlag auf die deutsch-russische Energieinfrastruktur verübt wurde, erinnerten sich so manche Zeitgenossen an die Worte J. Bidens.
Ob man tatsächlich von einem Vasallenverhältnis sprechen kann, wie es Z. Brzezinski in seinem Werk ausführt oder J. Biden durch seine unverblümten Äußerungen es suggeriert, darüber mag ein Jeder sich selbst seine Gedanken machen. Und diese Gedanken scheinen nun auch überraschenderweise den European Council on Foreign Relations (ECFR) umzutreiben. In ihrem Policybrief von April 2023 widmet sich diese in Berlin ansässige Denkfabrik der Thematik mit dem Titel: „THE ART OF VASSALISATION: HOW RUSSIA’S WAR ON UKRAINE HAS TRANSFORMED TRANSATLANTIC RELATIONS“ (übersetzt: „Die Art der Vasallisierung: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die transatlantische Beziehung verwandelt“).
Die für den „Normalbürger“ scheinbar unwichtige Frage, in welchem Verhältnis sich Deutschland und Europa zu den USA befinden, solange es friedlich in Europa ist und der bescheidene Wohlstand nicht angetastet wird, dürfte zunehmend nun auch den Normalbürger interessieren, zumindest wäre es naheliegend. Denn die Friedensfrage kann ebenso negativ beantwortet werden, wie der damit verbundene „bescheidene“ Wohlstand künftig nicht mehr so gesichert sein dürfte. Es kommen schwere Zeiten auf den deutschen Michel und die Europäer zu. Schon jetzt fließen Milliarden und Abermilliarden der von den Menschen in Europa erarbeiteten Steuergelder als militärische Unterstützungsleistung in die Ukraine. Durchaus Gelder, die für das deutsche Gesundheitssystem, für den Klimaschutz, für die Unterstützung Alleinerziehender, für die Bildung, für den Wohnungsbau etc. auch hierzulande dringend gebraucht werden. Schon jetzt zahlen Wirtschaft und Gesellschaft die steigenden Kosten angesichts des gestoppten billigen Energieflusses aus Russland und es droht somit eine tendenzielle Deindustrialisierung Deutschlands.
Blick zurück
Bislang haben die Europäer den US-amerikanischen Führungsanspruch mehr oder minder begrüßt und akzeptiert – zumindest gab es keine überwältigenden gesellschaftlichen Gegenpositionierungen – vielleicht einmal von den Friedensprotesten im Kontext des NATO-Doppelbeschlusses Anfang der 1980er Jahre abgesehen. Stellte dieser US-Führungsanspruch in Westeuropa doch während der Ost-West-Konfrontation in den Augen vieler Westeuropäer eine Lebensversicherung gegen den Osten dar. Selbst nach Beendigung des Kalten Krieges gab es keinen wahrnehmbaren Widerstand gegen eine fortgesetzte US-Dominanz in außen- und sicherheitspolitischen Fragen hinsichtlich des europäischen Kontinents. Zweifel an der berechtigten Fortexistenz der US-geführten NATO nach dem Wegfall des Warschauer Paktes und dem Zerfall der UdSSR wurden von Politik und Medien mit der behaupteten Gefahr eines dann entstehenden Sicherheitsvakuums in Europa und damit einhergehend der Gefahr neuer Kriege im Falle eines US-Rückzugs vom europäischen Kontinent entgegnet. Und dieses Argument erhielt eine größere passive gesellschaftliche Akzeptanz als ein echter und operativ umsetzbarer außen- und sicherheitspolitischer Neustart im Sinne der im November 1990 verabschiedeten „Charta von Paris“. Diese forderte ein neues vielversprechendes und progressives Sicherheitsdenken nach der Beendigung des Kalten Krieges: Nicht mehr Sicherheit in Blockdenken, mithin gegen, sondern unteilbare Sicherheit für alle Staaten in der nördlichen Hemisphäre, was, und das liegt in der Logik dieses Denkens, auch ein Sicherheitsvakuum ausschließt.
