Frankreich sollte sich den multipolaren Trend der für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit zu eigen machen, um seinen bestehenden Einfluss in Teilen Afro-Eurasiens aufrechtzuerhalten und ihn pragmatisch auf neue Regionen auszudehnen.
Frankreich möchte auch im 21. Jahrhundert eine einflussreiche Großmacht bleiben und ist dabei, eine Strategie zu entwickeln, um dieses Ziel in dieser Zeit in ganz Afro-Eurasien zu erreichen. Die indo-pazifische Strategie von Paris wurde von seinen Verbündeten in Canberra und Washington durch die überraschende AUKUS-Ankündigung mit London im letzten Monat unerwartet sabotiert. Frankreich hat nicht nur einen 90 Milliarden Dollar schweren U-Boot-Vertrag mit Australien verloren, sondern kann sich auch nicht mehr auf das Land von der Größe des Kontinents als seinen wichtigsten regionalen Partner verlassen. Als Reaktion darauf hat Frankreich versucht, seine Rolle in diesem geostrategischen Raum durch Indien zu ersetzen.
In westlicher Richtung ist die nächste Region, in der Frankreich einen entscheidenden Einfluss ausüben möchte, der östliche Mittelmeerraum. Griechenland spielt die Rolle, die Australien im indopazifischen Raum spielen sollte, die nun aber Indien übernehmen wird. Anstatt ein Gleichgewicht mit China anzustreben, konzentriert sich Frankreich auf ein Gleichgewicht mit der Türkei in diesem geostrategischen Raum. Es hofft, eine Koalition gleichgesinnter Staaten anführen zu können, von denen es dann im Gegenzug für seine militärische und strategische Zusammenarbeit bei der Eindämmung dieser gemeinsam wahrgenommenen Bedrohung Wirtschafts- und Investitionsprivilegien erhalten kann.
Afrika bildet die letzte Front in Frankreichs großer Strategie des 21. Jahrhunderts, und hier hat die westeuropäische Großmacht aus historischen Gründen den größten Vorteil. Obwohl Russland in der ehemals kolonisierten Region, die Frankreich als „Françafrique“ bezeichnet und als seine exklusive „Einflusssphäre“ betrachtet, beeindruckende Fortschritte gemacht hat, hofft Paris, sich auf seine jahrzehntelangen Verbündeten im Tschad verlassen zu können, um diesem Trend entgegenzuwirken. Wahrscheinlich sollte sich Frankreich mehr Sorgen um den türkischen Einfluss in „Françafrique“ machen als um den russischen, aber in jedem Fall hofft es, hier in den nächsten Jahren verlorenen strategischen Boden zurückzugewinnen.
Es gibt mehrere Gemeinsamkeiten zwischen der französischen Strategie im indopazifischen Raum, im östlichen Mittelmeerraum und in „Françafrique“. Erstens hat Frankreich in jedem dieser Räume einen historischen Einfluss. Zweitens gibt es eine aufstrebende Macht, die es eindämmen will. Und drittens hofft Frankreich, sich auf gleichgesinnte Länder in der Region stützen zu können, um das oben genannte Ziel zu erreichen. Allerdings gibt es auch einige Herausforderungen. Erstens ist Frankreichs historischer Einfluss in diesen Regionen geschwunden. Zweitens will nicht jedes Land der Region die aufstrebende Macht, die Frankreich als Bedrohung ansieht, eindämmen. Und drittens sind die Partner nicht bereit, ihre eigenen Interessen für dieses Ziel zu opfern.
In der Praxis bedeutet dies, dass Frankreich sich nicht vollständig auf Indien, Griechenland und den Tschad verlassen kann, wenn es darum geht, China, die Türkei und Russland/Türkei im indopazifischen Raum, im östlichen Mittelmeerraum bzw. in „Françafrique“ einzudämmen. Paris kann jeden von ihnen aufrüsten und mit bestimmten wirtschaftlichen Anreizen dazu bewegen, in dieser Hinsicht eine größere Rolle zu spielen, aber es muss sich eingestehen, dass seine ausgleichenden Fähigkeiten im Vergleich zu denen Chinas, Russlands und der Türkei vergleichsweise weniger einflussreich sind. Frankreich ist eine Militärmacht mit einer beeindruckenden Wirtschaft, Soft-Power-Appeal und historischem Einfluss in ganz Afro-Eurasien, aber seine diplomatischen Ausgleichsfähigkeiten stehen dem nicht nach.
Das ist das Hauptproblem für Paris, da es keine Erfahrung mit einer solchen Ausgleichspolitik hat. Das einzige, was es kann, ist hegemonialen Einfluss über Juniorpartner und vergleichsweise unbedeutende Stellvertreter auszuüben. Es hat die Erosion seines Einflusses in jedem der drei genannten Räume bereits akzeptiert und versucht erst jetzt mit Verspätung, ihn aufgrund der Dynamik des Neuen Kalten Krieges zurückzugewinnen. Frankreichs imperialistische Hybris machte die Strategen des Landes blind für ihre eigenen Unzulänglichkeiten, die für diese früheren Rückschläge verantwortlich waren. Ohne aus diesen Lektionen zu lernen, wird ihre geplante große Strategie niemals ihr volles Potenzial entfalten können.
