Horst D. Deckert

Europa kann den Winter nicht überleben

Russland kann ein oder zwei Jahre überleben. Europa kann keinen Winter überleben. Die Erdgaskrise in Europa könnte nicht erst im Winter oder im Oktober beginnen, sondern schon im Juli oder August 2022.

von Stefan Frank

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90 / Die Grünen) hat am Wochenende die lange erwartete Energiewende verkündet: Deutschlands Kohlekraftwerke werden wieder Strom produzieren. In den letzten Tagen habe sich die Lage am Gasmarkt verschärft, erklärte der Minister:

„Noch können die ausfallenden Mengen ersetzt werden, noch läuft die Befüllung der Gasspeicher, wenn auch zu hohen Preisen. Die Versorgungssicherheit ist aktuell gewährleistet. Aber die Situation ist ernst. Wir stärken daher weiter die Vorsorge und ergreifen zusätzliche Maßnahmen für weniger Gasverbrauch. Das heißt: Der Gasverbrauch muss weiter sinken, dafür muss mehr Gas in die Speicher, sonst wird es im Winter wirklich eng.“

Um den Gasverbrauch zu senken, solle „weniger Gas zur Stromproduktion genutzt werden“. Sehr vernünftig. Dann werden also die Kernkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 länger laufen, um die Katastrophe abzuwenden? Vielleicht werden stillgelegte Reaktoren wieder in Betrieb genommen? Nein: „Stattdessen werden Kohlekraftwerke stärker zum Einsatz kommen müssen“. Der „Klimaschutz“ ist eben doch nicht so wichtig. Ein Déjà-vu-Erlebnis: Die gleiche Ankündigung hatte es schon vor fast vier Monaten gegeben. Spiegel online meldete am 28. Februar 2022:

„Inzwischen heißt es im [Bundeswirtschafts-] Ministerium auch, dass in den kommenden Monaten vor allem Kohlekraftwerke die Stromproduktion übernehmen sollen – und nicht Gaskraftwerke. Das Erdgas solle besser für das Auffüllen der Gasspeicher verwendet werden, die derzeit extrem niedrige Füllstände aufweisen.“

Offenbar musste die Idee im Wirtschaftsministerium wie ein Käse mehrere Monate reifen, ehe sie umgesetzt wurde.

Rekord bei der Erdgasverstromung

In der Zwischenzeit wurde tüchtig Erdgas verstromt, als gäbe es kein Morgen. Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, der die Website  Energy Charts betreibt, die der Öffentlichkeit interaktive Grafiken zu Stromproduktion und Börsenstrompreisen bietet, berichtete letzte Woche auf Twitter:

„Im Mai wurden mehr als 4 TWh Strom aus Erdgas erzeugt. Das ist ein neuer Rekord für einen Maimonat. Eigentlich sollte man bei der aktuellen Gasknappheit das Gegenteil erwarten.“

Eigentlich. Die deutschen Braunkohlekraftwerke, so Burger, „hätten im Mai mehr Strom liefern können, um teures Erdgas bei der Stromerzeugung einzusparen. Die Kraftwerksleistung in Betrieb war deutlich höher als die Erzeugung der Kraftwerke.“

Weiter schreibt er: „Im Mai 2020 haben Braunkohlekraftwerke auf die tageszeitlichen Schwankungen der Strompreise reagiert. Im Mai 2022 waren es die Gaskraftwerke.“

Mehr Kohlekraftwerke, sagt Robert Habeck, würden „für eine Übergangszeit“ benötigt. Übergang zu was? Und wie lange wird diese Übergangszeit dauern? Habeck suggeriert mit dem Begriff, dass es eine Sache von Monaten oder wenigen Jahren wäre, dass russisches Erdgas durch Gas, das in flüssiger Form (LNG) aus den USA und Katar kommt, ersetzt werden könne. Erstens aber wird LNG aufgrund des aufwendigen Prozesses (Verflüssigung, Transport per Schiff, Regasifizierung) immer teurer sein, als es das Pipelinegas früher war. Darum sollte es sich verbieten, es überhaupt zur Stromproduktion zu verwenden. Zweitens gibt es auf dem Weltmarkt gar keine derartig großen Kapazitäten, die auf Deutschland und die EU warten.