Die Westeuropäer, gewohnt, vielleicht mit Ausnahme Frankreichs in der Tradition C. de Gaulles, geführt zu werden, statt den eigenen Kontinent selbst zu verantworten, und die Osteuropäer, nun froh, im Schoße Washingtons zu sitzen, verweigerten tatsächlich, Europa eine Souveränität zu verleihen, die es zu einem eigenen Kraft- und Gestaltungzentrum für die Weltpolitik erheben würde – ja nicht einmal willens, die Sicherheit des eigenen europäischen Kontinents selbst und auch anders zu gestalten. Den USA wurde weiterhin die außen-, sicherheits- und geopolitische Carte blanche überlassen. Dass der demonstrative Verzicht auf souveräne Politik der europäischen Entscheidungseliten in den USA auf ungeteilte Freude stieß und stößt, muss wohl nicht weiter erläutert werden.
Stattdessen erweiterten die USA ihr geostrategisches Machtvehikel NATO immer weiter gen Osten und entgegen dem Geist der „Charta von Paris“. Auch hier eine aufschlussreiche Textpassage Z. Brzezinskis aus dem oben angeführten Werk: „Vor allen Dingen aber ist Europa Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem europäischen Kontinent. (…) Beim derzeitigen Stand der amerikanisch-europäischen Beziehungen (…) erweitert sich mit jeder Ausdehnung des europäischen Geltungsbereichs automatisch auch die direkte Einflusssphäre der Vereinigten Staaten. Umgekehrt wäre ohne diese engen transatlantischen Bindungen Amerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin.“
„Charta von Paris“ versus NATO(-Osterweiterung)
Tatsächlich jedoch leidet die „Charta von Paris“ unter einem Widerspruch. Dieser ist auf den ersten Blick kaum erkennbar. Bei einem Verständnis sicherheitspolitischer Konzepte springt der Widerspruch indessen rasch ins Auge: So legt die Charta einerseits sehr dezidiert fest: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“ Diese Aussage fordert ein kollektives Sicherheitsverständnis im KSZE/OSZE-Raum. Zumindest aber fordert es, keinerlei unilaterale Maßnahmen zu ergreifen, die eine geteilte Sicherheit zugunsten der einen und zu Lasten der anderen Seite darstellen, und somit früher oder später in die Entstehung eines Kalten Krieges 2.0 münden — inklusive Rüstungswettlauf und Eskalationen, wie wir sie derzeit erleben. Die Passage und das Versprechen des Westens Moskau gegenüber, die Nato nicht zu erweitern, stand und steht in Übereinstimmung genau mit diesem Konzept der ungeteilten, gemeinsamen Sicherheit.
Demgegenüber findet sich auch folgende geschickt formulierte Passage, die das ganze Konstrukt konterkariert, in der „Charta von Paris“: „In diesem Zusammenhang bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen.“ Also, die freie sicherheitspolitische Bündniswahl. Beide Ziele sind in der Praxis nicht harmonisierbar, da entweder gemeinsame Sicherheit (institutionalisiertes Sicherheitskollektiv oder zumindest entsprechendes Verhalten) oder geteilte Sicherheit (mitunter Verteidigungsbündnis) als Konzept nur umsetzbar ist.
Da die „Charta von Paris“ allein bei der Nennung beider Konzepte wesentlich häufiger und auch dem Geiste des Dokuments als Folge der Zäsur 1989/91 die gemeinsame ungeteilte Sicherheit benennt, hat dieser Ansatz definitiv Vorrang – sollte man denken. Protagonisten einer unbeirrten NATO-Osterweiterung verweisen jedoch ausschließlich auf die freie Bündniswahl und unterschlagen auf diese Weise das eigentliche Ziel der „Charta von Paris“, nämlich der Schaffung eines ungeteilten gemeinsamen europäischen Sicherheitsraums.