Die erste Lektion besteht darin, dass Frankreichs Vorherrschaft über seine kleineren regionalen Partner dazu führte, dass diese den von Paris als Rivalen wahrgenommenen Staaten die Hand reichten, um Druck abzubauen und letztlich ihre strategische Autonomie zu stärken. Dass diese Länder in den letzten Jahren in diesen Regionen vorgedrungen sind, ist nicht auf eine „Hinterhältigkeit“ Chinas, der Türkei oder Russlands/Türke zurückzuführen, da Frankreichs Partner dort (sowohl frühere als auch heutige) freiwillig mit ihnen zusammenarbeiten. Frankreich sollte die souveränen Interessen seiner kleineren regionalen Partner respektieren, um sie nicht ungewollt dazu zu zwingen, ein aktives Gegengewicht zu ihm zu bilden.
Die zweite Lektion hängt eng mit der ersten zusammen und ist in „Françafrique“ am ehesten anwendbar. Sie lautet, dass Frankreich nach wie vor an seine selbstauferlegte „kulturelle Überlegenheit“ als Soft-Power-Basis für die Aufrechterhaltung seines Einflusses glaubt. Viele Afrikaner sprechen Französisch aufgrund des Erbes des Kolonialismus und nicht, weil sie sich zu dieser Sprache besonders hingezogen fühlen. Sie wandern auch aus wirtschaftlichen Gründen nach Frankreich ein, nicht weil sie die französische Kultur mehr mögen als ihre eigene. Frankreichs Glaube an seine „kulturelle Überlegenheit“ ist inoffiziell ein wichtiger Teil der Identität des Landes, aber er wirkt arrogant, herablassend und sogar rassistisch. Das führt dazu, dass es viele Herzen und Köpfe verliert.
Als nächstes muss Frankreich alle seine Partner mit gleichem Respekt behandeln, was nur möglich ist, wenn es die ersten beiden Lektionen gelernt hat. Dazu gehören auch vergleichsweise große Länder wie Indien. Auch wenn einige ihrer Führungen aus eigennützigen persönlichen Motiven heraus mit Paris gegen Drittländer zusammenarbeiten, sollte diese westeuropäische Großmacht nicht aus den Augen verlieren, dass es in ihren ständigen militärischen, geheimdienstlichen und diplomatischen Bürokratien („deep state“) vermutlich noch einige patriotische Mitglieder gibt. Diese Kräfte könnten sich dagegen wehren, dass ihre Führungen möglicherweise die nationale Sicherheit gefährden, indem sie auf Geheiß Frankreichs andere militärisch provozieren.
Auf der Grundlage dieser Lektion sollte Frankreich seine Partnerschaft mit keinem Land als selbstverständlich ansehen. Patriotische Mitglieder ihres „tiefen Staates“ könnten versuchen, die rücksichtslose Gefährdung der nationalen Sicherheit durch ihre Führung zu stoppen, auch durch Putsche. Es besteht auch die Möglichkeit, dass dieselben Kräfte patriotisch motivierte Unruhen in der Farbenrevolution gegen die von Frankreich unterstützten Marionettenführer provozieren könnten. Frankreich sollte auch die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass seine nominellen amerikanischen und britischen Verbündeten noch mehr seiner Partner „abwerben“, unter anderem durch Bestechung eben jener korrupten Führer, die Paris persönlich verpflichtet sind.
Eine weitere Lektion ist, dass Frankreich sich nicht länger der Illusion hingeben darf, dass es exklusive „Einflusssphären“ gibt, insbesondere nicht in „Françafrique“. Es ist unvermeidlich, dass Paris den Einfluss anderer Länder in den Bereichen akzeptieren muss, die es bisher als ausschließlich unter seinem eigenen Einfluss stehend betrachtet hat. Dazu gehören sowohl „Verbündete“ wie die USA als auch vermeintliche Rivalen wie China, Russland und die Türkei. Frankreich sollte dann pragmatisch in Erwägung ziehen, einen Teil seines früheren Einflusses auf überschaubare Weise abzugeben, um effektivere Partnerschaften mit seinen Verbündeten zu bilden und kreative Wege der Annäherung an vermeintliche Rivalen zu erkunden.
Dies bringt die Analyse zur letzten Lektion, nämlich dass ein Nullsummenwettbewerb kontraproduktiv und überholt ist. Frankreich sollte sich den multipolaren Trend der für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit zu eigen machen, um seinen bestehenden Einfluss in Teilen Afro-Eurasiens aufrechtzuerhalten und ihn pragmatisch auf neue Regionen auszuweiten. Ein Festhalten an seiner derzeit sehr wettbewerbsorientierten Sichtweise auf alles wird nur dazu führen, dass man die oben erwähnten Lektionen nicht lernt und somit dieselben Fehler wiederholt, die dafür verantwortlich sind, dass Frankreich seinen Einfluss in diesen geostrategischen Räumen überhaupt erst verloren hat.