Wie prekär Europas Situation wirklich ist

Unter dem Titel: „Vor der kommenden Energiekrise gibt es kein Entkommen“ gab Anas Alhajji, Chefökonom des Beratungsunternehmens NGP Energy Capital Management, vor einigen Tagen ein sehr interessantes Interview im Podcast MacroVoices(ab Minute 15:20). Er machte deutlich, wie prekär Europas Situation wirklich ist. Die Konfrontation zwischen Europa und Russland, so Alhajji, sei so, wie wenn zwei Personen einander in die Finger bissen:

„Wer wird zuerst schreien? Derjenige, der zuerst schreit, verliert, obwohl beide vielleicht nur der Bruchteil einer Sekunde trennt. Beide werden also schreien, aber einer um den Bruchteil einer Sekunde vor dem anderen. Und Europa wird verlieren. Russland hat einen Haushaltsüberschuss. Russland hat einen Handelsüberschuss. Es hat massive Devisen- und Goldreserven. Russland kann ein oder zwei Jahre überleben. Europa kann keinen Winter überleben. Und das ist der Grund, warum es die Sanktionen hinauszögert – weil sie wissen, dass sie nicht überleben können.“

Er wies auf die allerjüngsten Kalamitäten hin: Am 9. Juni ereignete sich eine Explosion mit nachfolgendem Brand in einer Erdgasverflüssigungsanlage des amerikanischen Unternehmens Freeport, rund hundert Kilometer südlich von Houston. Das LNG-Terminal, auf das etwa 20 Prozent der amerikanischen LNG-Exporte entfallen, wird für viele Monate ausfallen.

Damit fallen LNG-Lieferungen weg, die niemand ersetzen kann. Einen Tag zuvor hatte Algerien – ein Verbündeter Putins – seinen Banken angeordnet, keine Geschäfte mehr mit spanischen Unternehmen zu machen und einen Stopp der Gaslieferungen angedroht. Auch das eine potenzielle Katastrophe für die EU.

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin bescheinigt Alhajji, anders als die Europäer einen Plan zu haben. Alhajji prognostiziert eine Erdgaskrise in Europa nicht erst im Winter oder im Oktober, sondern schon im Juli oder August 2022. Einige langfristige Lieferverträge endeten im nächsten Monat – dann werde Russland auch bei diesen Kunden auf Zahlung in Rubel pochen und könnte, wenn diese der Forderung nicht nachkämen, die Lieferung einstellen, wie schon gegenüber etlichen EU-Ländern wie Polen, Bulgarien, Finnland und den Niederlanden. „Ich glaube also, die Krise wird schon im Sommer kommen, gar nicht erst im Oktober.“

Hurrikansaison könnte Europas Pläne durchkreuzen

Weiteres Ungemach droht: Das gesamte LNG, das von den USA nach Europa exportiert wird, stammt aus dem Golf von Mexiko. Und die Hurrikansaison steht vor der Tür. Derzeit werden 14 bis 21 Tropenstürme „mit Namen“ vorhergesagt. Sechs bis zehn davon könnten laut der Vorhersage zu Hurrikanen werden (Windgeschwindigkeiten von 119 km/h und mehr). Drei bis sechs zu schweren Hurrikanen (178 km/h und mehr). „Wir wissen, dass selbst Hurrikane, die keine Zerstörung anrichten, Verzögerungen im Schiffsverkehr mit sich bringen“, so Alhajji:

„Europa könnte also in Schwierigkeiten kommen, obwohl die Erdgasspeicherstände gestiegen sind und derzeit ein komfortables Niveau erreicht haben. Das kann innerhalb von Tagen ausgelöscht werden, wenn keine zusätzlichen Lieferungen kommen.“

Die Suche nach weiteren LNG-Lieferanten ist nicht vielversprechend, zumal Europa auf dem LNG-Markt in Konkurrenz zu Asien steht. Katar, so Alhajji, habe „nichts zu liefern, allein deshalb, weil alles über Verträge verkauft ist“. Algerien habe nichts anzubieten, „und wenn es die Lieferungen nach Spanien einstellt, gibt es eine schwere Krise“. „Wo also wird das Gas herkommen?“, fragt er.