Mit der Erweiterung der NATO bis in den post-sowjetischen Raum hinein wurde dieses Sicherheitsverständnis der unteilbaren Sicherheit immer mehr zu einer Makulatur für Sonntagsreden. Mehr noch: Sie erzeugten wachsende Spannungen mit der Russischen Föderation. Diese fühlt sich nach eigenem Bekunden nicht nur mit Blick auf das Versprechen der Nichterweiterung der NATO und der Nichteinlösung der „Charta von Paris“ getäuscht. Russland fühlt sich nach eigenen Aussagen darüber hinaus angesichts der Verlagerung, insbesondere US-amerikanischer, militärischer Infrastruktur und Truppen bis an seine Grenzen durch die NATO bedroht. Dieses russische Bedrohungsgefühl mag man als Hirngespinst abtun. Man mag es im NATO-Hauptquartier als unbegründet bezeichnen und als lächerlich zurückweisen. Entscheidend ist aber, wie Russland die NATO-Ostexpansion für seine Sicherheit bewertet, und nicht, wie die NATO sich dazu positioniert.
Und das Ergebnis der russischen Bewertung der NATO-Osterweiterung ist seit dem 24. Februar 2022 für jeden sichtbar. Spätestens seit dem Tag des Angriffs hätte eine Debatte über Sinn und Unsinn der NATO-Politik der „offenen Tür“ stattfinden müssen. Die Leitfrage hätte sein müssen: Schafft die Osterweiterung Sicherheit und Stabilität in Europa oder gefährdet sie diese nicht vielmehr? Der offene völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen den NATO-Aspiranten Ukraine dürfte als Hinweis genügen: Das Konzept der fortgesetzten Ausdehnung des NATO-Blocks und damit das Festhalten an dem sicherheitspolitischen Konzept der geteilten Sicherheit, statt der ungeteilten Sicherheit, wie auch in der Phase der Ost-West-Konfrontation, schafft nicht mehr Sicherheit, sondern Misstrauen, Ängste und letztlich Spannungen, also Unsicherheit: Wer nicht drin ist (NATO), der ist draußen. Und wer draußen ist, gegen den richtet sich ein Verteidigungsbündnis potenziell. Denn Verteidigungsbündnisse machen nur Sinn, wenn es einen – potenziellen – Aggressor gibt, gegen den man sich verbündet, ansonsten wären sie sinnlos.
Nutznießer der NATO-Osterweiterung
Aber welchen Zweck erfüllt die NATO-Osterweiterung? Für wen bildet die Verlagerung der militärischen Infrastruktur bis an die Grenzen Russlands einen Vorteil? Für Europa ist eine neue Teilung des Kontinents 800 Kilometer weiter östlich (Entfernung ehemals innerdeutsche Grenze bis Brest/Weißrussland) sowie ein erneuter Rüstungswettlauf nicht von Vorteil – zumindest vermag ich ihn nicht zu erkennen.
Einen Vorteil bietet die Expansionspolitik eindeutig den USA. Und diese Feststellung ist kein „Antiamerikanismus“, siehe Z. Brzezinskis Elaborat (Stichwort: Europa als „Amerikas unverzichtbarer geopolitscher Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent“. Nicht minder deutlich auch G. Friedman, der in einem Vortrag auf einer Tagung des „Chicago Council on Global Affairs“ 2015 ganz offen vor einer Annäherung Deutschlands und Russlands als Gefahr für die US-Hegemonie in Europa warnt.
Der territoriale Expansionismus, sei es um das Staatsgebiet oder sei es, um die Einflusssphären zu erweitern, gehört zur DNA der USA. Entsprechende sicherheitspolitische Erklärungen gibt es zuhauf. Das alles wird in den USA viel offener und ehrlicher diskutiert als in Europa, wo man eher ein wenig verschämt zu Boden schaut und stattdessen von moralischen Verpflichtungen für die osteuropäischen Staaten in Form der alternativlosen Osterweiterung der NATO fabuliert.
Fakt ist, die USA verbuchen mit der Erweiterung des Militärbündnisses enorme geostrategische Raumgewinne in Osteuropa. Und natürlich wird in Einflusssphären gedacht, in Moskau wie auch in Washington und Peking, ja auch in EU-Brüssel, das gehört zur Wahrheit. Man nennt es – auch wenn es Politmoralisten nicht gefällt – schlichtweg Realpolitik. In Europa wird es nur euphemistisch mit Werten etikettiert, da es sich ansonsten so anachronistisch und amoralisch anhören würde in dem von angeblich machtpolitischem Denken völlig befreiten Europa.
Als weiterer Vorteil für die USA erweist sich die außerordentlich starke Loyalität der osteuropäischen Staaten. Eine Loyalität, die gegenüber den USA wesentlich ausgeprägter ist als gegenüber EU-Brüssel. Und das spezielle Verhältnis dieser Staaten wird auch von den USA gegen potenzielle „Alleingänge“ der EU-Führungsnationen Frankreich und Deutschland genutzt, sollten diese nicht auf Kurs sein. Man denke nur an die Einteilung Europas durch den damaligen US-Verteidigungsminister D. Rumsfeld. Dieser teilte Europa ein in „das neue Europa“, welches den US-Angriffskrieg auf den Irak unterstützte, und „das alte Europa“, zuvörderst Frankreich und Deutschland, welches sich dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Trio mit Russland widersetzte. Tatsächlich scheint das Machtzentrum Europas sich von Paris und Berlin nach Osteuropa mit Polen an der Spitze und unter US-amerikanischem Wohlwollen zu verlagern.
Europas Versagen
Die Verlockungen, die Trophäe des Sieges im Kalten Krieg über Moskau in eigene strategische Vorteile umzusetzen, dominierten insbesondere in den USA über einen Neuanfang europäischer Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne eines neuen sicherheitspolitischen Verständnisses. Das ist für die USA legitim, für Europa ist es hingegen sicherheitspolitisch schlichtweg fatal. Es lag und liegt einzig an den Europäern. Sie hätten das Stoppschild heben können und müssen mit Verweis auf die „Charta von Paris“, die auch von den USA unterzeichnet wurde. Jedoch taten die Europäer genau dies nicht.
Mir ist völlig unverständlich, dass die Europäer sich bis heute außerstande sehen oder sich sogar verweigern, die alleinige Verantwortung für den eigenen Kontinent zu übernehmen. Mehr noch, sie delegieren praktisch die Verantwortung nahezu gänzlich an die USA. Eine Macht, die viele tausende Kilometer getrennt durch den Atlantik von Europa entfernt ist und somit sicherheitspolitische Entscheidungen zu treffen vermag, die für die Europäer extrem nachteilig sein können, die USA aber nicht gefährden.
So beispielsweise der faktisch einseitige Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag 2019 mit anschließender Kündigung beider Vertragspartner. Nuklear bestückbare Mittelstreckenraketen würden in einem Krieg zwischen der NATO und Russland Europa zerstören, nicht jedoch die USA. Europäisches Einschreiten zur Rettung des INF-Vertrages? Fehlanzeige! Ich hatte als Obmann seinerzeit die Bundesregierung schriftlich befragt, warum diese 2019 nicht eingeschritten sei. Hintergrund: Moskau hatte angeboten, seine unter Verdacht stehenden Waffensysteme durch den Westen inspizieren zu lassen. Die USA lehnten dieses Angebot nicht nachvollziehbar ab.
Überraschenderweise lehnten auch die Europäer ab. Warum? Es geht doch um die europäische Sicherheit. Es hätte ja nur zwei Ergebnismöglichkeiten gegeben: Entweder die Waffensysteme verfügten über die im INF-Vertrag verbotene Reichweite oder eben nicht. Bei ersterem hätte ein Vertragsbruch festgestellt werden können. Und hätte Moskau eine vollumfängliche Inspektion vor Ort plötzlich doch nicht zugelassen, dann wäre die Frage ebenso geklärt, mithin der Austritt der USA aus dem INF-Vertrag wäre in beiden Fällen gerechtfertigt gewesen.