Die Vereinigten Staaten seien gegenwärtig nicht in der Lage, einen Ausfall der russischen Lieferungen zu kompensieren. Es werde eine große Lücke geben, Europa werde sich wieder an Russland wenden müssen – das den Europäern aber vielleicht gar kein Erdgas mehr verkaufen werde, ehe nicht alle Sanktionen aufgehoben sind. Den europäischen Regierungen werde nichts anderes übrig bleiben, als sich Moskau zu beugen. Anderenfalls, glaubt Alhajji, würden die Regierungen stürzen und neue gewählt werden. „Putin gewinnt in jedem Fall, egal, was die Presse sagt.“

Was die LNG-Exporte der USA betrifft, rechnet er damit, dass sie mittelfristig in Amerika auf Widerstand stoßen werden. Hintergrund: Um die Erdgaspreise in den USA niedrig zu halten, waren Ausfuhren bis 2014 verboten. Erst durch den Schiefergas-Boom (Fracking) hatten die Vereinigten Staaten so viel Erdgas übrig, dass Exporte nicht mehr auf politische Ablehnung stießen. Doch die LNG-Exporte haben zu einem starken Preisanstieg von Erdgas auf dem amerikanischen Inlandsmarkt geführt. Wie sehr der Export die Preise treibt, zeigte sich, als die Nachricht der Explosion in dem Freeport-LNG-Terminal die Erdgaspreise in den USA einbrechen ließ (während sie in Europa als Reaktion in die Höhe schossen), weil geringere Exporte eine höhere Menge für den amerikanischen Markt bedeuten. Alhajji glaubt:

„Wenn die Erdgaspreise in den USA auf 12 oder 14 Dollar [der bisherige Jahresrekord liegt bei 9,50 US-Dollar/mmBtu ; S.F.] steigen, wird es amerikanische Politiker geben, die, obwohl sie pro-Ukraine und für die Unterstützung der EU sind, sagen werden, die LNG-Verkäufe nach Europa müssen beschränkt werden.“

Bei Benzin und Diesel erwägt die US-Regierung tatsächlich schon jetzt Exportbeschränkungen. Von Moderator Erik Townsend gefragt, ob es für Europa einen Ausweg gebe, wenn es bereit sei, „Kompromisse bei den Klimazielen“ zu machen, antwortete Alhajji:

„Das ist der traurige Teil. Es gibt eine beschränkte Fähigkeit dazu. Einige Länder haben sogar noch Kraftwerke, die mit Öl betrieben werden können, andere haben noch Kernkraftwerke. Doch das Problem ist: Sie haben die meisten stillgelegt. Sie wieder in Betrieb zu nehmen, würde viel Zeit und massive Investitionen erfordern. Diese Option existiert also, aber in begrenztem Umfang.“

Die Europäer müssten „wirklich ihre Politik überdenken“. Anderenfalls werde es in Europa eine Krise geben. „Und Menschen werden sterben, entweder an der Hitze oder der Kälte.“

Der Bundeskanzler fragt in Kolumbien nach Kohle

In dieser Situation redet Habeck die Wichtigkeit der Kohlekraftwerke klein, indem er sagt, sie würden für eine „Übergangszeit“ betrieben werden. Wir wissen natürlich, warum er das tut. Er hält Kohlekraftwerke für Sünde und kann seinen Brüdern und Schwestern im Geiste nicht die Wahrheit zumuten: dass diese Sünde nun zur Normalität wird. Wer aber zwei und zwei zusammenzählen kann, weiß, dass es so sein muss: Deutschland konnte überhaupt nur dank des billigen russischen Erdgases auf Kernenergie und Kohle gleichzeitig verzichten (oder meinte, das zu können). Ohne das Erdgas muss man sich für eine der beiden anderen Optionen entscheiden, solange Außerirdische uns noch nicht die Batterietechnologie gebracht haben, mit der sich der von Windkraft- und Solaranlagen produzierte Strom speichern lässt, um Vorräte für Stunden, Tage, Wochen und Monate zu schaffen.