Das Nichthandeln der Bundesregierung wurde in dem Antwortschreiben seinerzeit mit einer bemerkenswerten Aussage begründet: Der INF-Vertrag sei ein bilateraler Vertrag zwischen den USA und Russland. Europa könne da nicht einwirken. Wie bitte? Es geht um europäische Sicherheit, und wir Europäer können da nicht einwirken?? Was für ein Armutszeugnis europäischer und deutscher Selbstbehauptung.
Und diese Verweigerungshaltung führt dazu, dass die USA auf dem europäischen Kontinent schalten und walten können, wie sie wollen – auch zum Nachteil Europas. Mehr noch: Nun sollen die Europäer für den jahrzehntelang gewährten US-Schutzschirm sich solidarisch verhalten, nämlich im Konflikt mit China. Diese Forderung hat in den Augen Washingtons eine gewisse Logik, nämlich dass Solidarität eben keine Einbahnstraße ist. Die Tatsache, dass das US-amerikanische Engagement in Europa während der Ost-West-Konfrontation kein reiner Akt gelebten christlichen Altruismus gewesen ist, ahnt der geneigte Leser.
Europa und Deutschland – US-Vasallen?
Während Z. Brzezinski in seinem Werk die europäischen Staaten als „amerikanische Vasallen und tributpflichtige Staaten“ bezeichnet, sieht der ECFR nur die Gefahr einer „Vasallisierung“ Europas. In der Zusammenfassung stellt der ECFR folgende fünf Aspekte fest:
- Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat gezeigt, dass die Europäer in Bezug auf ihre Sicherheit stark von den USA abhängig sind, trotz der Bemühungen der EU, „strategische Autonomie“ zu erreichen.
- Im letzten Jahrzehnt ist die EU wirtschaftlich, technologisch und militärisch relativ weniger stark geworden als Amerika.
- Die Europäer sind sich auch in entscheidenden strategischen Fragen immer noch nicht einig und blicken nach Führung in Washington.
- Im Kalten Krieg war Europa eine zentrale Front im Wettbewerb der Supermächte. Nun erwarten die USA, dass sich die EU und das Vereinigte Königreich ihrer China-Strategie anschließen und werden ihre Führungsposition nutzen, um dieses Ergebnis sicherzustellen.
- Es wäre für beide Seiten unklug, Europa zum amerikanischen Vasallen zu machen. Die Europäer können ein stärkerer und unabhängigerer Teil des Atlantischen Bündnisses werden, indem sie unabhängige Kapazitäten zur Unterstützung der Ukraine entwickeln und größere militärische Fähigkeiten erwerben.
Statt den (drohenden) Vasallenstatus dahingehend aufzulösen, ein emanzipiertes Europa mit eigenen, auch neu zu definierenden Interessen, eigenen Methoden der Interessenwahrnehmung und eigenem progressiven außen- und sicherheitspolitischem Denken vorzunehmen, fordert der ECFR lediglich eine militärische Aufrüstung Europas, um auf Augenhöhe mit den USA zu kooperieren. Wer also den großen Wurf europäischer Souveränitätsbestrebungen durch das ECFR-Paper erwartet hat, wird nicht nur enttäuscht, sondern geradezu ernüchtert von der Ideenlosigkeit der Autoren.
Es sind keinerlei Einsichten der ECFR-Autoren zu erkennen, das anachronistische sicherheitspolitische Konzept der geteilten Sicherheit als gescheitert zu bewerten. Im Gegenteil: Die Forderungen des ECFR besagen nichts anderes als ein Weiter so, nur mit mehr „militärischen Fähigkeiten“ Europas als Ausweis gewachsener Selbstständigkeit, mit denen man dann eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit den USA gestalten könne.
Titelbild: shutterstock / Alexandros Michailidis