Es ist indessen ein schwerer strategischer Fehler der Regierung, öffentlich zu erklären, die Kohlekraftwerke würden nur für kurze Zeit, als „Notlösung“ eingeschaltet. Warum? Weil Menschen nötig sind, die sie betreiben und warten. Wenn man diesen sagt, dass ihre Arbeit nicht geschätzt und auch nur von kurzer Dauer ist, ehe man sie ab 2024 wieder als „Klimakiller“ diffamieren wird, haben sie dazu vielleicht gar keine Lust. Wir haben kürzlich über die Energiekrise in Australien berichtet. Dabei spielen auch marode Kohlekraftwerke eine Rolle, die nicht mehr ausreichend gewartet werden, weil sie ja angeblich nur auf Abruf in Betrieb sind. „Das Problem ist, dass, wenn Sie den Leuten, die Sie unterstützen, sagen, dass Sie ihre Dienste nicht mehr benötigen und nur noch fünf Jahre bleiben, sie anfangen werden, die Wartungsprogramme abzuwickeln, weil sie für zehn oder zwanzig Jahre geplant hatten“, sagte Paul Flynn, der Vorstandsvorsitzende von Australiens größtem Kohlekonzern Whitehaven Energy, letzte Woche auf  der Konferenz Australian Financial Review ESG Summit. „Sie sehen jetzt den Beweis dafür, dass die Unzuverlässigkeit [der Kraftwerke] zunimmt, aber das war durchaus zu erwarten.”

Der Krieg gegen die Kohle – samt der Weigerung zahlreicher Banken und Versicherungen, Unternehmen als Kunden zu akzeptieren, deren Geschäft die Kraftwerkskohle ist – hat zudem zu einer kartellähnlichen Situation geführt: Es gibt, verglichen mit früher, nur noch relativ wenige Kohleunternehmen, und kaum eines von ihnen denkt auch nur daran, seine Produktion substanziell zu erhöhen. Wenn die Konzerne nun Investitionen tätigen sollen, die sich erst im Lauf von vielen Jahren amortisieren werden, müsste man ihnen allen jetzt das politische Signal senden, dass die Kohle noch lange gebraucht werden wird und der Krieg gegen die Kohle beendet ist.

Die Bundesregierung setzt beim Kohlekauf stattdessen auf Telefondiplomatie. Wie zu lesen ist, hat Bundeskanzler Olaf Scholz den kolumbianischen Präsidenten Ivan Duque angerufen hat, um auf eine Expansion des Steinkohletagebaus El Cerréjon zu drängen. El Cerréjon, eine der größten Kohleminen der Welt, befindet sich im Alleinbesitz des Schweizer Unternehmens Glencore, seit Glencore letztes Jahr die Anteile der beiden Joint-Venture-Partner BHP und Anglo American für ein Butterbrot gekauft hat.

Ein deutscher Bundeskanzler telefoniert also mit dem Staats- und Regierungschef von Kolumbien und bittet um mehr Kohle. Wer denkt da nicht gleich an den Begriff „Bananenrepublik“? Was seine Berater Scholz vielleicht nicht gesagt haben: Präsident Duque ist nur noch bis zum 7. August im Amt. Am Sonntag wurde der frühere Linksterrorist Gustavo Petro zu seinem Nachfolger gewählt. Die schlechten Nachrichten – bzw. die guten für Putin – reißen wahrlich nicht ab.

Zumindest ihre jetzigen Entscheidungen und ihre Wortwahl hat die Bundesregierung hingegen in der Hand. Die notwendigen Investitionen in Kohleproduktion, Kraftwerke und Transportkapazitäten werden gehemmt oder verhindert, wenn alle glauben, dass sie sich nicht rentieren werden, weil Kohle ja angeblich keine Zukunft habe. Es gibt viele Faktoren, die die Bundesregierung nicht – oder heute nicht mehr – beeinflussen kann. Aber in Worten und Taten weiterhin gegen Kohle – und erst recht gegen die Kernenergie – vorzugehen, das ist ein Fehler, der Putin freut, uns aber teuer zu stehen kommen wird. Und dazu einer, der völlig vermeidbar wäre. Im Tennis gibt es dafür den Begriff unforced error.

Der Beitrag erschien zuerst bei ACHGUT hier

 

 

Ähnliche Nachrichten